Analyse | Parteien / Wahlanalysen - Andenregion Die Rechte abgestraft, die Linke zerstritten

Am 11. April wählt Ecuador einen neuen Präsidenten. Die Wahlen haben eine polemische Debatte innerhalb der lateinamerikanischen und internationalen Linken ausgelöst.

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Wahllokal in Quito beim Auszählen der ersten Runde.
Ecuador mischt die politischen Karten neu: Wahllokal in Quito beim Auszählen der ersten Runde. (Foto: Galo Paguay)

Jetzt also doch: Am 11. April tritt in Ecuador der Banker Guillermo Lasso in der Stichwahl um das Präsidentenamt gegen den Ökonomen Andrés Arauz an. Arauz ist der Kandidat des Correismus, benannt nach dem langjährigen Präsidenten Rafael Correa. Dieser regierte das Land von 2007 bis 2017. Er gehörte zu der Gruppe der linksgerichteten Präsidenten in Lateinamerika, die wegen der Krise der neoliberalen Politik der 1990er Jahre und getragen von starken Bewegungen gegen die traditionellen Eliten an die Regierung kamen.[1] Correa, der seine Getreuen inzwischen aus seinem belgischen Exil anführt, versteht sich nach wie vor als Vertreter des «Sozialismus des 21. Jahrhunderts». Der von ihm ausgewählte Arauz war vor den Wahlen in Ecuador weitgehend unbekannt. Gewählt und beworben wurde er als Kandidat Correas: Auf den Wahlplakaten war er mit dem Caudillo zu sehen[2]. Sein Versprechen: Zurück zu den goldenen Jahren unter Correa, den er zu seinem Berater machen will, wenn er denn Präsident wird. Der 36-jährige Arauz war in dessen Regierungszeit Wissenschaftsminister und später Generaldirektor der Zentralbank.

Lasso, sein Gegenspieler in der Stichwahl, ist dagegen ein alter Bekannter für die Ecuadorianer*innen. Der ehemalige Finanzminister und wichtige Anteilseigner der drittgrößten Bank des Landes tritt bereits zum dritten Mal an: 2013 gegen den damaligen Präsidenten Correa, 2017 dann gegen den Kandidaten von dessen damaliger Partei Alianza País, Lenín Moreno. Und jetzt also gegen den nächsten Vertreter des Correismus.

Correa und seine Kandidaten (von links nach rechts: Rafael Correa, der Präsidentschaftskandidat Andrés Arauz und sein Vize Carlos Rabascall) gegen Guillermo Lasso (Plakat rechts) in der Wahlwerbung in Ecuador.
Das dritte Duell: Correa und seine Kandidaten (von links nach rechts: Rafael Correa, der Präsidentschaftskandidat Andrés Arauz und sein Vize Carlos Rabascall) gegen Guillermo Lasso (Plakat rechts) in der Wahlwerbung in Ecuador. (Fotos: Ferdinand Muggenthaler)

Aus der Ferne betrachtet scheinen die Rollen klar verteilt: Links gegen rechts, Progressive gegen Neoliberale. Tatsächlich verschleiert diese Sichtweise aber mehr als sie erhellt. In dem einfachen Schema lässt sich weder verstehen, was in Ecuador passiert, noch warum nach der ersten Wahlrunde in dem kleinen Land ein erbitterter Streit zwischen verschieden linken Strömungen aufflammte.

Die erste Runde der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit 15 Kandidaten und einer Kandidatin war alles andere als ein übersichtlicher Zweikampf. Sie hat die politischen Verhältnisse in Ecuador kräftig durcheinandergewirbelt. Arauz erreichte zwar wie erwartet bei der ersten Runde am 7. Februar den ersten Platz. Allerdings nur mit 32 Prozent – sein Lager hatte auf einen Sieg in der ersten Runde gehofft, der in Ecuador ab 40 Prozent möglich ist. Die traditionelle Rechte wurde abgestraft. Lasso schaffte es nur mit hauchdünnem Vorsprung und 19,74 Prozent in die Stichwahl, trotz seines Bündnisses mit der wichtigsten Konkurrenz auf der Rechten, der Christlich Sozialen Partei (Partido Social Cristiano). Im Parlament kommen beide Parteien zusammen nur noch auf knapp 22 Prozent der Sitze, ein historisch schlechtes Ergebnis. 2017 waren es noch fast 36 Prozent.

