Nachricht | Arbeit / Gewerkschaften - Digitaler Wandel - Digitalisierung der Arbeit Tech-Worker bei Google gründen ihre erste Gewerkschaft

Die AWU organisiert Festangestellte und prekär Beschäftigte

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Jörg Meyer,

Google-Mitarbeiter*innen beim «Google Walkout» 2018 in New York. Foto: picture alliance/AP Photo | Mae Anderson

Google. Ein milliardenschweres Tech-Unternehmen. Dort zu arbeiten ist ein Traum: Neben der höchsten Bezahlung in der Branche bietet Google seinen Beschäftigten Krankenversicherung, Lebensversicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Fortbildungsmöglichkeiten sowie eine betriebliche Altersvorsorge. Dazu kommen flache Hierarchien, Kritik- und Feedbackrunden, in denen die Chefs direkt konfrontiert werden können. Obstkorb, Happy Hour, Betriebskita, Friseure, Fitness Center und Pool – Ehrensache.

Viele der Errungenschaften sind hierzulande in Gesetzen, Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen geregelt. In den Vereinigten Staaten sind sie die Ausnahme. Und auch gewerkschaftliche Organisierung ist heute in den USA alles andere als die Regel.

Besonders die Tech-Branche zeichnete sich über Jahrzehnte durch Gewerkschaftsfeindlichkeit aus. Unternehmen beschäftigen Detekteien und Beratungsunternehmen, um Organisierung im Keim zu ersticken. Das Union-Busting ist eine eigene Branche mit Milliardenumsätzen jedes Jahr. Aber auch unter den jungen, gut verdienenden, hochqualifizierten und gesuchten Fachkräften selbst galten Gewerkschaften lange als nicht zeitgemäß. Sie waren lieber für sich selbst verantwortlich.

Eine neue Gewerkschaft und was sie will

Beschäftigte bei Google haben nun mit der Alphabet Workers Union (AWU), benannt nach dem Google Mutterkonzern Alphabet, erstmals im Herzen eines der Tech-Giganten eine neue Gewerkschaft gegründet. Die Mitglieder sind überwiegend Sotftwarenentwickler*innen – ein Novum. Das Besondere an der AWU ist auch, dass sie alle Beschäftigten einschließt: sowohl die knapp 120.000 Festangestellten, die direkt für Google arbeiten als auch ungefähr noch einmal so viele Werkvertragskräfte, Leiharbeiter*innen, Beschäftigte von Dienstleistern und Lieferanten.

Auf der Homepage der AWU heißt es: «Wir stellen die Produkte her, reinigen die Büros, und servieren das Essen, was unseren Erfolg ausmacht. Wir verbinden unsere User*innen mit der Welt, entwerfen und bauen unsere Hardware, helfen Unternehmen dabei unsere Angebote zu nutzen und beantworten das Feedback unserer User*innen. Ohne dich und deine Arbeit gibt es kein Alphabet

Der Bezug auf das alte Unternehmensmotto, «Don‘t be evil», (Sei nicht schlecht/böse) ist handlungsleitend für die AWU. Aber statt diesem Motto zu entsprechen habe sich Google dahingehend verändert, dass erst der Profit komme und dann alles andere; die Beschäftigten, die User*innen und der Anspruch, eine «Macht des Guten» in der Welt zu sein. Konkret hat die AWU die Ziele, Schutz für seine Mitglieder zu bieten, für gleiche Bezahlung von Festangestellten und prekären Beschäftigten zu kämpfen und von innen auf das Unternehmen einzuwirken und es immer wieder an seine gesellschaftliche Verantwortung zu erinnern.

Man habe lange darauf vertraut, dass das Management seine Macht im Rahmen der Grundwerte des Konzerns ausübe, heißt es weiter. Doch dem zu vertrauen, sei falsch gewesen. Der Gründung der AWU geht eine lange Geschichte wachsender Unzufriedenheit voraus.

Das Richtige tun – im veränderten Betriebsklima

Google gehört als Tochterunternehmen seit Oktober 2015 zum Konzern Alphabet. Andere Firmen sind dazugekommen, etwa das Videoportal Youtube, das Biotechnologieunternehmen Calico, Waymo, das selbstfahrende Autos entwickelt oder Wing, ein Unternehmen, das Lieferdrohnen entwickelt.

