Nachricht | „… ob es vielleicht eines Tages auch einen Sorbenstern geben werde?“

Lektüreempfehlung - geplante Veranstaltung für den 27.1. wird nachgeholt

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg e.V. hatte für den 27. Januar 2021 eine Veranstaltung zum neuen Buch „Hana. Eine jüdisch-sorbische Erzählung“ von JURIJ KOCH mit einem Nachwort des Gründungsdirektors des Centrum Judaicum Berlin HERMANN SIMON geplant.

Corona-bedingt mussten wir auch die Planungen zu dieser Veranstaltung erst einmal aussetzen und dokumentieren eine Buchbesprechung von Gerd-Rüdiger Hoffmann, der die Idee zu dieser Veranstaltung hatte.

Jurij Koch war Mitte zwanzig als seine Novelle „Židowka Hana“ („Die Jüdin Hana“) 1963 auf Sorbisch erschien. Unter den Sorben ist das Buch bekannt und beliebt und erfuhr mehrere Auflagen. Zumindest Auszüge wurden vor 1989 im Sorbischunterricht gelesen und diskutiert. Lenka Cmuntova, Regisseurin aus Prag, inszenierte 1968 mit dem Sorbischen Pioniertheater Bautzen eine dramatisierte Fassung der Novelle.

Jurij Koch (Foto: Ines Neumann)

Als der Historiker und Gründungsdirektor der Stiftung Neue Synagoge Berlin Centrum Judaicum Hermann Simon 1990 Jurij Koch um eine deutsche Übersetzung der Novelle bat, war er von der Idee gar nicht begeistert. Bis heute sieht Koch seine Novelle kritisch. Es wäre ein erster literarischer Versuch gewesen, sentimental, voller ausschweifender Naturbetrachtungen und stellenweise regelrecht pathetisch. Einer Übersetzung würde er niemals zustimmen. Das war es dann erst einmal – bis der linke Landtagsabgeordnete Heiko Kosel Hermann Simon bat, auf einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 100. Geburtstages der am 15. August 1918 in Horka geborenen katholischen Sorbin jüdischer Herkunft Annemarie Schierz zu sprechen.

Gründungsdirektor des Centrum Judaicum Berlin, Dr. Dr. hc. Hermann Simon [Foto: Centrum Judaicum)

Historiker werfen Schriftstücke nicht weg, und so fand Hermann Simon den Briefwechsel mit Koch über die literarische Figur Hana und die historisch verbürgte Person Annemarie Schierz bzw. Kreidl, die im Dorf nur Hana Šĕrcec oder Kschischans Hana genannt wurde. Simon sichtete das Material und sagte zu. Jurij Koch, 1936 in Horka geboren, ließ das Thema ebenfalls nicht los. Sein 2012 erschienenes Buch „Das Feuer im Spiegel - Erinnerungen an eine Kindheit“ beginnt mit einer Begebenheit, in der es genau um diese Frau geht. Diese Erinnerungen sind für Hermann Simon wichtige Anregung, die Biografie der tatsächlichen Hana doch noch erforschen zu können. Jurij Koch entschloss sich schließlich, die fiktionale Geschichte über Hana in deutscher Sprache neu zu schreiben. Man ahnt das Risiko, einmal Veröffentlichtes neu zu schreiben, also umzuschreiben. Vielleicht reicht das Ergebnis nicht ganz, um wie Kochs „Augenoperation“, „Der Kirschbaum“ oder „Jubel und Schmerz der Mandelkrähe“ zum Besten der Gegenwartserzählkunst in deutscher Sprache gerechnet zu werden. Ein herausragendes Stück Literatur ist es allemal und ein Glücksfall, dass diese Erzählung mit diesem Stoff nun vorliegt. Ein weiterer Glücksfall ist das Nachwort von Hermann Simon, in dem er akribisch, mit 87 Anmerkungen belegt, den Forschungsstand zur Biografie von Annemarie Schierz einer wahren Kriminalgeschichte gleich ausbreitet.

