Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - Osteuropa «Wenn wir es schaffen, diese Mauer durchzubrechen, wäre es großartig»

Menschen auf den Straßen von Moskau über ihre Teilnahme an den Protesten

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Autorin

Jelena Besrukowa,

Kundgebung zur Unterstützung des Oppositionellen Alexej Nawalny in Moskau, 31.1.2021
«Sie sind jung, zornig, sichtbar, und wollen, dass die Regierenden eine Reaktion zeigen.» Kundgebung zur Unterstützung des Oppositionellen Alexej Nawalny in der Nähe des Moskauer Untersuchungsgefängnisses Matrosskaja Tishina, 31.1.2021, picture alliance/dpa/TASS | Valery Sharifulin

Trotz massenhafter Festnahmen, verhängter Geldstrafen, der Polizeigewalt und des Risikos, hinter Gittern zu landen, nehmen die Menschen in Moskau und anderen russischen Städten weiterhin an nicht genehmigten Protestaktionen teil. Wer sind sie, was sagen sie zu ihren Gründen, betrachten sie sich als Anhänger*innen Alexei Nawalnys und sind sie bereit, weiter zu demonstrieren? Eine Protestforscherin berichtet über die Protestierenden auf Grundlage der von ihr bei den Aktionen durchgeführten Umfragen.
 

Die Massenproteste zur Unterstützung Alexei Nawalnys, die am 23. Januar anfingen, haben sich mittlerweile auf Dutzende Städte in ganz Russland ausgebreitet. Laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info wurden bei der ersten Kundgebung insgesamt 3770 Personen festgenommen. Eine Rekordzahl in der jüngsten russischen Geschichte. Eine Woche später, am 31. Januar, wurden über 5000 Menschen festgenommen. Auch unter denjenigen, die am 2. Februar vor das Moskauer Stadtgericht kamen, um Nawalny zu unterstützen, und denjenigen, die am gleichen Abend auf den zentralen Straßen von Moskau und St. Petersburg ihren Protest gegen das Urteil kundtaten, gab es eine größere Anzahl von Festnahmen.

Im Nachgang der Proteste wurden bereits über 40 Strafverfahren eröffnet, und diese Zahl steigt weiter. Für viele Städte waren die Massenfestnahmen und die Zusammenstöße der Sonderpolizei OMON eine neue Erfahrung, anderenorts schien sich niemand über das Vorgehen der Polizei zu wundern, etwa in Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg und Chabarowsk.

Um nachzuvollziehen, was die Städter*innen dennoch dazu bewegt hat, an den nicht genehmigten Aktionen vom 23. und 31. Januar teilzunehmen – trotz des Risikos, festgenommen zu werden, und zu 15 Tagen Arrest sowie einer erheblichen Geldstrafe verurteilt zu werden – habe ich die Protestierenden auf den Straßen Moskaus befragt. Da eine Massendemonstration nicht gerade ein einladender Ort für längere Gespräche ist, stellte ich jeweils nur zwei bis drei Fragen: Was hat die Interviewten auf die Straße getrieben? Womit sind sie persönlich nicht einverstanden und wogegen sind sie bereit zu protestieren? Wie oft sind meine Gesprächspartner*innen bei Demonstrationen dabei und befürchten sie, diesmal festgenommen zu werden?

Beim zweiten Mal, am 31. Januar, fügte ich eine Frage zum sozialen Status hinzu (Bildungsniveau, Beruf) und fragte sie außerdem, ob sie Nawalny-Anhänger*innen seien, wie sie ihre eigenen politischen Ansichten definieren würden, ob sie an der Demonstration vom 23. Januar teilgenommen hätten und ob sie sich auch in Zukunft an den Protesten beteiligen würden.

Insgesamt befragte ich 27 Personen bei der ersten Demonstration und 23 bei der zweiten. Die jüngste interviewte Person war 17 und die älteste 86 Jahre alt.

