Nachricht | Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Amman, unsere Mutter?

Am Boden der Stadt – Buchbesprechung und Reflektion

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Autorin

Hanna Al-Taher,

«Jordanien, Land der Stärke» – die Leuchtschrift ist Teil der Werbekampagne der Stadtverwaltung von Amman
«Jordanien, Land der Stärke» – die Leuchtschrift ist Teil der Werbekampagne der Stadtverwaltung von Amman Foto: Hanna Al-Taher

Ummuna Amman (Amman ist unsere Mutter), ist eine Kampagne beziehungsweise ein Slogan, mit dem die Stadtverwaltung Amman (Greater Amman Municipality – GAM) seit 2014 im Stadtbild mit Bannern oder Leuchtreklamen mal mehr, mal weniger präsent ist. Auch Parolen wie «Sei stolz, unsere Mutter ist Amman» tauchen auf. Warum wird eine Stadt als Mutter bezeichnet? Ziel der Kampagne ist es laut GAM, die Bindung zwischen Ammans Bewohner*innen und ihrer Stadt zu stärken und so eine positive Einstellung gegenüber der Hauptstadt zu fördern. Die Kampagne wurde bisher jährlich durch ein frei zugängliches Kulturprogramm mit Veranstaltungen an öffentlichen Orten begleitet, etwa Konzerte und Spiele für Kinder oder Dienstleistungen im Gesundheitsbereich. Insbesondere aber werden Ereignisse der offiziellen jordanischen Nationalgeschichte gefeiert. So wird etwa der Arabischen Revolte von 1914 gedacht, einer der Gründungsmythen arabischer Nationalismen wie auch speziell der jordanischen Armee. Zentral sind auch die militärischen Auseinandersetzungen um den jordanischen Ort Karameh, die 1968 zwischen israelischen Streitkräften, dem jordanischen Militär und palästinensischen Fedayeen ausgetragen wurden und hohen symbolischen Wert haben. Meistens tritt bei diesen Veranstaltungen das jordanische Militär auf – traditionellerweise eine wichtige Stütze der Monarchie.

Hanna Al-Taher ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet in Amman, Gießen und London.

Mit dieser Themenbesetzung einer Kampagne zur Förderung der Bindung an die Stadt Amman wird deutlich, dass Ammans Entwicklung zur Hauptstadt Jordaniens eng mit einer Nationalstaatswerdung «von oben» verwoben ist. Diese Entwicklung verlief nicht zufällig, Amman wurde mit der Gründung Transjordaniens 1921 von Abdullah I. zur Hauptstadt ernannt. Vor diesem Hintergrund würde eine Stärkung der Beziehung zu Amman die Bevölkerung auch enger an die jordanische Monarchie binden. Der Begriff «Mutter» soll dabei eine Universalität und vor allem Natürlichkeit der Bindung suggerieren, die historisch wie gesellschaftlich so nicht gegeben ist.

Amman hat heute knapp vier Millionen Einwohner*innen, nahezu die Hälfte der Bevölkerung Jordaniens, etwa 10 Millionen, wohnt also in der Hauptstadt. Das Bevölkerungswachstum der Stadt ist eng verknüpft mit der Ankunft von Geflüchteten, insbesondere aus Palästina (vor allem 1948 und 1967), Irak (1990 und nach 2003), Syrien (verstärkt seit 2011) und Sudan (besonders nach 2014). Diese Zuzüge wirken sich sowohl auf die Zusammensetzung der Bevölkerung als auch auf die gebaute (Infra-)Struktur der Stadt aus – häufig erscheint Amman ungeplant und chaotisch, eine Stadt im Zustand permanenten Werdens. Reaktionen auf Notsituationen, die temporär sein sollten, sind inzwischen selbstverständlicher Teil der Stadt, wie palästinensische Flüchtlingslager an den (ehemaligen) Stadträndern, die zu Stadteilen geworden sind. Diese Viertel haben einige Ähnlichkeit mit anderen marginalisierten Stadtteilen, behalten aber eine spezifische Identität und Struktur als «camp». An der Peripherie der Stadt zeigt sich Macht am deutlichsten, schreibt Saba Innab, eine palästinensisch-jordanische Architektin und Stadtforscherin, in einem Beitrag über Stadtentwicklung und Architektur in Amman, genauer an den Aushandlungen, differentieller Inklusion und Verdrängungen, die an diesen Rändern stattfinden.