Nie zuvor erreichte ein indigener Kandidat so viele Stimmen: Werbung für Pachakutik und ihren Kandidaten Yaku Pérez
Nie zuvor erreichte ein indigener Kandidat so viele Stimmen: Werbung für Pachakutik und ihren Kandidaten Yaku Pérez.

Die größte Überraschung des Wahlgangs war der Erfolg von Pachakutik und ihrem Kandidaten Yaku Pérez, der sich als ökologischen Linken bezeichnet. Vor allem in den Provinzen mit hohem Anteil an indigener Bevölkerung erreichte Pérez den ersten Platz, landesweit 19,39 Prozent. Seine Partei gilt als parteipolitischer Arm des größten Zusammenschlusses der Indigenen in Ecuador, der CONAIE (La Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador), aber auch Mestiz*innen zählen zu ihren Mitgliedern und andere soziale Bewegungen waren an ihrer Gründung beteiligt.

Während der Auszählung der Stimmen lag Pérez lange an zweiter Stelle, konnte also mit einem Platz in der Stichwahl rechnen. Im offiziellen Endergebnis überflügelte ihn dann Lasso mit einem Vorsprung von gut 32.000 Stimmen. Pachakutik glaubt, dass bei der Auszählung manipuliert wurde, um den Einzug von Pérez in die Stichwahl zu verhindern. Die Partei reichte über 27.000 Akten mit Unstimmigkeiten ein und forderte eine teilweise Neuauszählung. Von diesen Akten ließ der Wahlrat aber nur 31 zur Überprüfung zu, die Neuauszählung der zugehörigen Stimmen verringerte den Abstand von Pérez zu Lasso tatsächlich um 485 Stimmen – viel für 31 Wahltische, viel zu wenig um den Abstand zu Lasso aufzuholen. Ob eine weitere Nachzählung die gleiche Tendenz gezeigt und Pérez in die Stichwahl gebracht hätte? Ob es Wahlbetrug gab oder nur Schlamperei bei einem von der Pandemie erschwerten Wahlprozess? Wir werden es wohl nie erfahren. Den Antrag auf eine weitere Nachzählung lehnte das Wahlgericht am 14. März ab.  

Eine weitere Überraschung war das gute Abschneiden der sozialdemokratischen Traditionspartei Izquierda Democrática (Demokratische Linke) mit ihrem Kandidaten Xavier Hervas. Allgemein wird das gute Abschneiden von Hervas und Pérez als Wunsch interpretiert, aus der Polarisierung Correa versus Anti-Correa, die im letzten Jahrzehnt die Politik Ecuadors bestimmte, auszubrechen.

Angriffe auf Pérez

Arauz feierte nach den Wahlen in einem Tweet die Niederlage der Rechten: «Progressismus + Plurinationale Einheit + Sozialdemokratie = 70 %. Am 7. Februar hat das ecuadorianische Volk schon gewonnen.»[3]  Dagegen starteten einige, vor allem internationale, Unterstützer*innen des Correismus persönliche Angriffe auf Pérez. Ein herausstechendes Beispiel war ein Interview des Chefs der Parteischule der spanischen Partei Podemos, Juan Carlos Monedero, der als Wahlbeobachter für die «progressive Internationale»[4] nach Ecuador gereist war. Im Fernsehsender TeleSur behauptete er, Pérez führe die Wähler*innen in die Irre, weil er seinen Vornamen gewechselt hat. Pérez hat tatsächlich seinen spanischen Vornamen «Carlos» abgelegt und trägt seit 2017 offiziell das Kichwa-Wort «Yaku»[5] als Vornamen. Solche Namenswechsel sind seit den 1990ern mit dem steigenden Selbstbewusstsein von Indigenen in Ecuador eine verbreitete Praxis. Noch absurder war Monederos Vorwurf, Pérez Anhänger*innen seien keine «echten» Indigenen: Pérez war von 2013 bis 2019 Präsident des größten Indigenenverbands im ecuadorianischen Hochland, der ECUARUNARI (Confederación de Pueblos de la Nacionalidad Kichwa). Auch die Wahlergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: Viele Indigene sahen in ihm einen Vertreter ihrer Interessen. Doch der aus der ehemaligen Kolonialmacht Spanien angereiste Monedero glaubte, es besser zu wissen.