Die Umfrage erfolgte im Rahmen meiner Dissertation über die Besonderheiten der russischen Protestbewegung. Meine These lautet: Die langjährigen, die Versammlungsfreiheit einschränkenden Verbotsmaßnahmen – etwa das erschwerte Anmeldeverfahren für öffentliche Veranstaltungen, routinemäßig verweigerte Genehmigungen, die rechtliche Gleichstellung einer Serie von Einzelmahnwachen mit einer Kundgebung und vieles mehr – begünstigen keinesfalls eine friedliche Protestkultur. Im Gegenteil, sie lassen den Menschen keine andere Wahl, als an nicht genehmigten Demonstrationen teilzunehmen.

Die Umfrage erhebt keinen Anspruch auf Objektivität und möchte in erster Linie die Meinungen einfacher Protestierender abbilden, die keinen Parteien oder Bewegungen angehören (alle Befragten gaben an, sie seien als einfache Bürger*innen da – mit Ausnahme des 86-Jährigen, der angab, Mitglied der liberalen Jabloko-Partei zu sein).

Ich habe zwar Angst, aber dennoch muss ich mittenrein, ich kann mich nicht zurückhalten

Die Umfrage hat meine These im Großen und Ganzen bestätigt. Wie sich herausstellte, hat die Großzahl der Befragten keine Angst davor, an nicht genehmigten Aktionen teilzunehmen und möglicherweise festgenommen zu werden. Dabei gab es aber Unterschiede in den Antworten vom 23. respektive 31. Januar. Bei der Kundgebung auf dem Puschkin-Platz vom 23. Januar verneinten alle meine Gesprächspartner*innen die Frage «Haben Sie Angst, festgenommen zu werden?». Bei der letzten Aktion war das Meinungsbild geteilt; manche gaben an, sie hätten Angst, es hätte aber keinerlei Auswirkungen auf ihre Entschlossenheit, bei den Protesten mitzumachen.

So berichtete Anna, eine studierte Asienwissenschaftlerin, die derzeit auf Arbeitssuche ist, sie hätte Angst vor einer Festnahme: «Ich habe zwar Angst, aber wenn ich sehe, dass da Menschen festgenommen werden, muss ich mittenrein, ich kann mich nicht zurückhalten.»

Ilja, 29, studierter Ingenieur, beantwortete die Frage ähnlich: «Doch, ich habe große Angst. Ich war bei der ersten Demo …  bei mehreren U-Bahn-Stationen, Sretenskaja, ich glaube, Sucharewskaja. Ich saß dann bei McDonald’s und habe gesehen, wie die Menschen so richtig einkassiert wurden, es war gruselig.»

«Das heißt, Sie haben Angst, aber gehen dennoch auf die Straße? Warum?»

«Schon, aber was soll man sonst machen? Was werde ich meinen Kindern sagen? Soll ich etwa über das schöne Russland von morgen labern, und sie fragen mich dann, und wo warst du? Und ich so, zu Hause auf dem Sofa gehockt?»

Ein Großteil der Befragten, 18 Personen, gaben an, sie hätten die Absicht, sich auch weiterhin an Protesten zu beteiligen. Zwei Personen meinten, sie würden ihre Teilnahme von den Umständen abhängig machen.

Wir haben die willkürlichen Verhaftungen satt

Unter den Hauptgründen für ihre Teilnahme an den Demonstrationen vom 23. und 31. Januar erwähnten die meisten Befragten einen durchaus konkreten Anlass, nämlich die ihrer Meinung nach ungerechte Verhaftung Alexei Nawalnys. Zudem sprachen fast alle von Armut, Korruption und Betrug. Viele nannten das Vorgehen der russischen Justiz illegal:

«Ich bin gegen das Gerichtssystem, das wir in unserem Land haben – bei uns kann jeder Unschuldige hinter Gittern gebracht werden, wenn sie was gegen ihn haben. Mir gefällt es nicht, wie unsere Wirtschaft funktioniert, sie basiert auf Korruption. Alles fängt überall mit Korruption an, du kannst sonst nichts erreichen, kriegst keinen Job. Es gibt keine Arbeitsplätze in der Provinz. Das ganze Geld sitzt in Moskau, alle meine Bekannten in den Regionen sind arbeitslos», so ein 20-jähriger Befragter, der zum ersten Mal auf der Protestaktion am 23. Januar demonstrierte. 

