«Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach» (Oscar Wilde)
Das Wahlgeschehen 2020 hat einen tiefen Eindruck in der Gesellschaft Tansanias hinterlassen. Massive Einschüchterung durch wenige, aber gezielte Gewalthandlungen des Staates, Unterbindung von Information und Diskussion mittels Einschränkung des Internetzugangs führte zu Isolation, Verwirrung, Frustration, Verwundung und Verärgerung. Parteianschluss, so parlamentarischer Oppositionskandidat Vitali Maembe, entschied über Familienzugehörigkeit wie Freundschaft: «Was ich während des Wahlkampfes erlebt habe ist Diskriminierung – die Erfahrung, von Freunden und Verwandten ausgeschlossen zu werden, wenn ich nicht deren Parteizugehörigkeit teile. Indem sie der Partei den Vorzug gaben, haben die Menschen ihre Menschlichkeit und den Staat vergessen.»[1]
Dorothee Braun ist Büroleiterin des Ostafrika-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dar es Salaam, Tansania.
Oppositionsparteien, diplomatische Vertretungen westlicher Länder, Menschenrechtsorganisationen, Verteidiger der Demokratie, wie auch internationale Medien kritisierten schwerwiegende Unregelmäßigkeiten, Wahlbetrug, weitverbreitete Einschüchterung, Schikane und Tötungen. Die Vorzeichen sind deutlich: Mit einem Ergebnis von 84,4 Prozent der Wählerstimmen für das Amt des Präsidenten und 261 Parlamentssitzen von insgesamt 264 «steuert Präsident Magufuli Tansania in Richtung eines autoritären Einparteien-Staates.»[2] Berücksichtigt man die im vergangenen Jahr ausgerichteten Wahlen der Lokalverwaltung, die die Opposition aufgrund von Wahlmanipulation boykottierte und die Ergebnisse der 2020 Wahlen um politische Ämter auf Bezirksebene, ist die Opposition, von der lokalen bis zur nationalen Ebene, an der politischen Entscheidungsfindung so gut wie nicht beteiligt. Es ist mehr als offensichtlich, so ein politischer Kommentator, dass jedes Projekt, welches der Präsident umsetzen will, ohne Prüfung und Diskussion durchgewunken wird. In Folge dessen erklärte die Opposition die Wahlen für unrechtmäßig, rief zu friedlichen Demonstrationen auf und forderte unabhängige und glaubwürdige Ermittlungen sowie Neuwahlen. Oppositionsführer gehen den Staat weiterhin kritisch an aufgrund seiner repressiven, mitunter tödlich ausgehenden Maßnahmen. Sie fordern von der Internationalen Gemeinschaft, Sanktionen gegen das Land zu verhängen.
Obgleich die Wahlkampfpolitik die tansanische Gesellschaft entzweit hat, sind sich alle Seiten einig, dass es der Präsident niemandem erlaubt hätte, Sand ins Getriebe der Regierungspartei zu werfen. Und doch bleibt die Frage bestehen: weshalb dieses Ausmaß? Wie kann solch Manöver – ungeachtet des damit verbundenen Verlustes an Legitimität und der Möglichkeit, Entwicklungsversagen anderen zuschreiben zu können – verstanden werden? Welche Botschaften sind damit für uns, die wir Repräsentanten westlicher Nationen sind, hinsichtlich unserer Handlungsmacht und unserem Verständnis von Demokratie verbunden?