Um solche Ränder geht es auch in Lina Shannaks erstem Buch, 2019 bei Jabal Amman Publishers in arabischer Sprache erschienen, einem literarisch-journalistischem Versuch, die Stadt und Ihre Ränder zu dokumentieren. Ausgangspunkt des Buches ist der Einsturz mehrerer Wohnhäuser in Jabal Al-Joufeh, einem Stadtviertel im Osten von Amman, Anfang des Jahres 2017. Verletzt wurde dabei niemand, allerdings löste der Vorfall eine mediale Debatte über strukturelle Benachteiligung aus. Es wurde deutlich, dass ungeachtet der Ambitionen der Stadtverwaltung, eine positive Einstellung zu Amman zu fördern, umgekehrt die Einstellung der als Mutter personifizierten Hauptstadt – repräsentiert durch die ebendiese Verwaltung – gegenüber ihren Bewohner*innen in weiten Teilen bestenfalls gleichgültig ist. Im Kontext der gewählten Symbolik der Mutter als gutmütig oder fürsorglich ist das eher widersprüchlich. Den Slogan der Kampagne der Stadtverwaltung finde sie sinnlos, sagt auch Lina Shannak. Sie könne damit nichts anfangen und habe auch kaum das Gefühl, dass die Vorstellung von Amman als Mutter den Menschen in Al-Joufeh irgendetwas bedeuteten könnte. Die Menschen, die Ihre Wohnungen verloren haben, evakuiert und umgesiedelt wurden, gaben an, seit Jahren Beschwerden eingereicht, Instandsetzungen gefordert und auf bauliche Instabilität wegen der Nähe zu Sickergruben hingewiesen zu haben. Die Stadtverwaltung hält dagegen, das Problem seien nicht-autorisierte Anbauten. Für zahlreiche Menschen aus wohlhabenderen Gegenden der Stadt erschien Jabal Al-Joufeh und damit der Süden und Osten der Stadt wohl erst infolge der medialen Aufmerksamkeit wirklich auf der urbanen Landkarte.

Shannak ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin aus Amman und setzt sich mit ihrer Arbeit für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit in Jordanien ein. Ihr Buch ist besonders an die Bewohner*innen Ammans gerichtet und «den jordanischen Menschen» gewidmet. Shannak will «Geschichten erzählen, die uns dazu bringen, Dinge besser zu verstehen, Empathie zeigen zu können, und den Status quo zu hinterfragen», Geschichten, die sonst häufig ignoriert und übergangen werden. Shannaks Buch basiert auf Gesprächen und Begegnungen in Al-Joufeh zwischen 2017 und 2019. Am Boden der Stadt ließe sich der Titel ins Deutsche übertragen. Damit wolle sie niemanden beleidigen, betont Shannak, sondern auf schwierige Lebensbedingungen aufmerksam machen. Dabei beschränke sich das auch nicht auf Amman, sondern sei in weiten Teilen Jordaniens und darüber hinaus eine Realität.