Ähnlich argumentierten am gleichen Tag mehrere junge Menschen, die gemeinsam mit ihren Freund*innen unterwegs waren. Fast alle von ihnen waren auffällig geschminkt und trugen bunte Haare.

«Wir sind es einfach leid, dass unser Land bestohlen wird», so die 19-jährige Natalja zu ihrer Protestteilnahme.

Iwan, 20: «Ich bin hier, um gegen das zu protestieren, was mit Nawalny passiert ist, ich bin nämlich der Meinung, dass seine Festnahme völlig willkürlich war. Und ich möchte zusammen mit anderen Menschen zeigen, dass es uns nicht egal ist. Die Sache mit den ehrlichen Wahlen, besonders …»

Natalja unterbrach ihn: «Wir wollen, dass die Diebe und die Mörder ihre Strafe bekommen, und dass es in unserem Land nicht möglich ist, die Opposition einfach so kaltzumachen.»

Die jungen Leute gaben an, bereits Erfahrungen bei Protesten gesammelt zu haben. Die Frauen hatten sich zuvor schon an Aktionen gegen häusliche Gewalt ebenso wie bei einer dem Großbrand im Einkaufszentrum Simnjaja Wischnja im sibirischen Kemerowo gewidmeten Demonstration beteiligt.

Am 31. Januar wiesen die Protestierenden auch auf die Mängel des russischen Justizsystems hin:

«Wir haben die willkürlichen Verhaftungen einfach satt. Wir wollen doch irgendwie in einem Rechtsstaat leben, wo Gesetze befolgt werden», so Konstantin, 30 Jahre alt, 1C-Programmierer mit Hochschulabschluss.

Bei vielen Menschen hatte Nawalnys jüngster investigativer Bericht einen Nerv getroffen, besonders vor dem Hintergrund des unablässig sinkenden Lebensniveaus. Fast alle Interviewten führten an, sie wären mit den wirtschaftlichen Zuständen unzufrieden, manche erwähnten auch Qualitätsmängel in der Bildung und bei der medizinischen Versorgung.

Olga, 42, die zum ersten Mal bei einer Protestaktion dabei war, betonte: «Ich bin mit diesem Leben nicht zufrieden – damit, wie wir heute leben, in welcher Armut wir leben. Ich möchte Alexei Nawalny unterstützen. Er ist der Einzige, der sehr viel für Russland tut.»

Prochor, 44, Händler mit Hochschulabschluss, der zuletzt 1991 bei Protesten dabei war und «all diese dreißig Jahre nicht einmal daran gedacht» hat, auf die Straße zu gehen, erklärte bei der Aktion am 31. Januar, warum er diesmal mitmachte:

«Wegen der Wirtschaftsdaten … wie man in den letzten zehn Jahren sehen kann, zeugen sie von der Unfähigkeit, das Land effizient zu regieren. Ein Beispiel ist die Art und Weise, wie heutzutage Manager für die Verwaltung rekrutiert werden. Der Zusammenbruch der Nationalwährung in den letzten zehn Jahren – meiner Meinung nach ist das ein Fiasko.» 

«Im Großen und Ganzen missfällt es mir an diesem Land, dass wir auf allen Gebieten auf dem Holzweg sind, angefangen mit der Außenpolitik, hier haben wir in den letzten zwanzig Jahren fast alle Länder gegen uns aufgebracht, auch die Nationen, die uns besonders nahestehen. Dazu kommt die Innenpolitik, wir haben katastrophale Zustände in der Wirtschaft, in der Bildung, in der demografischen Entwicklung, in fast allen Bereichen», meinte Artjom, 36, Vermessungsingenieur mit Hochschulabschluss. 

