Stille ist es, was vielen Menschen zuerst einfällt, wenn sie an die Sounds (die Klänge und Geräusche) der Pandemie denken. Die Pandemie und der Lockdown haben offensichtlich Einfluss auf die öffentliche Klanglandschaft, darauf was gehört wird und was nicht.
Move and be still
Recognise positionality and reciprocity
Find feedback as a gesture of touch
Listening for everything
Everything is valid
Tune into which you cannot hear
Ask a question of what you hear
Let sound become a language (without grammar)
Let listening become a conduit (without words)
Stay
Care
Converse
«A Manifesto for Careful Listening (listening for everything)», Listening Across Disciplines)
Die Art und Weise wie wir unsere (akustische) Umgebung wahrnehmen, ist stark von dem kulturellen Kontext geprägt, in dem wir aufwachsen. Sound und das Wissen, das wir durch Sound erlangen, werden (wenn überhaupt) im Gegensatz zu Visuellem nur als Hintergrund oder begleitendes Element wahrgenommen.
Die Dominanz des Visuellen lässt sich auf das Zeitalter der Aufklärung zurückführen. Damals wurde das Sehen, im Gegensatz zu den anderen «primitiven» Sinnen, als «höherer» Sinn charakterisiert. Diese «Sichtweise» beeinflusst nach wie vor unsere Wahrnehmung der Umwelt. Wer und was gehört und (akustisch) repräsentiert wird, ist sehr selektiv und durch ungleiche Machtverhältnisse geprägt. Folglich überhören wir viele Aspekte unserer akustischen Umgebung.
Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, eine alternative Klanglandschaft der Pandemie zu erstellen. Sounds und Stimmen, die bereits vor Beginn der Pandemie wenig Beachtung fanden, sind jetzt noch weniger zu hören. Als ein Fragment aus Informationen und (ungehörten) Stimmen ist die Audiocollage eine Einladung zum Zuhören, wie unterschiedlich die Pandemie erlebt wird, und zum Reflektieren unserer (nicht-Zu)Hörgewohnheiten; und somit ein Ausgangspunkt für Veränderung.
Wir empfehlen zunächst die Soundcollage (vorzugsweise mit Kopfhören) anzuhören, zu versuchen Bedeutungen zu erschließen und im Anschluss die Hintergrundinformationen zu den Protagonist*innen zu lesen.
Weiter unten folgt eine Verschriftlichung und Übersetzung der Redebeiträge in Deutsch (Englisch und Türkisch als PDF zum Download).
Corona-Sounds – Unbeachtete Stimmen wahrnehmen
Protagonist*innen
- Johanna ist seit 25 Jahren Sexarbeiterin und politisch sehr aktiv. Johanna ist ihr Künstlername, durch die nach wie vor starke Stigmatisierung des Berufs haben die meisten ihrer Kolleg*innen einen Künstlernamen. Sie ist 52 Jahre alt.
- Katleen ist eine 71-jährige Künstlerin, die vor über 20 Jahren nach Berlin gekommen ist. Sie ist Bauchtänzerin, Fotografin und Performerin.
- Mehmet lebt seit ungefähr drei Jahren in Berlin. Er hatte ein Kleidungsgeschäft, das er kurz vor Beginn der Pandemie geschlossen hat. Zurzeit verkauft er verschiedene Produkte auf dem Markt.
- Önder ist Fotograf, der aufgrund seiner Arbeit die Türkei verlassen musste. Er lebt in Deutschland im Exil.
- Özge lebt seit anderthalb Jahren in Berlin. Sie ist 28 Jahre alt und gerade wieder Masterstudentin. Nebenberuflich unterrichtet sie Deutsch als Fremdsprache.