Die Episode könnte als Realsatire auf fortbestehende koloniale Arroganz stehenbleiben, wenn Monederos Äußerungen nicht Teil einer internationalen Schmutzkampagne wären, die vor allem die Person Yaku Pérez diskreditieren will, sich aber kaum mit seinem politischen Programm und den Gründen für seinen Erfolg auseinandersetzt. So wird beispielsweise insinuiert, er sei von den USA gekauft oder vom Machtwillen seiner brasilianischen Partnerin Manuela Picq getrieben.

Bereits kurz vor der Wahl empörte sich Ex-Präsident Correa über Pérez, weil dieser die Legalisierung von Abtreibung mit Fristenlösung befürwortete hatte. Da könnten sich dann Frauen, «die frenetischen Sex» hatten, nach drei bis vier Monaten das Kind wegmachen lassen, so Correa. Das sei die Forderung nach Legalisierung von «Abtreibung wegen Hedonismus», anstatt nur im Fall einer Vergewaltigung. Unerwähnt ließ Correa, dass er selbst sogar die Legalisierung der Abtreibung bei Vergewaltigung während seiner Amtszeit verhindert hatte.

Zu diesem Teil der Angriffe auf Pérez schweigen internationale Unterstützer*innen von Arauz, wie maßgebliche Autor*innen der Zeitschrift Jacobin – «a leading voice of the American left», lieber. Schließlich hatten sie selbst noch vor kurzem den Erfolg der feministischen Bewegung in Argentinien gefeiert, die dort die Fristenlösung durchgesetzt hat. Ansonsten beteiligten sie sich aber an der Kampagne gegen den «Neoliberalen im Poncho» wie sie Pérez nannten. Als Antwort riefen Intellektuelle und Akademiker*innen aus den USA, Lateinamerika und Europa in einem offenen Brief an die Herausgeber*innen von Jacobin und der Zeitschrift Monthly Review dazu auf, die «frauenfeindlichen und rassistischen Angriffe auf eine entstehende indigene und ökofeministische Linke in Lateinamerika» zu stoppen.

Jacobin und Co haben Arauz nicht unbedingt einen Gefallen getan. Für einen Sieg in der Stichwahl muss er Wähler*innen von Pérez für sich gewinnen. Sollte er Präsident werden, könnten Pachakutik und Izquierda Democrática seine natürlichen Bündnispartner sein, um Mehrheiten im Parlament zu organisieren.

Feminismus und Ökologie in der zweiten Runde

Tatsächlich hat Arauz damit begonnen, seine Wahlkampfrhetorik zu ändern. Zum 8. März kommentierte er auf Tiktok frauenfeindliche Auslassungen von Lasso und kritisierte ihn – zu Recht – als Macho. (Sofort kursierte das gleiche Video, aber die Aussagen von Lasso ersetzt durch ähnliche Aussagen von Correa. Es funktioniert genauso.) In sein Wahlprogramm nahm er die Einrichtung von Frauenhäusern auf sowie die Senkung der Mehrwertsteuer auf Binden und Tampons auf null Prozent.

Selbst Lasso sah sich gezwungen, zum 8. März sein Image als erzkonservativer Katholik abzuschwächen. Mit seiner Frau am Wohnzimmertisch klärte er in einer Videobotschaft darüber auf, dass es sich nicht gehöre, am Frauentag Blumen zu verschenken. Der 8. März sei dem «unermüdlichen Kampf der Frauen für Gleichberechtigung und gegen Gewalt» gewidmet. Auch ökologische Themen hat Lasso auf einmal im Programm. So haben die überraschenden Erfolge von Pérez und Hervas dazu geführt, dass Ecuador zumindest rhetorisch eine kleine Bewegung hin zu einer linken, feministischen und ökologischen Agenda erlebt.

Wirtschaftskrise

Das überragende Thema ist und bleibt aber für die meisten Wähler*innen die Frage: Wie kommt Ecuador aus der schweren Wirtschaftskrise? Selbst die gesundheitspolitische Dimension der Pandemie spielt dagegen eine geringe Rolle. Und das, obwohl Ecuador so schwer getroffen ist wie kaum ein anderes Land der Welt.[6]

Der zwischenzeitliche Lockdown in Ecuador und der Einbruch der Weltwirtschaft hat die bestehende Krise verschärft und noch mehr Menschen in die Armut gestürzt. Auch deshalb sehnten sich viele nach den stabilen Verhältnissen unter Correa zurück und wählten Arauz. Die steigenden Rohstoffpreise und die Sozialpolitik unter Correa verschafften damals immer mehr Ecuadorianer*innen eine sozialversicherte Beschäftigung. 2014 erreichte der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung in einem «angemessenen Arbeitsverhältnis» einen Spitzenwert von 49,3 Prozent. Als angemessen zählt die Statistikbehörde eine Vollzeitanstellung mit Mindestlohn – im Moment 400 Dollar im Monat – oder mehr. Ab 2015 ging es wieder bergab: Im letzten Regierungsjahr Correas, 2016, waren es 41 Prozent, 2019 noch 38 Prozent und laut der jüngsten Statistik vom Januar 2021 nur noch 34 Prozent mit einer angemessenen Beschäftigung.  