Sie sind die erlernte Hilflosigkeit in Person, sie haben Angst, über solche Themen zu sprechen

In vielen Aussagen spielte die moralische Empörung gegen die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und das Schweigen der Regierenden eine Rolle:

«Ich glaube, es gibt oft solche investigativen Berichte, in den Nachrichten redet man ständig von der Korruption und wir alle sind das schon gewohnt, aber in Wirklichkeit ist es nicht normal», argumentierte Pawel, 27, der zum ersten Mal bei einer Demonstration dabei war.

Außerdem kritisierten die Menschen auf dem Puschkin-Platz die Zensur sowie die fehlende Presse- und Versammlungsfreiheit. Ein junger Mann, der bereits an den Protesten von 2011 teilgenommen hatte, sagte bei der Aktion vom 23. Januar:

«Mich stört es, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird und dass die Menschen grundsätzlich Angst haben, ihre Meinung zu äußern, egal zu welchem Thema, das sieht man überall. Vor allem unter den älteren Menschen – sie sind die erlernte Hilflosigkeit in Person, sie haben Angst, über solche Themen zu sprechen. Mein Onkel zum Beispiel, er denkt sogar, dass er überall abgehört wird, ‹bloß nichts Falsches sagen›. Und ich denke, wenn wir es schaffen, diese Mauer durchzubrechen, wäre es großartig.»

Der Vermessungsingenieur Artjom sprach ebenfalls von der fehlenden Meinungsfreiheit: «Was mich letztendlich am meisten stört ist die Zensur, die Propaganda, all das, was auf dich Tag für Tag psychischen Druck ausübt. Dann erlebt man eine Art Dissonanz: Mit den eigenen Augen sieht man das eine und hört dabei das andere. Ich glaube, dieser Weg führt nirgendwohin, und je weiter wir ihn beschreiten, desto mehr Probleme werden wir später kriegen.»

Wie es bereits üblich geworden ist, gab es nach den Protesten vom 23. Januar in Pro-Kreml-Medien und bei den zentralen Fernsehsendern Spekulationen darüber, dass Minderjährige angeblich in die Proteste hineingezogen würden. Doch entgegen dieser medienwirksamen Überlegungen waren viele der Befragten, die zum ersten Mal demonstrierten, über 18. So erwähnte Roman, 35, einer der Protestierenden: «Früher dachte ich aus irgendeinem Grund, sie würden das auch ohne mich klären. Aber jetzt bin ich überzeugt, dass ich mich einbringen muss.»

Der einzige Minderjährige, den ich am 23. Januar befragen konnte, ein 17-Jähriger, meinte, dass er bereits seit zwei Jahren an Protesten teilnähme, weil er mit den Zuständen in Russland unzufrieden sei: «Ich protestiere gegen das Machtmonopol, gegen die Monopolstellung der Staatsunternehmen, und vor allem gegen die Kriminalität. Die Menschen begehen nur deshalb Verbrechen, weil wir es zulassen.»

Soziale Unzufriedenheit und fehlende Versammlungsfreiheit

Auf diese Weise konnten durch die Aktion vom 23. Januar neue Teilnehmer*innen mobilisiert werden. Viele von ihnen waren Zeug*innen vergangener Proteste, hatten sich aber zuvor aus verschiedenen Gründen nicht selbst beteiligt.

Das bestätigt auch Alexei Sacharow, Dozent an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Wirtschaftshochschule Moskau. Laut Sacharow betrug das durchschnittliche Alter der Protestierenden 31 Jahre, somit seien sie etwas jünger, als bei vorangegangenen Demonstrationen. «Dennoch waren lediglich 10 Prozent der Befragten 18 Jahre alt oder jünger.»

Umfragen durch die Meinungsforschungsinstitute FOM und WZIOM zeigen, dass schon seit drei Jahren etwa 30 Prozent der Befragten angeben, bereit zu sein, an Protestaktionen teilzunehmen. Dieser Wert war während der Proteste 2011–2012 ähnlich hoch, danach sank er zunächst, um 2018 im Zusammenhang mit der Rentenreform wieder anzusteigen.