Der tansanische Staat hält das Monopol über Information und entscheidet über das Ausmaß an Nachrichten, auf die die Bürger*innen ein Anrecht haben. Es wird zunehmend schwieriger zwischen fingierten und realen Nachrichten zu unterscheiden, da online alles gleichermaßen rechtmäßig erscheint. Dies ist auf das fehlende Vertrauen zurückzuführen, das den Mainstream Medien aufgrund der zunehmenden Zensur durch den Staat entgegengebracht wird. In der Folge erscheint all das, was Online gepostet wird, glaubwürdig. Das Ausmaß an manipulativen Informationen, die sich im Internet finden lässt sich beispielhaft an der gemeinsamen Erklärung der Delegation der Europäischen Gemeinschaft in Tansania zum Wahlprozess zeigen, die am 2. Oktober 2020 auf Twitter veröffentlicht wurde. In ihr verwehrt sich die EU Delegation gegenüber jeglichen Anschuldigungen, einseitige Unterstützung für eine Partei, bzw. einen einzelnen Kandidaten zu leisten.[3]
Nachfolgendes ist daher als Versuch zu verstehen, verschiedene in Tansania zirkulierende Narrative nachzuzeichnen und zu hinterfragen - Narrative, die andauern, sich widersprechen oder verschwinden ohne verworfen oder korrigiert zu werden (die semi-autonome Region des Zanzibar Archipelagos wird dabei nicht mit berücksichtigt). Die Narrative werden dabei ohne Bezugnahme auf die Sprechenden selbst beschrieben, es sei denn diese werden explizit angesprochen.
Die Handlungsmacht der Sprache
In ihren Ausführungen zur Verwundbarkeit durch Sprache[4], analysiert Judith Butler gewaltvolle Sprachakte, die zu direktem Handeln führen oder aber bestimme Konsequenzen produzieren, wobei das Gesagte selbst und seine Konsequenzen zeitlich voneinander verschieden sind. Sprache kann strukturelle Herrschaftsverhältnisse wieder aufrufen oder einschreiben. Darüber hinaus besitzt Sprache das Potenzial nahtlos Handlungen zu suggerieren: «Wie können wir eine Vorstellung davon gewinnen, dass Sprache gehört, motivierend aufgenommen wird und die Zuhörer automatisch oder geradezu ansteckend zum Handeln veranlasst?»[5]
In Tansania ist verbale Gewalt und drohende Rhetorik zum Mittel geworden, mit dem abweichende Meinungen außerhalb wie innerhalb der Regierungspartei zum Schweigen gebracht werden. Es gibt Fälle, in denen Sprache Handeln mit umgehender Wirkung ist, wie im Fall umgehender Entlassung oder eines richterlichen Urteilsspruches. Im Kontext des Wahlgeschehens in Tansania sind es mächtige Worte, die in der Vorstellung eine Vielzahl an unkontrollierbaren Handlungen ausgelöst und im Zusammenspiel den Erdrutschsieg hervorgebracht haben. Es gibt Anzeichen dafür, dass das Wahlergebnis überraschend kam. In einem Kontext, in dem der Präsident mit ungeheurer Macht ausgestattet ist, kann ein Sprachakt Handlungen auslösen, die weder geplant noch gewünscht sind, sondern im Gegenteil Korrekturen nötig machen. Wenn all jene, die den Wahlprozess zu verantworten haben ständig darauf aufmerksam gemacht werden, dass es der Präsident ist, der «ihnen die Autos, die sie fahren zur Verfügung stellt, das Benzin im Tank wie die Gehälter bezahlt», so wird es nicht nur zu einer Bedrohung, sondern zu einer quasi Unmöglichkeit die Opposition zum Sieger zu erklären. Wenn überhaupt, spornt es den eigenen Eifer an sich loyal zu zeigen.