Epilog
Wir haben zu einer alternativen Praxis des (Zu-)Hörens eingeladen: zu einer Reise tiefen Zuhörens, Begegnungen, Erschließen von Bedeutungen, Momenten des (Nicht-)Verstehens, verschiedenen Gefühlen und Reflexion. Erfahrungen in gesprochener Sprache zu teilen eröffnet einen gemeinsamen akustischen Raum, indem Ideen, Gedanken und Gefühle vom Klang der Stimme sowie dem Hören von sich selbst und einander begleitet werden. In Interviews stellten wir einige offene Fragen, um einen Raum zu schaffen, in dem Menschen als die Erzähler*innen ihrer Geschichten ihre Erfahrungen teilen können.
Einige der gerade gehörten Stimmen waren vielleicht schon vorher bekannt, aber durch die Pandemie haben sie neue Bedeutungen erlangt. Für eine Person, die in ein anderes Land migriert ist, ändert sich die Bedeutung von Distanz. Durch die Angst, wohlmöglich einige ältere Familienmitglieder nicht wiedersehen zu können, wird räumliche Entfernung schmerzvoll(er). Abtreibungen, die in Deutschland (sowie in vielen anderen Ländern auch) ohnehin eingeschränkt sind, wurden nun noch schwieriger. Begrenzter Zugang und mangelnde Unterstützung haben Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit sowie auf sexuelle Selbstbestimmung. Das Sozialsystem erreicht nicht alle Menschen. Viele Sexarbeiter*innen, deren Arbeit noch immer stark stigmatisiert ist, konnten keine staatliche finanzielle Unterstützung erhalten. Andere Berufe wie beispielsweise der Verkauf auf dem Markt sind unmöglich online zu verrichten. Während Digitalisierung dazu beitragen kann, lange Distanzen zu überbrücken, fehlen dabei Intimität und Nähe, was einen großen Einfluss auf soziales Leben und psychische Stabilität haben kann. Auch Aktivismus hat sich teilweise in den virtuellen Bereich verschoben bzw. dort weiter ausgebreitet. Dennoch fanden trotz der verstärkten Einschränkungen des öffentlichen Bereichs zahlreiche Proteste auch auf den Straßen statt.
Wir haben auch Sounds und Stimmen im öffentlichen Raum aufgenommen, von Protesten sowie von alltäglichen Situationen. Einige der Sounds, wie zum Beispiel die in der Metro sowie im Supermarkt, werden gewöhnlich als «Hintergrundgeräusche» wahrgenommen. Doch für viele von uns sind sie eine gemeinsame, häufig tägliche Erfahrung. Zudem sind dies Räume, in denen Menschen unterschiedlicher Hintergründe zusammenkommen, ohne sich dabei zu begegnen. Räume, die von einer Hierarchie geprägt sind, darüber was gesehen und gehört werden soll.
Die Pandemie bringt diverse Emotionen und Visionen mit sich: Ängste, Einsamkeit, Unsicherheiten, Sehnsüchte, Depression, sowie Hoffnungen, Widerstand und Solidarität. Die allgemeine Situation, individuelle Lebensbedingungen und Persönlichkeit bringen geteilte und verschiedene Erfahrungen hervor.
Mit der Soundcollage haben wir versucht, einige ungehörte und überhörte Stimmen hörbar zu machen, ohne dabei über «die Anderen» zu sprechen. Wir wollen die Menschen die Akteur*innen ihrer Geschichten sein lassen. Der fragmentarische Charakter ist eine Einladung zur Reflexion: über unsere Hörgewohnheiten, sowie die Grenzen von (Re-)Präsentation, über die verschiedenen Geschichten, sowie deren Auswahl. Natürlich ist es unmöglich, alle Geschichten in einer Darstellung zu präsentieren, aber unser Ziel ist es, zu einer alternativen Praxis des (Zu-)Hörens im alltäglichen Leben anzuregen, die Ignoranz überwindet und Verständnis schafft, gegen Wohltätigkeit und für Gleichberechtigung und Solidarität.
Mit großem Dank an:
Johanna, Katleen, Mehmet, Önder und Özge für die Teilnahme, sowie Deniz, Fiona, Lisa, Rafia und Stefanie für ihre Unterstützung.
Die Sounds wurden von Juli bis Dezember 2020 in Berlin aufgenommen.
Marie Gippert und Gamze Kafar (Text und Fotos)