Die ersten Regierungsjahre Rafael Correas brachten für die meisten Ecuadorianer*innen sichtbare Errungenschaften (Bauprojekte) und spürbare Vorteile (sozialversicherte Jobs, Stipendien und Sozialprogramme). Der Boom der Rohstoffpreise half, das alles zu finanzieren. Mit einem Schuldenaudit 2008, in dem ein großer Teil der Altschulden für illegal erklärt wurde, verschaffte sich die Regierung zusätzlichen Spielraum. Die Schulden stiegen aber bald wieder und ab 2015 drehte sich die Lage für alle sichtbar, vor allem wegen des fallenden Ölpreises. Die Öleinnahmen sind eine der wichtigsten Einnahmequellen für den Staatshaushalt. An dieser Struktur hatte sich über die Jahre nichts geändert. Und so mussten auch Sozialausgaben gekürzt werden und ab 2015, also noch unter der Regierung Correa, gab Ecuador wieder mehr für den Schuldendienst aus als für Gesundheit und Bildung zusammen. (Siehe Grafik.)

An der Abwärtstendenz konnte auch die Nachfolgeregierung von Lenín Moreno nichts ändern. Der bei der Wahl 2017 noch von Correa inthronisierte Moreno wandte sich schnell von seinem ehemaligen Parteifreund ab und beschuldigte Correa, dessen Vizepräsident er sieben Jahre gewesen war, der Korruption. Correa wiederrum beschimpfte Moreno als Verräter. Nach einem Jahr des Schlingerkurses und hohen Popularitätswerten, schloss Moreno ein Bündnis mit der Rechten im Parlament und verfolgte deren Rezepte: Um den Staatshaushalt zu sanieren, ergriff die Regierung Moreno Sparmaßnahmen, die die Armut noch weiter ansteigen ließen. Um nicht in weitere Zahlungsschwierigkeiten zu kommen, nahm sie 2019 einen IWF-Kredit auf und verpflichtete sich zu weiteren Kürzungen im Staatshaushalt. Die in diesem Zusammenhang im Oktober 2019 verkündete Streichung von Treibstoffsubventionen lösten einen von der CONAIE angeführten Aufstand aus. Präsident Moreno verhängte den Ausnahmezustand, schickte die Polizei und das Militär, um die Proteste zu unterdrücken ­– dabei starben acht Menschen[7] –, lenkte aber schließlich in öffentlichen Verhandlungen mit einer Delegation von Indigenenverbänden vorläufig ein. Er nahm das Dekret zurück, das zu einem sprunghaften Anstieg der Diesel- und Benzinpreise geführt hatte.

Während der Pandemie verhandelte seine Regierung einen weiteren IWF-Kredit, verhinderte damit zwar die Zahlungsunfähigkeit und erreichte einen Schuldenschnitt, setze aber weitere Sparmaßnahmen um und höhlte die Arbeitsrechte aus, mit der Begründung, so Arbeitsplätze während der Pandemie zu erhalten. Zusätzlich gebeutelt von Korruptionsskandalen und einem erratischen Management der Anti-Covid-Maßnahmen, sanken Morenos anfänglich guten Popularitätswerte rapide auf einstellige Werte. Für eine Wiederwahl trat er nicht an.

Angesichts dieser tiefen wirtschaftlichen Krise, bemühen sich nun beide Kandidaten für das Präsidentenamt, Wirtschaftskompetenz auszustrahlen. Lasso verspricht, Jobs durch Kredite und Kurse für Unternehmensgründer*innen zu schaffen. Wohl auch, um sein neoliberales Image abzumildern, kündigt er außerdem an, den Mindestlohn von 400 auf 500 Dollar im Monat anzuheben. Arauz verspricht, 1000 Dollar an eine Million Familien auszuzahlen, um so den Konsum und damit die Wirtschaft anzukurbeln. Dazu will er Rücklagen der Zentralbank verwenden. Außerdem kündigte er an, sich nicht an das Abkommen mit dem IWF zu halten. Aber er reiste zu Gesprächen mit dem Währungsfonds nach Washington, wohl um auszuloten, welchen Spielraum es für Neuverhandlungen der Kreditbedingungen gibt.