Verletzendes Sprechen, wie die durchgängige Ersetzung des Wortes «Präsident» durch «Lügner», wurde zu einem Merkmal der Reden, die Oppositionsführer hielten – insbesondere die von Tundu Anthipas Lissu, Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei Chadema, vor und während seiner Wahlkampfkundgebungen. Dies nötigte der regierenden Partei der Revolution (CCM) ein erhebliches Ausmaß an Toleranz ab, gerade in einem Kontext, in dem Führung hoch respektiert ist und nationale Souveränität symbolisiert. Nichtsdestotrotz deckte der Diskurs der Opposition potenziell destabilisierende Trends auf, wie der Rückgriff auf ethnische Zugehörigkeit in der Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst, oder den Vorzug, mit dem das herrschende Regime dem Christentum gegenüber dem Islam begegnet. Viele lobten anerkennend die Veranschaulichung des Widerspruches als Möglichkeit im öffentlichen Raum. Die Massen, die Tundu Lissu an sich binden konnte, wird wohl einige Erschütterungen in der Regierungspartei hervorgerufen und Erinnerungen an den Wahlkampf im Jahr 2015 ausgelöst haben, bei dem der CCM Kader Edward Ngoyai Lowassa, obgleich der Wirtschaftskorruption beschuldigt, die Seiten wechseln konnte und sechs Millionen Stimmen für die Oppositionspartei Chadema gewann. Gleichzeitig stellt das Jahr 2015 einen Wendepunkt in der Geschichte der größten Oppositionspartei dar. Was von einigen Beobachtern als strategischer Schachzug bewertet wird, sehen andere als beginnenden Verfall der Partei, da ein beständig wachsender Rückhalt in der Bevölkerung durch Verankerung der Partei auf lokaler Ebene sowie demokratische Prinzipien der Parteipersonalisierung wie dem antizipierten Wahlerfolg untergeordnet wurden.
Internationale Einmischung
Doch gibt es auch andere Lesarten, die den Auftritt Tundu Lissus durch internationale Interessen abgesichert sehen. Tundu Lissu lebt seit einem versuchten Mordanschlag im Jahr 2017 in Belgien. In seinen Wahlkampfreden nahm er nicht nur Bezug auf entwicklungstheoretische Konzepte des Westens, wobei er Handelszuwächse, öffentlich-private-Partnerschaften, und ein freundliches Investitionsklima als Eckpfeiler für ökonomisches Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen auswies. Sein Wahlkampf wurde zudem durch Drohbriefe der internationalen Anwaltskanzlei Amsterdam&Partners (London/Washington) an die tansanische Führungselite begleitet. Der internationale Anwalt des Präsidentschaftskandidaten wie auch die Vanguard Africa Stiftung mit Sitz in den USA beobachteten und kommentierten die Wahlkampfauftritte in gängigen Online Diskussionsforen. Beiden Organisationen wird nachgesagt, Oppositionskandidaten in verschiedenen afrikanischen Ländern maßgeblich finanziell zu unterstützen und ihr internationales Profil wie ihre Sichtbarkeit zu stärken. Darüber hinaus scheint europäischen Diplomaten in Tansania aufgrund internen Zwistes über (ökonomische) Interessen das Handwerkszeug gemeinsam veröffentlichter Stellungnahmen als Antwort auf eine sich entwickelnde Krise in ihrem Gastland abhanden gekommen zu sein. Angesichts dessen kann die Form des Wahlsieges der CCM als direkte Antwort des tansanischen Staates auf die Annahme verstanden werden, der Westen versuche die eigenen ökonomischen und geo-strategischen Interessen mittels Einflussnahme auf den Wahlkampf voranzutreiben.
Es bleibt eine Frage der Spekulation, ob sich der tansanische Staat durch das internationale Netzwerk, die Sichtbarkeit und die Ressourcen bedroht sieht, auf die Tundu Lissu zurückgreifen kann um sein Narrativ eines «mörderischen Regimes» zu stärken. Die Debatte, die jüngst im Ausschuss für Außenpolitik des Europäischen Parlamentes gehalten wurde, mag dies veranschaulichen. Sie löste in Tansania gemischte Reaktionen aus, da ihr Stellenwert im Netz wie bspw. auf Twitter als wegweisend für die Einleitung von Wirtschaftssanktionen dargestellt wurde. Die offizielle Reaktion des tansanischen Botschafters in Brüssel, wie die des Außenministers Tansanias fiel verhalten defensiv aus oder aber rief den Gründungsvater der Nation an, der jegliches Ansinnen die Souveränität des Landes gegen ausländische Hilfe einzutauschen, zurückgewiesen hatte.