Mit dem Umbau von Google zu Alphabet änderte sich auch das Firmenmotto. Seit kurz nach der Jahrtausendwende lautete dieses «Don’t be evil». Der Entwickler des E-Mail-Dienstes «Gmail», sagte vor Jahren in einem Interview, das Motto sei auch ein Seitenhieb auf die Konkurrenz gewesen, weil diese Unternehmen nach Meinung der damals deutlich unter 50 Google-Beschäftigten ihre User*innen ausnutzten.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Das Firmenmotto lautet heute «Do the right thing» (Tue das Richtige). Und damit änderte sich auch das Klima im Unternehmen, die Unzufriedenheit wuchs. Im November 2018 streikten Beschäftigte des Tech-Konzerns. Der Grund war der Umgang des Managements mit Vorwürfen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Der Top-Manager und Erfinder des Betriebssystems Android, Andy Rubin, war im Jahr 2014 wegen sexueller Nötigung gefeuert worden und hatte eine millionenschwere Abfindung erhalten, was zunächst nicht öffentlich bekannt wurde.

Ausdruck einer entstandenen Bewegung

Vom ersten Bericht über die Abfindung an Rubin in der New York Times 2018 bis zum Streik hatte es nur sieben Tage gedauert. Weltweit legten 20.000 Beschäftigte die Arbeit nieder. Sie forderten neben einem Transparenzbericht zu sexueller Belästigung, das Unternehmen möge sich der Chancengleichheit und ungleicher Bezahlung widmen. Ben Tarnoff, Tech-Worker, Autor und Mitbegründer des linken Technologie-Magazins Logic schrieb im Mai 2020 in seinem Text «The Making of the the Tech Worker Movement», das Ausmaß des Streiks sei bemerkenswert gewesen, und ebenso, dass die Parolen und Transparente einen Bogen schlugen zu gewerkschaftlichen und gesellschaftlichen progressiven Forderungen.

Jörg Meyer ist freier Journalist in Berlin und verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift «Soziale Sicherheit».

Gegen das traditionell gewerkschaftsfeindliche Klima im Silicon Valley hatte schon Jahre davor eine kollektive Organisierung von Beschäftigten begonnen, schreibt Tarnoff weiter. Der Streik sei nicht aus dem Nichts entstanden. Vielmehr sei Google im Speziellen und die Tech-Branche im Allgemeinen schon lange im Visier von gewerkschaftlichen Organisierungsbemühungen. Eine Tech-Worker-Bewegung sei entstanden, so Tarnoff, und die nehme an Fahrt auf.

Den Grundstein hatte die US-weite Kampagne «Justice for Janitors» Anfang der 1990er Jahre gelegt. Damals war es der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU erstmals gelungen, nach einem eineinhalbjährigen Kampf 130 Reinigungskräfte gewerkschaftlich zu organisieren, die für Subunternehmen bei Apple gearbeitet hatten. Für Ben Tarnoff war das der gewerkschaftliche Brückenkopf im Silicon Valley – und die Grundlage für weitere erfolgreiche Kämpfe 20 Jahre später. Heute vertreten mehrere Gewerkschaften die Reinigungskräfte bei Apple, die Shuttle-Busfahrer*innen bei Apple und Twitter, das Wachpersonal bei Cisco und IBM sowie die Kantinen-Beschäftigten bei Google und Intel.

Google wehrt sich – und bekommt es mit dem NLRB zu tun

Doch das Unternehmen schlug zurück. Die «Tanksgiving Four» waren vier Beschäftigte, die aufgrund ihrer Aktivitäten kurz vor dem in den USA wichtigen Erntedankfest (Thanksgiving) vor die Tür gesetzt wurden. Der Vorwurf: Sie hätten Sicherheitsbestimmungen verletzt, weil sie für sie verbotene Dokumente angesehen hätten. Die vier sagen dagegen, sie hätten öffentlich zugängliche Papiere über die IRI Consultants abgerufen. Google hatte die Firma, die als auf Union-Busting spezialisiertes Beratungsunternehmen bekannt ist, während einer Organizing-Kampagne engagiert.