Das Buch ist keine wissenschaftliche Analyse zu Armut und Exklusion, sondern ein persönlicher Bericht über individuelle Schicksale hinter offiziellen Berichten und Statistiken. In insgesamt sechs Kapiteln schreibt Shannak gegen Ausschluss und über die Kämpfe und Träume der Bewohner*innen von Al-Joufeh. Dabei stellt jedes Kapitel eine einzelne Geschichte aus der Perspektive der jeweiligen Protagonist*innen dar. Im ersten Kapitel kommt eine Familie zu Wort, die nach dem Einsturz der Gebäude wie etwa 55 weitere Familien, insgesamt fast 400 Personen, umgesiedelt werden soll, aber lieber im bekannten Viertel bleiben will, anstatt in ein soziales Wohnprojekt am Stadtrand verlagert zu werden. Vielen Familien ging es ähnlich, denn ein Wechsel des Wohnorts würde auch den Zugang zum ökonomischen und sozialen Umfeld unterbinden. Was ist ein menschenwürdiges Leben, fragt die Protagonistin des Kapitels, und es wird klar, dass es mehr als ein Dach über dem Kopf ist. In einem weiteren Kapitel kommt eine Jordanierin zu Wort, die ihre Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben kann, die infolgedessen von staatlichen Schulen und von der Gesundheitsvorsorge ausgeschlossen bleiben. Gegen dieses Staatsbürgerschaftsgesetz setzen sich jordanische Frauengruppen und Feministinnen seit Jahren ein, Veränderungen gibt es kaum. Diese Gesetze treffen arme Familien besonders hart, da sie auf die staatlichen Schulen angewiesen sind und nicht einfach auf teure Privatschulen ausweichen können. Das Kapitel trägt die Überschrift «Bin ich eine Bürgerin zweiter Klasse?» Das ist eine Frage, die auch bei Protesten verschiedener Gruppen wie etwa der Kampagne «My mother is Jordanian and her citizenship is my right» immer fordernd von Aktivist*innen gestellt wird. Shannak schreibt über Geflüchtete aus dem Sudan, die in Jordanien vielleicht die erhoffte Sicherheit vorfinden, sich aber auch mit rassistischen Strukturen konfrontiert sehen. Im Vergleich zu anderen Geflüchteten und Asylsuchenden, wird in den etablierten Medien kaum über die sudanesische Community berichtet.

Shannak schreibt über die Hürden, die überwunden werden müssen, und über das Scheitern daran. Die Arbeit am Buch habe ihren Bezug zur Stadt verändert, sagt Lina Shannak: «Ich habe viel Zeit damit verbracht, Menschen zuzuhören und wurde so Zeugin ihrer Erfahrungen. Etwas zu erleben oder mitzubekommen ist ganz anders, als lediglich darüber zu lesen oder auch einen kurzen Bericht zu schreiben. Diese Erfahrung hat mich viel gelehrt, mir sind die täglichen Widerstände und Hindernisse viel bewusster geworden. Mehr als jemals zuvor glaube ich, dass die Stadt tief gespalten ist, und ich begreife nicht, dass niemand für das Leid hunderttausender Menschen zur Verantwortung gezogen wird. Zwar habe ich das schon vorher gewusst, aber so wurde es etwas, das ich jeden Tag sehe und erlebe.» Der Osten Ammans könnte auch als ein an den Rand gedrängtes Zentrum verstanden werden, überschattet von modernen Hochhäusern in neueren und reicheren Vierteln der Stadt. Wo genau die Grenze verläuft, ist allerdings umstritten und auch, ob eine derartige Unterscheidung überhaupt sinnvoll ist.

In einem Essay «über Stadt und Buch» fragen Abdullah Al-Bayyari, Leiter der Archive Library in Amman, und Autorin Yasmin Nofal, wem diese Einteilung nutzt und welche Vorstellungen und Vorurteile wir dadurch festschreiben. Sie fragen, ob diese Stadt, die das herrschende Narrativ des hegemonialen Systems erzählt, überhaupt die Unterschiedlichkeit, die in ihr lebt, absorbieren kann. Leben wir alle in derselben Stadt? In Jabal Al-Joufeh begegnet der Staat seiner Bevölkerung in erster Linie mit Abwesenheit und Begrenzungen. Die eingangs geschilderte, formal suggerierte Natürlichkeit einer Bindung zwischen Stadt, Nation und Bevölkerung ist hier zumindest brüchig, bzw. sie gilt nicht für diejenigen Bewohner*innen Ammans, die an und zwischen den Rändern leben. Vielleicht sind es aber gerade die Brüche im offiziellen Narrativ, die die notwendige Sprengkraft für Alternativen hervorbringen.

Zitate von Lina Shannak wurden von Hanna Al-Taher aus dem Arabischen und Englischen ins Deutsche übertragen, Gespräch Januar 2021.

Literatur:

  • Shanak, Lina (2019): Qaa Al-Madina (City Shallows). Arabisch. Amman: Jabal Amman Publishers.
  • Innab, Saba (2016): Reading the Modern Narrative of Amman: Between the Nation and the National. In: The Arab City: Architecture & Representation. New York: Columbia Books on Architecture and the City.