Eine Neubetrachtung des Konzeptes der liberalen Demokratie
Diskurse, die sozial akzeptiert erscheinen und Wahrheiten produzieren, rufen uns bei tiefgehender Betrachtung dazu auf, unsere Vorstellung von Demokratie hinsichtlich von zwei Kernthemen zu hinterfragen: die der wechselseitigen Kontrolle der Machtzentren des Staates, wie wir es aus den klassischen Beispielen liberaler Demokratien her kennen und die der Handlungsmacht der «populären« bzw. der «arbeitenden Klassen«. Das wirft die Frage auf: reichen Mehr-Parteien-Systeme und freie Wahlen aus, um das Vermächtnis des Autoritarismus, das Vermächtnis von struktureller und institutioneller Gewalt, wie es der koloniale Staat hinterlassen hat, abzubauen?
Die zeitgleiche Liberalisierung des Politischen wie der Wirtschaft in Ländern, die sich in der Peripherie kapitalistischer Durchdringung befinden und in denen sich der Staat gezwungen sah, sich aus der Bereitstellung öffentlicher Güter zurückzuziehen, hatte einen Bumerang Effekt. Sie untergräbt seither organisatorische Kapazitäten in der Gesellschaft, die sich für Reformen und Umgestaltung einsetzen oder die Rechenschaftspflicht des Staates einfordern. In Tansania wurden seit der Unabhängigkeit soziale Formationen, die sich unabhängig und außerhalb des Staates organisieren, erheblich geschwächt. An ihrer Stelle baute die Partei Strukturen für den Dialog auf. Doch während einer Reise, in der Julius Nyerere, Gründungsvater der Nation, verschiedene Regionen Tansanias besuchte, «stellte er fest, dass die Partei auf allen Ebenen zunehmend inaktiver wurde. Besprechungen wurden nicht durchgeführt, oder wenn doch, so dienten diese den Führungseliten als Kommunikationskanal für ihre Reden oder um Entscheidungen und Anweisungen höherer Parteigremien durchzustellen. Er betonte, dass es Aufgabe der unteren Parteiorgane sei, demokratische Foren bereit zu stellen. In ihnen sah er die Lebensader der Partei, die es den Parteispitzen erlaubte den Puls der Menschen zu fühlen. Er wurde nicht müde darauf hinzuweisen, dass eine Neubelebung der auf lokaler Ebene verankerten Einrichtungen der Partei notwendig sei – ebenso wie es Aufgabe jeder Führungsperson ist den Nöten, Sichtweisen und Meinungen der einfachen Mitglieder der Partei ihre Aufmerksamkeit zu schenken.»[6]
Vor diesem Hintergrund ist unser Demokratieverständnis, das überwiegend auf Begriffen der Mittelklasse gründet und sich entlang ihrer Bestrebungen organisiert, neu zu betrachten und zu erweitern. Dies bedeutet die Realität der Massen einzubinden, und Mechanismen zu finden, die konfliktäre Interessen und asymmetrische Machtbeziehungen miteinander in Einklang bringen. Das Recht der Straßenhändler auf die Stadt ist hierfür ein geeignetes Beispiel. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich Tundu Lissu, der die tansanische Regierung für ihre nationalistische Politik kritisiert, während des Wahlkampfes gezwungen sah seine Position zu korrigieren und von der Verstaatlichung von Land sprach, als er sich mit den Menschen und ihrer Realität vor Ort konfrontiert sah. Ndongo Samba Syllas Betrachtung über die Liberalisierung des Politischen und ihrer Desillusionierung in Afrika erhält dadurch eine bedeutsame Wendung. So schreibt er «dass der öffentliche Raum, zu dessen Öffnung (die Liberalisierung des Politischen) zunächst beitrug, rasch in sich zusammen schrumpfte, denn Überlegungen zu Partei und Wahlen wurde der Vorrang eingeräumt und damit den Einwohner*innen jegliche Form einer bedeutsamen politischen Beteiligung abgesprochen. Anstatt die populäre Souveränität zu stärken, erstickte sie sie vielmehr und verbot jegliche autonome politische Ausdrucksform.»[7]