Kurz darauf erhob die Organizerin Kathryn Spiers den Vorwurf sie sei entlassen worden, weil sie gegen die Kündigung der vier Kolleg*innen protestiert hatte. Ihr Vergehen: Sie hatte eine Pop-Up-Nachricht programmiert, die mit der Botschaft «Googler haben das Recht, sich in geschützten gemeinsamen Aktivitäten zu engagieren» auf den Bildschirmen ihrer Kolleg*innen auftauchte, wenn diese die Homepage von IRI auf ihren Arbeitsrechnern aufriefen.

Gut ein Jahr später, im Dezember 2020, hat das National Labor Relations Board (NLRB) eine Beschwerde gegen die Kündigung von Spiers und Laurence Berland, einem der Thanksgiving Four, und weiterer Arbeitsrechtsverletzungen eingereicht. Google habe Beschäftigte überwacht und ausspioniert. Das NLRB ist die für die Einhaltung der Arbeitsrechte zuständige US-Behörde.

Für Ärger sorgte zuletzt im Dezember das Ausscheiden der Wissenschaftlerin Dr. Timnit Gebru, die kritisiert, sie sei entlassen worden. Google dagegen behauptet, sie habe gekündigt. Sie war in der Leitung des Teams, das sich mit den gesellschaftlichen Folgen von Künstlicher Intelligenz auseinandersetzt. Sie hat zudem die Gruppe «Black in AI» gegründet, die die Arbeit und den Einfluss von Schwarzen in der Forschung zu künstlicher Intelligenz fördert. Dem non-profit-Medienportal NPR sagte Gebru: «Google gefiel die Idee, dass ich bei ihnen arbeite, aber sie wollten nicht mich persönlich.» In einer Mail an Kolleg*innen hatte sich die renommierte Wissenschaftlerin über die Firmenkultur beschwert und gefragt, wer ein Forschungspapier blockiert habe, das sie auf einer Konferenz vorstellen wollte, schrieb die Neue Zürcher Zeitung. Das Papier drehte sich demnach um Fragen von Künstlicher Intelligenz und Sprache und das Problem, das Programme, die mit diskriminierender Sprache trainiert wurden, später in der Anwendung diesen Bias haben.

Tausende Menschen, darunter etliche Google-Beschäftigte, unterschrieben eine Petition für Gebrus Wiedereinstellung. Google-Chef Sundar Pichai entschuldigte sich in einem Memo und kündigte Untersuchungen an. Er versuchte damit vermutlich auch, etwas für den angeschlagenen Betriebsfrieden zu tun.

Wohin geht die Minderheitsgewerkschaft?

Als die AWU ihre Gründung bekannt gab, war die Rede von über 200 Mitgliedern. Nach Gewerkschaftsangaben ist diese Zahl Mitte Januar auf über 700 gestiegen. Die neue Organisation ist nach eigenen Angaben in den USA und Kanada aktiv.

Aber wann gründet man eine Gewerkschaft? Sind es zu wenige Mitglieder ist die Gefahr groß, dass sie vom Arbeitgeber direkt ins Visier genommen werden. Mit der Größe steigt auch die Macht einer Gewerkschaft. Ben Tarnoff vermutet im Videogespräch, das wir Mitte Januar führen, die Führungsetage bei Google habe Wind von dem Vorhaben bekommen, und es sei sicherer gewesen, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Die neue Gewerkschaft organisiert nicht die Mehrheit der Beschäftigten bei Google, sie ist eine «minority union» (Minderheitsgewerkschaft). Damit muss sie nicht die vorgeschriebene Zulassung beim NLRB durchlaufen.

Der größte Nachteil dürfte sein, dass eine Minderheitsgewerkschaft die Arbeitgeberin nicht zur Aufnahme von Tarifverhandlungen zwingen kann. Tarifverträge etwa über Bezahlung oder Arbeitszeit kann sie nicht abschließen. Ein Vorteil dürfte sein, dass eine Minderheitsgewerkschaft, alle für ein Unternehmen Beschäftigten organisieren kann – und nicht wie eine Mehrheitsgwerkschaft nur die Festangestellten in einem abgrenzbaren Betrieb.

Die AWU ist der Gewerkschaft Communication Workers of America (CWA) beigetreten, der mit 700.000 Mitgliedern größten Gewerkschaft für Beschäftigte in der Kommunikations- und Medienbranche, im öffentlichen wie privaten Sektor.