Pérez betonte in seinem Wirtschaftsprogramm die Unterstützung für kleinbäuerliche Produktion und wollte verbilligte Kredite zum Kauf von Land für Familienbetriebe auflegen. In seinem Wahlprogramm forderte er einen erneuten Schuldenaudit. Seine wirtschaftspolitischen Äußerungen im Wahlkampf folgten allerdings nicht immer einer klaren Linie. So kündigte er in einem Tweet an, wie Lasso die Devisenausfuhrsteuer abschaffen zu wollen, um ausländische Investitionen anzulocken. Das stieß bei vielen seiner Parteifreund*innen auf Widerspruch und für seine linken Gegner*innen gilt es als Beleg für seine neoliberale Gesinnung.

Pérez‘ prominentester Programmpunkt war und ist aber seine Haltung zum Bergbau: Während Lasso und Arauz auf die Ausweitung des Bergbaus und der Ölproduktion setzen, wollte er – im Falle seiner Wahl – mittels Volksbefragung den Bergbau in allen Wassereinzugsgebieten in Ecuador verbieten lassen. Vorbild dafür ist ein von ihm unterstütztes Volksbegehren in Cuenca, der Hauptstadt seiner Heimatprovinz. Dort stimmten über 80 Prozent für das Verbot von Bergbau in den Quellgebieten von fünf Flüssen, die auch die Stadt mit Wasser versorgen. Das Thema hat große Bedeutung für Ecuador, das bisher kaum Bergbau in großem Maßstab betreibt, aber bereits in vielen Gebieten Lizenzen an internationale Unternehmen vergeben hat. 

Die Correist*innen verspotten solche anti-extraktiven Forderungen gern als naiv. Und vielleicht haben Unterstützer*innen von Arauz recht, wenn sie an der Wirtschaftskompetenz von Pérez zweifeln. Er war lediglich Präfekt von Azuay. Arauz bringt da etwas mehr Erfahrung mit, um kurzfristig die ecuadorianische Wirtschaft zu stabilisieren. Nicht wenig in diesen Zeiten, und pikanterweise könnte ihm dabei der gerade wieder steigende Ölpreis helfen, auch wenn ein Rohstoffboom wie in den ersten Correa-Jahren unwahrscheinlich ist.

Aber ist das genug, um in Arauz einen linken Hoffnungsträger zu sehen? Müssen kurzfriste Maßnahmen im Vordergrund stehen und der Weg aus der Abhängigkeit vom Rohstoffexport ein weiteres Mal verschoben werden? Kann und sollte sich Ecuador angesichts der fortschreitenden Klimakrise darauf zurückziehen, dass diese von den Industrieländern produziert ist, und selbst weiter auf Öl oder großflächigen Tagebau setzen, in einem der Länder mit der größten Biodiversität der Welt? Welche Weichen kann eine ecuadorianische Regierung Richtung sozial-ökologischem Umbau stellen ohne internationale Unterstützung? Statt solche Fragen zu diskutieren, beherrschen Polemik und Unterstellungen die linke Debatte um Ecuador.

Korruption oder Lawfare?

Es ist unmöglich, die Schärfe des Konflikts zwischen Correismus und großen Teilen der indigenen Bewegung, Feminist*innen und Öko-Aktivist*innen in Ecuador ohne seine Vorgeschichte zu verstehen, die ehemalige Verbündete zu erbitterten Gegner*innen machte. Die ecuadorianische Sozialwissenschaftlerin Melissa Moreano spricht von einem notwendigen Widerspruch zwischen einer «Linken im Widerstand» und einer «Linken an der Regierung», den es zu überbrücken gelte. Ein schwieriges Unterfangen angesichts dieser Geschichte einer toxischen Mischung aus Realpolitik, Personalismus, Korruption, Geopolitik und Machttaktik, in der die «Linke an der Regierung» am längeren Hebel saß.