Konflikte und Zerrüttung innerhalb der Opposition
«Ich werde nicht für den gedeckten Tisch eines Anderen demonstrieren, der uns vergisst, sobald er in ein öffentliches Amt gewählt ist» – Diskussionsbeitrag zu den Wahlen in den Sozialen Medien
In einer vor Kurzem ausgerichteten Online Pressekonferenz wurde Tundu Lissu und dem Vorsitzenden der Oppositionspartei ACT-Wazalendo (Allianz für Wandel und Transparenz) Zitto Kabwe die Frage gestellt, weshalb ihr öffentlicher Aufruf zu Demonstrationen kaum Gehör fand. Beide Politiker führten kurzfristige Festnahmen führender, die Demonstrationen vorbereitenden Parteimitglieder, eingeschränkten Internetzugang und massive Präsenz der Sicherheitsorgane des Staates als Begründung an. Gleichermaßen verteidigten sie die Bereitschaft der tansanischen Bevölkerung, die Auseinandersetzung um die eigene Sache zu führen. Sie verwiesen dabei auf die lange Geschichte kontroverser, hart umkämpfter und gewaltvoller Wahlkämpfe auf Sansibar, sowie auf die Demonstration, die Chadema 2011 in Arusha organisiert hatte.
Andere Stimmen hingegen beschrieben die Oppositionsparteien als gänzlich unvorbereitet, um einen gezielten Gegenschlag hervorzubringen. Sie schienen weder auf langfristige Planungen, Vertrauen, klare Kommunikationswege, noch eine verbindende und ansprechende Agenda, die auch die Auseinandersetzungen der arbeitenden Klassen beinhaltet, zurückgreifen zu können. Der Aufruf, auf die Straße zu gehen, wurde als eine Aufforderung interpretiert, sein eigenes Leben für das Einkommen eines Anderen zu riskieren und stellt damit die Grenzen eines Demokratieverständnisses auf den Prüfstand, dass auf Mehrparteienpolitik und Wahlverfahren abzielt. Auf gewisse Weise ruft der Vorfall die Wahlen 2015 ins Gedächtnis, in deren Vorfeld eine vereinte Opposition und die sie tragende starke Oppositionsbewegung an Schwung verloren. So verweisen das Schweigen im Nachgang an die Wahlen 2020 und die niedrige Wahlbeteiligung von gerade mal 50%, ungeachtet der Bestrebungen des Staates jegliche Opposition zu ersticken, auf die offensichtliche Loslösung politischer Parteien von der Lebensrealität der Menschen und das allgemeine Misstrauen in das politische System.
Ein tansanischer Polit-Thriller
In der Nacht des Sonntags zum 2. November wurden Chademas Parteivorsitzender Freeman Mbowe, der vormalige Parlamentarier Godbless Lema, sowie der vormalige Bürgermeister des Bezirkes Ubungo in Dar es Salaam kurzzeitig verhaftet. Laut des für die Region Dar es Salaam zuständigen Polizeikommandanten Lazaro Mambosasa sollen sie landesweite Demonstrationen geplant und junge Menschen dazu angestachelt haben, entgegen den öffentlichen Apellen für friedvolle Proteste, während der Demonstrationen Straftaten auszuüben. Die Anschuldigungen wurden weit zurückgewiesen. In ihnen sah man nichts weiter als ein Mittel, die Opposition zu delegitimieren und die Beschneidung des in der Verfassung verbrieften Rechts auf Protest zu rechtfertigen. Im Nachgang mussten sich mehrere Parteimitglieder in Spitzenpositionen Polizeiverhören unterziehen. Letztlich gipfelten die Vorfälle in einem diplomatischen Tauziehen. Während Tundu Lissu Schutz in der Residenz der deutschen Botschafterin fand, ersuchte Godbless Lema im benachbarten Kenya Asyl – ein Schritt, den der Generalinspektor der Polizei Simon Sirro als ein Versuch wertete, das Image Tansanias zu beschädigen.