Laut aktuellen Studien ist die Anzahl von Massenprotesten in Russland letztes Jahr aus objektiven Gründen gesunken: Corona-Beschränkungen lieferten einen Anlass, Veranstaltungsgenehmigungen zu verweigern; gleichzeitig wollten auch viele Menschen aus Angst vor Ansteckung nicht demonstrieren. Doch obwohl es 2020 nicht zu den massiven landesweiten Protesten gekommen ist, die im Zusammenhang mit den Verfassungsänderungen allerseits erwartet wurden, heißt das lange nicht, dass die allgemeine Unzufriedenheit verschwunden wäre. Im Gegenteil, sie hat mit dem sinkenden Lebensniveau und den durch die Pandemie bedingten Einschränkungen zugenommen.

In den letzten Jahren war die soziale Problematik zwar bei nahezu allen Protestaktionen präsent, es fehlt aber an einer stabilen politischen Kraft, die in der Lage wäre, diese Agenda aufzunehmen und voranzutreiben.

Entsprechend nannten die meisten der von mir Befragten zunächst die willkürliche Verhaftung Nawalnys als Hauptgrund für ihre Teilnahme an der Demonstration, auf die Frage, was ihnen in Russland generell nicht gefalle, antworteten sie aber am häufigsten: die Armut und das niedrige Lebensniveau. Hinzu kommt, dass die Menschen zurzeit von Corona-Müdigkeit, Inflation, sinkenden Löhnen und Angst vor Arbeitslosigkeit betroffen sind – all das führt zu einer generellen Unruhe in der Gesellschaft. Außerdem haben viele Belarus und die beharrlichen regionalen Proteste in Chabarowsk als Beispiel vor Augen.

Während die Versammlungsfreiheit immerzu eingeschränkt wird, wird die protestbereite Bevölkerung allmählich immer zorniger.

«Mit unserem Geld, das nicht aus der Staatskasse genommen, sondern dem Volk dienen soll, werden Paläste bezahlt. Und zwar über Offshore- und Strohmannkonten. Dabei wollen wir eine ordentliche medizinische Versorgung haben, gute, angemessene Bildung – wir wollen, dass unsere Kinder zum Studieren nicht ins Ausland gehen, sondern in diesem Land Zugang zu guter Bildung bekommen. Dafür sind die Gelder nötig, die in die Paläste fließen. Das war’s schon», sagte mir am 23. Januar die 20-jährige Inna. 

Ich hätte genug Fragen auch an Nawalny

Bemerkenswert sind auch die Antworten auf die zusätzliche Frage, die ich den Menschen am 31. Januar stellte: Ob sie Nawalny-Anhänger*innen seien? Etwa die Hälfte der 15 Personen, die ich dazu befragen konnte, gaben an, sich nicht als seine Anhänger*innen zu betrachten. Es handelte sich vor allem um Menschen über 25.

Prochor, 44, sagte: «Eigentlich mag ich ihn nicht, er ist toxisch. So war das bis zu den Ereignissen des letzten Monats, als der Kreml selbst ihn ungelenk zu einem echten Helden gemacht hat. Jetzt bin ich bereit, ihn zu unterstützen, vor einem Jahr war das nicht so.»

Artjom, 36: «Ich persönlich hätte genug Fragen auch an Alexei Nawalny, aber ich finde es noch schlimmer, was gerade passiert. Ich habe das Gefühl, dass nur noch Willkür herrscht, und dass man irgendwie seine Position deutlich machen muss».

Wladimir, 43: «Ich bin kein Nawalny-Anhänger, aber im Moment sind wir Weggenossen.»

Die Situation ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit den «Bolotnaja-Protesten», an denen Menschen mit recht unterschiedlichen Interessen beteiligt waren, vereint von einer breiten bürgerlichen Agenda. Doch im Vergleich zu 2011 gibt es heute weniger Freiraum für die freie Meinungsäußerung, weswegen viele Menschen auf der Suche nach einer Plattform sind, um ihrem Unmut über die Regierungspolitik im Allgemeinen Luft zu machen.

