Nachricht | Frankfurter Häuserkampf 1970-1974, Frankfurt/Main 2020

Weit mehr als ein Ausstellungskatalog

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Autor

Gottfried Oy,

Zweisprachiges Plakat zu einer Mieterversammlung in Frankfurt/Bockenheim am 15. April 1972, Archiv der Revolte, Frankfurt/Main

Im September 1970 besetzten migrantische Familien und Studierende erstmalig in der Geschichte der Bundesreplik ein Haus in Frankfurt am Main, um darin zu wohnen und erklärten diese Hausbesetzung zur politischen Aktion. Sie wurde zum Auslöser für eine Welle von Haubesetzungen und Mietstreiks nicht nur im Stadtteil Westend, die bis 1974 andauerte und im sogenannten Frankfurter Häuserkampf kulminierte. Das Besondere dabei: Arbeitsmigrant*innen, Studierende und politische Gruppierungen aus der radikalen Linken, nicht nur der Bundesrepublik, sondern auch aus den Herkunftsländern der Arbeitsmigrant*innen fanden in diesem Kampfzyklus – durchaus konfliktbeladen – zusammen. Die internationale Solidarität blieb nicht abstrakt, sondern Kader von Lotta Continua, Unione Inquilini, dem Revolutionären Kampf und anderen linksradikalen Organisationen wohnten genauso wie Arbeitsmigrant*innen und Studierende auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum in den besetzten Häusern und gestalteten für einige Jahre einen gemeinsamen Alltag. Zahlreiche Auseinandersetzungen der Zeit spiegeln sich im Häuserkampf: Frauengruppen erobern sich eigene Räume, Nonkonformist*innen auf der Suche nach alternativen Lebensformen entdecken die Freiräume in den besetzen Häusern, K-Gruppen wollen Teil der Bewegung sein und selbst Jusos versuchen auf den immobilienmarktfreundlichen Kurs der Sozialdemokratie einzuwirken.

50 Jahre danach konnte die erste Ausstellung über den Frankfurter Häuserkampf eröffnet werden. Im September und Oktober 2020 wurde im Studierendenhaus an der Frankfurter Universität die Schau «Dieses Haus ist besetzt! Frankfurter Häuserkampf 1970-1974», zusammengestellt von einem Team des Frankfurter Archivs der Revolte, gezeigt. Das Archiv der Revolteist ein 2019 gegründetes Bewegungsarchiv, das sich neben der Sicherung von Materialien der radikalen Linken wie der Erinnerungen der Akteur*innen die regionalgeschichtliche Aufarbeitung Frankfurter Bewegungsgeschichte zum Ziel gesetzt hat. Die Ausstellung hat die Hintergründe und Verlaufsformen des bundesweit ersten Zyklus von Hausbesetzungen sowie dessen Verbindungen zu heutigen Kämpfen um Wohnraum zum Gegenstand und stieß auf reges Interesse.

Der nun vorliegende Ausstellungskatalog dokumentiert nicht nur die wandzeitungsartige Zeitreise durch den Gang der urbanen Kämpfe der frühen 1970er Jahre mit Texten, zeitgenössischen Fotografien, Abbildungen von Flugblättern, Plakaten und anderen Dokumenten aus der Ausstellung. Zahlreiche Fotografien von Jens Gerber vermitteln einen Eindruck von Aufbau und Gestaltung der Präsentation, Michaela Filla-Raquin erläutert zudem deren künstlerischen Aspekte.

Interessant machen die Publikation darüber hinaus die weiterführenden Beiträge: Rolf Engelke gibt einen ereignisgeschichtlichen Überblick über die Jahre 1970 bis 1974. Es wird deutlich, dass in Frankfurt am Main sowohl die städtebauliche Entwicklung zur «Global City» weit früher schon als anderswo in der Bundesrepublik unter der Ägide der Sozialdemokratie vorangetrieben wurde. Zudem steht der Häuserkampf für einen zentralen Wendepunkt in der Entwicklung der bundesdeutschen radikalen Linken nach 1968 hin zu Spontis und Alternativbewegung – exemplarisch verdeutlicht am Revolutionären Kampf (RK), einer der zentralen Akteure der undogmatischen Linken.

Freia Anders sorgt mit ihrer kommentieren Bibliografie zur historiografischen Auseinandersetzung mit Hausbesetzungen für die internationale Einbindung sowie die Kontextualisierung mit aktuellen Auseinandersetzungen. Schließlich macht der Tagungsband auch eine Analyse der Häuserkampfs von Richard Herding, einem der zentralen Akteure des in den 1970er Jahren in Frankfurt angesiedelten «Informationsdienstes zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten», dem «ID», aus dem Jahr 2000 wieder zugänglich.

Somit ist der Ausstellungskatalog weit mehr als nur ein Katalog und mit seinen verschiedenen Beiträgen ein wichtiger Baustein in der Erforschung der noch lange nicht erschöpfend behandelten 1970er Jahre.

Frankfurter Archiv der Revolte e.V., Offenes Haus der Kulturen e.V., Institut für Selbstorganisation e.V. (Hg.): Dieses Haus ist besetzt! Frankfurter Häuserkampf 1970-1974, Selbstverlag Institut für Selbstorganisation e.V., Frankfurt am Main 2020, 122 Seiten, ISBN 978-3-9821407-1-1, Großformat mit zahlreichen farbigen Abbildungen, 16 EUR