Viele linke Kritiker*innen von Correa werfen seiner Regierung Korruption und politischen Missbrauch der Justiz vor. Die internationalen Anhänger*innen von Correa bemühen dagegen gern den Begriff der «lawfare», um zu erklären, dass alle Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Regierung politisch motiviert seien. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren unter der Regierung Moreno eine fieberhafte, politisch motivierte Suche von Teilen der Justiz nach den Beweisen für die Korruption in den Correa-Jahren. Trotzdem geht es an der Realität vorbei, die Correist*innen vor allem als Opfer von lawfare darzustellen. Die Regierungen unter Correa selbst waren dafür berüchtigt, die Justiz für politische Zwecke zu missbrauchen, unter anderem, um Proteste der Indigenenbewegung etwa gegen Bergbauprojekte als Terrorismus abzustempeln. Vor allem aber sind nicht alle Korruptionsvorwürfe an den Haaren herbeigezogen. In einigen Fällen gibt es starke Beweise für Korruption, wie im Fall des Korruptionsnetzwerks des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht, dessen Aufdeckung linke wie rechte Politiker*innen in ganz Lateinamerika zu Fall gebracht hat.

Korruption ist auf dem ganzen Kontinent eine Realität und der Kampf gegen sie ein Wahlkampfschlager. Korrupt sind immer die anderen. Tatsächlich ist es fraglich, ob sich das Land in naher Zukunft überhaupt ohne die Unterstützung korrupter Netzwerke regieren lässt. Viele Ecuadorianer*innen gehen jedenfalls davon aus, dass jeder Politiker und jede Politikerin sich bereichert. Auch viele der Wähler*innen von Arauz sehen die Sache eher pragmatisch: «Robó, pero hizo», sagen sie von Correa. Sprich: auch er hat in die eigene Tasche gewirtschaftet, aber wenigstens etwas getan.

Unterschiedliche Entwicklungsvorstellungen

Tatsächlich hat seine Regierung etwas getan: Es wurden Straßen und Krankenhäuser gebaut, Sozialprogramme aufgelegt und auch die Verwaltung funktionierte besser. Selbst seine Gegner*innen geben zu, dass es auf einmal möglich war, einen Personalausweis ohne langwierige bürokratische Prozeduren oder Bestechung zu erhalten. Ein grundsätzlicher Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft, wie ihn sich ein Teil seiner Anhänger*innen erhofft hatte, fand aber nicht statt. Die Hoffnungen auf ein neues Gesellschaftmodell, die weltweit mit der Verfassung von 2008 verbunden wurden – sie enthält die Rechte der Natur, schreibt den plurinationalen Charakter Ecuadors fest, erhebt das indigene Prinzip des Sumak Kawsay (in etwa: gutes Leben) zum Staatsziel – verblasste schnell.

Der Weg zur Verfassung von 2008 hatte für einen kurzen Moment Strömungen mit sehr unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen zusammengebracht. Auch Pachakutik unterstützte damals Correa. Die Wege trennten sich aber bald wieder. Diese verschiedenen Ideen der angestrebten Entwicklung lassen sich auch jetzt hinter der Polemik als ein wichtiger politischer Kern des Konflikts erkennen – des Konflikts zwischen denjenigen, die ihre Hoffnungen auf Arauz und insgesamt auf eine Rückkehr der progressiven Regierungen setzen, und denjenigen, die im Erfolg von Pachakutik und Pérez die Chance sehen, eine ökologische und feministische Linke in Lateinamerika aufzubauen.

Karikaturhaft werden die beiden Entwicklungsfantasien eingefangen in zwei Tiktok-Videos von Arauz und Pérez: Während sich Pérez filmen lässt, wie er mit seiner Mutter eine Kuh melkt, jongliert Arauz wie im Werbefilm eines Telefonanbieters mit leuchtenden Icons und verspricht Internet für alle, bevor er in einer beschleunigten Welt aus Leuchtziffern verschwindet. Hier eine agrarökologische, kleinbäuerliche Idylle, dort der Sprung in eine Hochtechnologiegesellschaft.