Die Beschuldigungen der Polizei, Straftaten und Gewalt angestiftet zu haben sind aus den öffentlichen Diskursen in Mainstream wie sozialen Medien verschwunden, ohne korrigiert oder gelöst worden zu sein. Es ist ungeklärt, ob sie nach wie vor Handlungen des Staates mitbegründen. Die Opposition ist indes mit der schwierigen Aufgabe betraut, der Bevölkerung erklären zu müssen weshalb einige der Führungseliten Chademas, einschließlich ihres Präsidentschaftskandidaten, erst zu Demonstrationen aufriefen aber dann rasch untertauchten und die nationalen Grenzen zum eigenen Schutz überquerten.
Nach seiner «erzwungenen Rückkehr» nach Belgien, da er sein Leben bedroht sah, stellte Tundu Lissu klar, dass er nicht aufgeben werden das Regime in Tansania zu attackieren, indem er die globale Öffentlichkeit informieren und Allianzen mit Regierungen, Menschenrechtsorganisationen und weiteren Institutionen eingehen wolle, die es sich zum Ziel gesetzt haben pro-demokratischen Führungseliten strategisch zu begleiten. Es ist dies nicht der Ort zu untersuchen, ob diese Institutionen wirksame und transparente Mechanismen zur Rechenschaftslegung auch im Hinblick auf ihre Finanzquellen etabliert haben. Dennoch ist die Frage aufzuwerfen, ob ihr Engagement – oftmals in Unkenntnis des politischen Kontextes in dem sie agieren – nicht weitere Risiken, Abhängigkeiten mit sich bringen oder eine Einflussnahme folgen könnte, die eine Stärkung der Demokratie langfristig schädigt.
Das Dilemma der Opposition
Artikel 78 (1) der tansanischen Verfassung weist jeder politischen Partei, die zumindest 5 Prozent der Wählerstimmen in einer Parlamentswahl erzielt eine entsprechende Anzahl von Sitzen zu, die allein Frauen vorbehalten sind, um Genderthemen im Parlament besser zu verankern. Auf dieser Grundlage stehen Chadema mit ihrem 2020 Wahlergebnis 19 Frauensitze im Parlament zu, was die Partei vor ein erhebliches Dilemma stellt. Entscheidet sich Chadema für die 19 Parlamentssitze[8], wie sie die Nationale Wahlkommission für sie bereithält, so entstünde damit Sichtbarkeit und Parteieinkommen durch Subventionen des Staates wie durch die in Chadema etablierte Tradition, gemäß der Parlamentarier einen Teil ihres monatlichen Gehaltes der Partei zur Verfügung stellen. Weist sie die Möglichkeit von sich, zwingt dies die Partei an ihrem Vorwurf des Wahlbetruges und fortgesetzter Schikane festzuhalten. Stimmen, die sich für die Annahme der 19 Sitze aussprechen, argumentieren hingegen, dass die Partei schon bei jeder Wahl den Vorwurf des Wahlbetruges erhoben habe, und zwar gerade in den Jahren 2010 und 2015, jedoch niemals die Arbeit im Parlament verweigert hatte. Warum jetzt?