Die Erzählung behandelt vier Jahre. Die Handlung beginnt im Frühling 1939 und endet im Sommer 1943. Ort der Handlung ist Horka, das sorbische Hórki bei Kamenz, heute Ortsteil von Crostwitz (Chrósćicy), nicht das Horka (Hórka) bei Niesky, das während der Nazizeit Wehrkirch heißen musste. Allein der Titel des Buches - „Eine jüdisch-sorbische Erzählung“ - lässt bereits vermuten, dass es hier nur um wenige Jahre gehen kann. Das Unheilvolle wird von Jurij Koch ohne Umwege, ohne künstlichen Spannungsaufbau gleich auf den ersten Seiten eingeführt. Wie sollte auch eine Geschichte über eine jüdisch-sorbische junge Frau in dieser Zeit anders begonnen werden. Dass sie nicht gut ausgehen wird, dürfte von Anfang an klar sein. Dennoch ist Spannung garantiert. Der nur achtundsiebzig Seiten umfassende Text, einmal zu lesen begonnen, lässt nicht los. Es geht um einen Mord, um Nazis als Außenseiter der Dorfgemeinschaft, um unspektakulären Widerstand, um Anpassung, um Liebe in schwerer Zeit, um Solidarität als das Normale in dem kleinen sorbischen Dorf, auch um Angst und Verrat. Die Erzählung handelt von der anfangs zwanzigjährigen Hana, die das Sorbische und Katholische mit Selbstverständlichkeit auf dem Hof ihrer Stiefeltern lebt, eigentlich aber Tochter wohlhabender Juden aus Dresden ist. Jüdische Schicksale aus der Zeit der systematischen Verfolgung und Vernichtung durch den deutschen Faschismus sind wahrlich nicht selten Thema in der Literatur. Die Perspektive jedoch, aus der Jurij Koch erzählt, dürfte etwas Einmaliges sein. Das Schlimme, das Gemeine, kommt leise ins Dorf Horka, in die Welt der Sorben und damit in das Leben von Hana. Nicht Hana ist die Fremde im Dorf, auch nicht als immer mehr darüber zu reden ist, dass sie jüdische Eltern habe. Das Fremde im Dorf ist der Wahnsinn der „modernen Zeitläufe“, der die Menschen wohl als Gottes Ebenbilde, „aber doch unterschiedlich in Güte und Gattung“ (S. 24), wie der Crostwitzer Pfarrer predigt, zu sehen verlangt. Fremd sind Soldaten mit „ihren aufgenähten flügelspreizenden Adlern über den rechten Brusttaschen und den mitfliegenden hakigen Kreuzen im Schwanzschlepp“ (S. 10). Fremdkörper im Dorf ist der Polizist, des Sorbischen nicht mächtig, der aber unter den Sorben „für deutsche Ordnung zu sorgen hatte“ (S. 21). Und Hanas jüdische Eltern in Dresden? „Sie sind mir fremd. Ich lebe hier mit meinen Eltern. Sie sind meine richtigen Eltern. Obwohl sie nicht meine richtigen Eltern sind. (…) Hier bin ich aufgewachsen. Hier ist mein Zuhause. Meine Dresdener Eltern haben große Sorgen. Es ist besser, wenn sie sich nicht auch noch um mich sorgen müssen. Und ich nicht um sie.“ (S. 15f.)

Wie so oft bei Jurij Koch, eine sehr eigenwillige Poesie der leisen Töne und des Einklangs von Natur und Mensch kennzeichnen seine Erzählkunst auch in diesem Buch. Die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ in der Natur, im Rhythmus der Arbeiten auf dem Feld und im Stall und im nahen Steinbruch gehört zum Alltag und bedarf keiner philosophischen Reflexion. Wie auch die sorbischen Feste, die Trachten und die Umgangsformen, das Sorbische im Katholischen und das Katholische im Sorbischen einfach da sind und ohne draufgesetzte Erklärung auskommen. Der Tagesablauf ist einem Naturgesetz ähnlich geregelt und immer gleich, auch für Hana: „Eine Stunde noch, dachte sie, dann ist der Sonntag wieder vorbei. Füttern, melken, zu Abend essen, ins Bett! So geht’s Tag für Tag. Alle Tage, alle Feiertage.“ (S. 8) Die Welt da draußen mit ihrem Streben nach Fortschritt und seltsamen neuen Wertvorstellungen darüber, wer die Minderwertigen und wer die Höherwertigen seien, sie möge wenig mit diesem im Gleichklang von Natur und Mensch ablaufendem Leben im Dorf und der harten Arbeit im nahen Steinbruch zu tun haben. Neue Moden und Anweisungen, das Tragen eines Judensterns etwa, passen nicht ins sorbische Dorf. „Und ob sich Hana auch einen Stern annähen müsse? ‚Quatsch!‘, sagte der Schmied. ‚Geht gar nicht. Passt nicht zur Tracht.‘“ Anfangs machen die Dörfler noch Witze und halten zusammen als der Polizist Hana den Besuch von Tanzveranstaltung und Gottesdienst verbietet. Noch trugen „die Ereignisse der Alltage im Dorf“ dazu bei, die Welt zu verklären. Doch der Krieg wird mit dem Eintreffen schwarz gerahmter Briefe gegenwärtiger. Das Misstrauen untereinander wächst und die Sorge auch, „dass das katholisch-slawische Getue nicht mehr in die modernen Zeitläufe passe.“ (S. 52) „… ob es vielleicht eines Tages auch einen Sorbenstern geben werde?“ (S. 47) Die Flucht in die Schweiz, bis ins Kleinste von Hanas Liebsten Bosćij gut geplant, scheitert. Bosćij wird verhaftet, weil er der Einberufung zur Wehrmacht nicht nachkam. Ihr Stiefvater überlebt die psychischen Schikanen nicht. Gestapo und Dorfpolizist wissen, wie sie den treuen Katholiken am besten erledigen können. Sie streuen das Gerücht, dass er ein Verhältnis in Schande mit seiner jüdischen Stieftochter hätte. Hana wird deportiert. Niemand weiß, wann und wo sie umgebracht wurde. So endet die Erzählung. Und so schließt auch der Bericht von Hermann Simon über das Leben der Annemarie Schierz. Auf den letzten Seiten, Hana berichtet mitgefangenen Frauen aus ihrem Leben, entfaltet sich noch einmal in besonderer Weise der einmalige Stil des meisterhaften Erzählers Jurij Koch – berührend und doch ohne Sentimentalität. Dem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Ortseingangschild von Horka [Foto: Gerd-Rüdiger Hoffmann]

Auf dem STOLPERSTEIN in der Crostwitzer Straße 17 in Horka ist zu lesen:

„Tule Narodźi so a bydleše / Annemarie Kreidl / přiwzata / Hana Šěrcec / katolska serbowka / židowskeho pochada / lětnik 1918 / zajata 1942 / morjena 1943“

„Hier wurde geboren und lebte Annemarie Kreidl, adoptierte Hana Šĕrcec, katholische Sorbin jüdischer Herkunft, Jahrgang 1918, verhaftet 1942, ermordet 1943“

STOLPERSTEIN [Foto: Gerd-Rüdiger Hoffmann]