Eine meiner zentralen Schlussfolgerungen aus der Umfrage lautet: Die Menschen haben immer weniger Angst vor nicht genehmigten Demonstrationen und halten diese zunehmend für eine gängige Praxis. Sie verstehen zwar, dass sie juristisch gesehen an einer illegalen Veranstaltung teilnehmen, doch für sie überwiegt ihr Recht auf freie Meinungsäußerung:

«Ich weiß, dass sie vor nichts zurückschrecken, aber ich habe keine Angst, denn … ich habe zwar Angst, aber ich habe keine Angst. Ich weiß, was zu befürchten steht, aber ich habe keine Angst, etwas für die Wahrheit zu tun», so Andrei, 28.

«Naja, es ist doch so, wenn es dann zu brutalen Festnahmen kommt, werde ich ein blödes Gefühl haben, wenn ich meine Position nicht gezeigt habe, nicht gekommen bin – denn wenn ich nicht gekommen bin, hatten wahrscheinlich auch viele andere Angst, und dann bin ich also schuld, dass nicht genug Menschen da waren. Und sie [die Polizist*innen] haben deshalb gespürt, dass ihnen alles erlaubt ist», erklärte Oleg, 31, seine Haltung.

Ein solches Verhalten kann als eine der Folgen der restriktiven Politik in Sachen Versammlungsfreiheit betrachtet werden. Heute sind die protestbereiten Menschen die Verbote zu einem solchen Maße gewohnt, dass sie keinen Unterschied mehr zwischen genehmigten und nicht genehmigten Veranstaltungen sehen und in jedem Fall auf die Straßen gehen. Während der beiden Protestaktionen bekam ich mehrmals das Argument zu hören, dass die Bürger*innen gemäß der russischen Verfassung und, global gesehen, gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Recht auf freie Versammlung hätten, selbst wenn dadurch einzelne Gesetze verletzt werden sollten.

Von den Befragten, die angaben, in der Vergangenheit bereits an Protesten teilgenommen zu haben, sagten die meisten, sie hätten 2019 angefangen zu demonstrieren – die meisten dieser Demonstrationen waren ebenfalls nicht genehmigt.

Folglich stellt die massenhafte Teilnahme an nicht genehmigten Protestaktionen trotz der damit verbundenen hohen Risiken gewissermaßen eine neue Realität dar, die durch die routinemäßig verweigerten Genehmigungen zustande gekommen ist.

Auch die Regierungsstrategie, das Zentrum von Moskau zu blockieren und so den Protestierenden den Zugang zum ursprünglichen Treffpunkt, dem Lubjanka-Platz, zu verwehren, scheiterte. Sicher, der Kundgebungsort musste dreimal verlegt werden, was nicht nur den Protestierenden, sondern auch unbeteiligten Moskauer*innen viele Schwierigkeiten bereitete, doch der Protest konnte dadurch nicht verhindert werden. Das zeugt von der Entschlossenheit und Konsequenz der Protestierenden.

Natürlich besteht in der russischen Gesellschaft ein Spektrum an Meinungen. Gegen Ende der Kundgebung vom 23. Januar interviewte ich Oleg, der 50 Jahre alt ist und regelmäßig an Protesten teilnimmt. Oleg trug ein Plakat mit der Parole «Danke, dass ihr gekommen seid». Während des Interviews wurden wir von einer zufälligen Passantin unterbrochen, die wütend schrie: «Danke, dass ihr abhaut!».

Wie immer behauptet die Regierung, dass die Menschen, die in ganz Russland protestierten, die Gesellschaft als Ganzes nicht vertreten und nicht in ihrem Namen sprechen können. Doch Russland ist nun mal ein großes Land, und solche Verallgemeinerungen sind, gelinde gesagt, weit von der Wahrheit entfernt. Die Protestierenden sind in erster Linie auf die Straße gegangen, um ihrer Stimme und dem Recht auf alternative Meinungen Gehör zu verschaffen. Sie sind jung, zornig, sichtbar, und wollen, dass die Regierenden eine Reaktion zeigen.


* Die Namen wurden geändert, um die Anonymität der Befragten zu schützen.

[Übersetzung von Vera Kurlenina und Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collective.]