Nach Monaten eines, den Berichten zufolge, zähen Aushandlungsprozesses, schufen 19 Frauen neue Fakten und stürzten damit die Partei in Unabwägbarkeiten. Fünf der 19 Frauen sind als Mitglieder des Zentralkomitees mit Top-Führungspositionen betraut, einschließlich der «Baraza la Wanawake Chadema (BAWACHA)», dem mächtigen Frauenkomitee der Partei. Die meisten unter ihnen waren zuvor Mitglieder des Parlaments, die hohe Chancen hatten, die Wahlen für sich zu gewinnen. Eine von ihnen wurde bereits vor Beginn des Wahlkampfes inhaftiert, während andere Gerichtstermine in laufenden Verfahren wahrzunehmen hatten. Unter der Leitung der Vorsitzenden des Frauenkomitees – Halima Mdee – leisteten die 19 Frauen am 24. November in Dodoma als Mitglieder des Parlaments vor ihrem Sprecher ihren Eid – dem Anschein nach ohne ein klares Mandat von ihrer Partei erhalten zu haben. Die Tageszeitung «The Citizen» berichtete einen Tag nach der Vereidigung, dass «die Partei seit dem gestrigen Vorfall fleißig schweige, trotz brodelnder Gerüchte nach denen die Parteiführung bezüglich der Frage der 19 Parteisitze massiv unter Druck geraten sei oder drohe auseinanderzubrechen. Die Vereidigung gipfelte daher in spannungsgeladenen Tagen, die die Partei gefährdete und in denen sich ihre Anhängerschaft vermutlich, den wütenden Online Reaktionen nach zu urteilen, betrogen sah. Die gestrigen, widersprüchlichen Aussagen einiger nominierter Frauen und des Generalsekretärs der Partei, John Mnyika, vergrößerten nur die Verwirrung in dieser Angelegenheit.»[9]
Aus Perspektive der Regierungspartei ist das Manöver durchaus strategisch, obgleich dem Hörensagen nach Bestimmungen verletzt und Prozesse nicht befolgt wurden. Es kann zudem auch als ein Korrektiv verstanden werden: Seife, um das Image des Landes vom Schmutz rein zu waschen. Mitunter mag die Hoffnung damit verbunden sein, dass diese Frauen nicht davor zurückschrecken werden, den Regierungsverantwortlichen im Parlament kritischen Fragen zu stellen.
Chademas politische Gräben wurden offensichtlich als das Zentralkomitee die 19 Frauen drei Tage nach ihrer Vereidigung aus der Partei ausschloss. Das lange Schweigen zwischen der Entscheidung der Partei und der Pressekonferenz, in der die 19 Frauen ihren Standpunkt erläuterten, lieferte ausreichend Nahrung für giftige Anschuldigungen und widersprüchliche Informationen, die eine bereits polarisierte Debatte über Verrat und Schuld weiter schürte. Ihre eigenmächtige Entscheidung wurde ihnen als engstirniger Eigennutz angelastet. Gerede über offene Schulden, die zur Eigenfinanzierung des Wahlkampfes aufgenommen wurden, oder Verdächtigungen in die Regierungspartei übertreten zu wollen, wie dies bereits andere Parteifunktionäre vor ihnen getan hatten, stellten hierfür einen reichhaltigen Nährboden. Interne Parteistreitigkeiten wurden in die Öffentlichkeit gezerrt, indem die Privatsphäre von Parteikadern angegriffen und beschädigt wurde, ungeachtet der potenziell zerstörerischen Folgewirkungen. Andere hingegen stellten die Frage, wer eigentlich innerhalb der Partei das Recht habe darüber zu bestimmen, welche Frauen Chadema im Parlament vertreten?
