Markus Bickel leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv und war lange Jahre Auslandskorrespondent in Kairo und Beirut. Mit ihm sprach Philip Malzahn von der Tageszeitung «neues deutschland». Das Interview ist dort am 17. Dezember 2020 erschienen.
Philip Malzahn: Vor zehn Jahren überrollte eine Protestwelle von beispiellosem Ausmaß die arabischsprachige Welt. Ob im kleinen Inselstaat Bahrain, im bitterarmen Jemen oder dem bevölkerungsreichsten Land Ägypten, Millionen Menschen gingen auf die Straße, um ihre Unzufriedenheit mit den eigenen Regierungen zu demonstrieren. Ein zentrales Thema waren dabei die Menschenrechte. Wie ist die Menschenrechtslage in der arabischsprachigen Welt zehn Jahre danach? Lässt sich überhaupt ein allgemeiner Trend beobachten?
Markus Bickel: Auch wenn es Ausnahmen gibt – wie vielleicht in Tunesien –, herrschen in der Region, was Menschenrechte anbelangt, frostige Zeiten – vor allem in Ägypten, Syrien, Libyen, aber auch etwa im Libanon oder dem Irak. Dort ist die Menschenrechtslage in vielen Aspekten noch schlimmer als vor zehn Jahren. Das «noch» ist dabei wichtig, denn unter Muammar Al-Ghaddafi in Libyen oder Hosni Mubarak in Ägypten war die Situation alles andere als gut.
Was sind Gründe der Verschlechterung?
Wenn man beim Beispiel Ägypten bleibt: Das hat auch mit der regionalen Machtkonstellation zu tun. Der Militärrat, der nach dem Sturz Hosni Mubaraks die Macht übernommen hatte, hat ja 2012 die ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes sogar zugelassen. Als dann die Muslimbruderschaft mit dem Kandidaten Mohammed Mursi als Sieger aus diesen Wahlen hervorging, bekamen es die Generäle mit dem Schrecken zu tun. Daraufhin hat man sich im Hintergrund mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten abgesprochen – den beiden konterrevolutionärsten und repressivsten Nationen der Region, die aber in der Muslimbruderschaft eine Bedrohung sehen. Das hängt wiederum zusammen mit dem lokalen Machtkampf gegen das Emirat Katar, welches die Muslimbrüder unterstützt. Die Lehre, die der General Abdel Fattah Al-Sisi dann aus diesem Sieg und seiner Machtübernahme gezogen hat, ist: Ich nehme mir ein Beispiel an Syrien und dem Vorgehen des dortigen Präsidenten Baschar Al-Assad und lasse keinen Millimeter Protest mehr zu. Für Al-Sisi sind die Hunderttausenden Toten in Syrien kein Negativbeispiel, sondern der Beweis, dass man nur mit harter Hand ein Land regieren kann. Deshalb gibt es nun, anders als unter Mubarak, nicht einmal mehr Vertreter der Muslimbrüder im Parlament.
Welche Rolle spielen Europa und die USA? Denn während man Assad als Diktator bezeichnet, kann Al-Sisi in Ägypten tun und lassen, was er will, und bleibt dabei aus westlicher Sicht der legitime Präsident.
Ich selbst habe im Frühjahr 2011 den damaligen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion und Oppositionsführer Frank-Walter Steinmeier interviewt. Er meinte damals, man könne doch nicht jetzt auf einmal alles infrage stellen, was jahrelang galt – und meinte damit die Unterstützung von Politikern wie Mubarak und Assad. Für genau diese Position stand dann Steinmeier später auch als Außenminister.
Deshalb hat er beispielsweise die vielen Rüstungsexporte an Ägypten nie hinterfragt. Das hat übrigens auch Sigmar Gabriel nie. Sie haben immer gesagt: Wir brauchen Politiker wie Al-Sisi im Kampf gegen den Terrorismus. Und genau da liegt die Verantwortung des Westens, dass ihm ein vermeintlich harter Kämpfer gegen Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat lieber ist als eine fragile Freiheitsbewegung, die deshalb nie den nötigen Rückhalt erhalten hat.
Ist die Bezeichnung «Arabischer Frühling» dann überhaupt gerechtfertigt?
Ich persönlich habe den Begriff «Arabischer Frühling» nie verwendet, weil er einen natürlichen Ablauf impliziert: Nach dem Frühling folgt ein noch schönerer Sommer, bevor dann ein goldener Herbst den Winter einleitet. Ich spreche lieber von den «Arabischen Aufständen» oder den «Arabischen Revolutionen». Allerdings meine ich mit Revolution nicht etwas, das schon erfolgreich abgeschlossen ist, sondern einen Prozess, der mit Erfolgen beginnt, dann Rückschläge einstecken muss, und dann aber vielleicht in zehn oder 20 Jahren wieder Früchte trägt. Ich denke, man muss die Ereignisse von damals aus einer größeren Perspektive betrachten.
Was sieht man, wenn man das tut?
Vor zehn Jahren hat es in der arabischsprachigen Welt ein Erwachen gegeben. Vor allem von jungen Menschen, aber auch beispielsweise von der ägyptischen Bevölkerung, welche die Erfahrung gemacht hat, dass ihr bislang unantastbarer Staatspräsident Hosni Mubarak tatsächlich gestürzt werden kann. Und nicht nur das, sondern dass zwei Jahre später der neue Präsident Mohammed Mursi auch gestürzt werden konnte – wie auch immer man zu den Umständen steht, in denen 2013 das Militär unter General Abdel Fattah Al-Sisi den gewählten Muslimbruder Mohammed Mursi entmachtete. Diese kollektiven Erfahrungen haben auch zehn Jahre später viele Menschen – ob jung oder alt – nicht vergessen. Es ist die Erfahrung, dass man Regierungen stürzen und von unten Bewegung in die Gesellschaft bringen kann, die bis heute überdauert hat.
Man kann darin auch einen Zusammenhang zu den Ereignissen der vergangenen beiden Jahre sehen. Beispielsweise in Algerien …
... oder auch im Sudan, Libanon oder Irak. Zehn Jahre nach den Arabischen Aufständen gibt es über die gesamte Region verteilt wieder Massenproteste, die die Menschen selbst als Revolution bezeichnen. Dass Millionen wieder gegen ihre Regime und für ihre Rechte auf die Straße gehen zeigt, dass dieser Prozess noch lange nicht zu Ende ist, so schlimm die Zeiten auch sein mögen.