Wie sich die AWU entwickeln wird, hängt in erster Linie an der Mitgliederentwicklung und daran, für welchen Weg sich die Mitglieder dann entscheiden. Sie könnte Minderheitsgewerkschaft bleiben – ohne das Recht, Tarifverträge auszuhandeln. «Kollektive Aktionen sind für Arbeitgeber immer beängstigend, und je disruptiver sie sind, desto beängstigender sind sie», sagt Ben Tarnoff. Und der Streik sei das wirksamste Mittel und der beste Schutz, den die Beschäftigten hätten. Eine «solidarity union» (Solidaritätsgewerkschaft), wie die Minderheitsgewerkschaften auch genannt werden, unterliegen einerseits nicht den engen Beschränkungen etwa des Streikrechts wie vom NLRB anerkannte Gewerkschaften. Andererseits ist die Gefahr von Union Busting viel höher.

Um die Anerkennung als offizielle Gewerkschaft zu bekommen kann entweder Google die AWU als Verhandlungspartnerin anerkennen. Doch das dürfte genauso unwahrscheinlich sein, wie die Anerkennung des Flächentarifvertrages für den Einzelhandel von Amazon in Deutschland. Die andere Möglichkeit ist, dass 30 Prozent der Beschäftigten unterschreiben, dass sie gewerkschaftlich vertreten werden wollen. In einer Wahl muss dann die Mehrheit der Belegschaft für die AWU stimmen.

Er rechne nicht damit, dass die AWU in naher Zukunft die NLRB-Standards erfüllen und als Verhandlungspartnerin anerkannt wird, sagte deren Vizevorsitzender Chewy Shaw in einem Medienbericht anlässlich der Gründung. Aber: «Wenn wir die Mehrheit der Beschäftigten hinter uns haben, um die Wahl durchzuführen, werden wir das tun.»

Diese Meinung teilen nicht alle Mitglieder der AWU. Denn die Anerkennung durch das NLRB würde bedeuten, dass sie nicht alle für Google Arbeitenden unabhängig von Beruf oder Status vertreten kann. Einige prominente Organizer*innen waren der AWU nicht beigetreten, weil sie der Formalisierung der Gewerkschaft kritisch gegenüberstehen. Würde die AWU zu einer Gewerkschaft werden, in der nur die ohnehin Bessergestellten ihre Privilegien verteidigen, wäre das der falsche Weg, meint Ben Tarnoff.

Schlägt das Imperium zurück?

Allein die Präsenz einer Gewerkschaft unter Tech-Workern dürfte im Silicon Valley für Aufregung sorgen. Die Gefahr der Gegenschläge durch das Unternehmen ist vorhanden. Das beweist das Verhalten von Google in der Vergangenheit. Mar Hicks ist Historikerin für Technologie- und Arbeitsgeschichte an der Universität Illinois. Gegenüber dem Radiomagazin Day 6 sagte sie, sie habe nach dem großen Google Walkout  2018 gehört, dass «jedes Unternehmen im Silicon Valley» seine Anwälte gefragt hätte, wie so eine Aktion im eigenen Hause verhindert werden könne. «Du kannst darauf wetten, dass diese Gespräche jetzt wieder stattfinden: Wie können wir vermeiden, dass so eine Organisierung auch bei uns stattfindet?» Aber: Würde Google eine «Politik der verbrannten Erde gegen die neue Gewerkschaft» durchsetzen, sagt Hicks, wäre das ein Zeichen an den Gesetzgeber, schärfere Kontrollgesetze für die Tech-Industrie zu erlassen.

Unter der neuen, vom Demokraten Joe Biden geführten US-Regierung wäre das wahrscheinlich. Der neue US-Präsident hatte schon im November des vergangenen Jahres angekündigt, die Gewerkschaften würden in seiner Amtszeit mehr Macht bekommen. Er will die Organisierung erleichtern und fördern. Auf seiner Homepage zählt zu seinen Wahlversprechen unter anderem, den «Protecting the Right to Organize Act» (Pro Act) zu unterstützen, ein Gesetz, mit dem harte Strafen gegen Unternehmen festgelegt werden, die Gewerkschaftsarbeit behindern oder gewerkschaftlich engagierte Beschäftigte entlassen.