Über Maskulinität
Es könnte argumentiert werden, dass in einem politischen Kontext, der von «toxischer» Maskulinität dominiert wird, eine solches Manöver aus Sicht der Regierungspartei durchaus symbolisch verstanden werden kann. Mit der Leichtigkeit, mit der die Regierungspartei 19 Frauen in Führungspositionen für sich gewinnen kann, indem sie interne Spaltungen und blockierte Beratungen geschickt ausnutzt, verweist sie die Oppositionspartei an ihren Platz. Während der Generalsekretär der Regierungspartei den 19 Frauen im Hinblick auf ihren Parteiausschluss die Mitgliedschaft in der CCM anbot, verwarf der Parlamentssprecher den Gedanken, sie aus dem Parlament zu entlassen. Er bewertete den Parteiausschluss lediglich als Ausdruck eines verwurzelten Patriarchats in der Führungselite Chademas. Und wie um sein Argument zu untermauern, schlugen sowohl der Vorsitzende wie auch der Generalsekretär Chademas, der die Leistungen der «Soldatinnen» zum Aufbau der Partei würdigte, den 19 Frauen vor, ein Entschuldigungsschreiben zu verfassen und somit im Gegenzug ihre Parteizugehörigkeit zurück zu gewinnen.
Was die Dinge zusätzlich komplizierte ist der Umstand, dass der Ausschluss der 19 aus dem Parlament bislang nicht erwirkt wurde. Dies erfordert ein an den Sprecher des Parlaments gerichtetes Schreiben Chademas, in dem dieser offiziell über den Ausschluss der 19 Frauen aus der Partei informiert wird.
Was nun?
Zwischen den Zeilen gelesen, kann der tansanische Polit-Thriller als Ausdruck einer Krise der Ideologie, voneinander abweichender innerparteilicher Interessen, sowie als Ausdruck der Abwesenheit intellektueller Stimmen verstanden werden die kritische Positionen beziehen. Das harte Durchgreifen gegen Korruption, in dessen Folge Entscheidungsfindungsprozesse der Regierungspartei zunehmend zentralisiert wurden, wie auch die Zensur kritischer Stimmen innerhalb der Partei wird voraussichtlich bestehende Spannungen und Brüche weiter intensiveren.
Die Zukunft des Mehrparteiensystems in Tansania wird demnach von der Fähigkeit der politischen Parteien abhängen interne Konflikte zu lösen, Organisationsprozesse umzugestalten, und Mechanismen zur Rechenschaftslegung auszubauen. Zu einem Großteil entscheidet sich die Zukunft des Mehrparteiensystems an der Fähigkeit, Räume für Reflektion auf allen Ebenen, lokal bis national, zur Verfügung zu stellen. So könnte ein Pfad beschritten werden, auf dem Entwicklung aus der Sicht der populären, der arbeitenden Bevölkerungsschichten vorgestellt, der ideologische Standpunkt der Parteien neu ausgerichtet und konfliktäre Interessen miteinander verhandelt werden.
[1] Kingine ambacho nimekiona na kukiishi kwa kipindi hiki ni Ubaguzi, kubaguliwa na Marafiki na ndugu kwa kuwa sikuwa kwenye chama chao. Watu walisahau utu na utaifa wakaangalia Chama.
[2] Nicodemus Minde, “How Magufuli has steered Tanzania down the road of an authoritarian one-party state”, The Conversation, 15 November 2020.
[3] “Following the circulation of fake news about alleged electoral polls and statements by the European Union concerning the upcoming elections in Tanzania, the European Union affirms that it does not support any specific candidate or party and that any declaration by any elections stakeholder claiming either EU support for, or criticism against, participants in the elections is completely unfounded.”
[4] Butler, J., 1997: Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York: Routledge.
[5] Ebd., S. 21
[6] Shivji I.G. (lead author), 2020: Development as Rebellion: A Biography of Julius Nyerere: Rebellion without Rebels, Dar es Salaam: Mkuki na Nyota Publishers.
[7] Sylla, N.S., 2014: “Liberalization and its Discontents: Social Movements in West Africa”, Rosa Luxemburg Stiftung, S. 25.
[8] Die Sondersitze sind strikt Frauen vorbehalten. Die Zuteilung der Sondersitze pro Partei wird anhand der Gesamtanzahl der Stimmen ermittelt. Die Fünf-Prozent-Hürde verhindert, dass auch kleiner Parteien Sondersitze für Frauen erhalten.
[9] The Citizen, “Chadema thrown into uncertainty“, 25 November 2020.