Beide Modelle sind in ihrer Reinheit weder mehrheitsfähig, noch realistisch. Wer auch immer im April in Ecuador zum Präsidenten gewählt wird, er wird nicht die Macht haben, einen fundamentalen Wandel anzustoßen. Auch deshalb, weil es – anders als zu Beginn der «pink tide», der progressiven Regierungen in Lateinamerika,– keine breite gesellschaftliche Mobilisierung gibt, die einen Regierungswechsel begleiten würde. Die CONAIE ist zwar eine in großen Teilen des Landes verankerte Organisation, sie hat aber seit dem Aufstand 2019 an Schwung verloren und droht, sich in inneren Auseinandersetzungen aufzureiben. Dagegen dringen die Widersprüche innerhalb des Correismus kaum nach außen, was nicht nur an Correas autoritärem Führungsstil liegt, sondern auch daran, dass er nie daran interessiert war, eine demokratische Massenorganisation aufzubauen. Übrigens einer der wenigen Punkte, in dem Arauz vorsichtige Selbstkritik erkennen lässt: Es sei ein Fehler gewesen, während der Regierungszeit keine sozial verankerte Parteistruktur aufzubauen. Und so ist die Revolución Ciudadana (Bürgerrevolution), wie sich der Correismus auch nennt, heute eine Wahlkampfmaschine aus einigen hundert Kadern, aber keine soziale Organisation.

Ein linkes Bündnis?

Könnten sich beide Lager angesichts der neuen Machtverhältnisse von den Karikaturen verabschieden und sich als Teil einer pluralen Linken sehen? Schließlich bleibt das klare Ergebnis der ersten Wahlrunde, dass die Ecuadorianer*innen nicht auf klassische neoliberale Rezepte vertrauen. Da scheint es naheliegend, dass die indigene Bewegung der CONAIE und ihr Kandidat in der zweiten Runde Arauz unterstützen. Schließlich haben sie die Proteste im Herbst 2019 gegen die Sparmaßnahmen und Subventionskürzungen im Rahmen eines IWF-Kredits angeführt. Aber die Wunden, die der Correismus an der Macht geschlagen hat, sind tief. Außerdem sind CONAIE und Pachakutik überzeugt vom Wahlbetrug und rufen daher dazu auf, ungültig zu wählen, um jeden möglichen Präsidenten zu delegitimieren. Auch die Izquierda Democrática hat keine Wahlempfehlung abgegeben. So bleibt der Ausgang der Stichwahl ungewiss, obwohl Arauz mit Vorsprung ins Rennen geht. Die jüngsten Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin.

Um die Niederlage der traditionellen Rechten in der ersten Wahlrunde in einen Sieg für eine linke, sozial-ökologische Perspektive umzumünzen, müssten sich die Linken hier aus der Personalisierung Correa versus Pérez lösen. Dazu müsste der Streit um eine zukünftige Ausrichtung der Linken in Ecuador und darüber hinaus nicht als Schlammschlacht geführt werden, nicht als Frage von Verrat und Gefolgschaft. Dazu müsste sich Arauz aus dem Schatten seines Übervaters lösen und seine Genoss*innen der Revolución Ciudadana zu ernsthafter Selbstkritik bereit sein. Danach sieht es bisher nicht aus.


[1] Weitere Vertreter dieser auch «pink tide» genannten Reihe von linksgerichteten Präsidenten sind Hugo Chavez in Venezuela, Lula da Silva in Brasilien, Néstor Kirchner in Argentinien. Später kamen mit Cristina Kirchner und Dilma Rousseff auch Präsidentinnen dazu.

[2] Kurz vor den Wahlen verbot der Wahlrat der Provinz Pichincha, mit dem Foto oder der Stimme von Correa zu werben. Begründung: Damit übe Correa seine politischen Rechte aus, was ihm aber mit der Verurteilung wegen Korruption verboten sei. Das Verbot änderte de facto nichts an der Kampagne von Arauz.

[3] Gemeint sind mit «Progressismus» der Zusammenschluss UNES, unter der der Correismus angetreten ist, mit «Plurinationaler Einheit» Pachakutik und mit «Sozialdemokratie» die Izquierda Democrática.

[4] Prominente Mitglieder im Beirat sind Noam Chomsky und Yanis Varoufakis, aber eben auch Rafael Correa und Andrés Arauz.

[5] Yaku heißt Wasser auf Kichwa, der größten indigenen Sprache in Ecuadors, und ist ein beliebter Vorname.

[6] 2020 starben hier 52 Prozent mehr Menschen als in den Vorjahren. Zum Vergleich: In Deutschland sind es drei, in Italien zehn, in den USA 14, Südafrika 19. Nur zwei Länder in Lateinamerika, Bolivien (56 Prozent) und Peru (73 Prozent), verzeichneten höhere Werte.

[7] Nach Angaben des Menschenrechtsbeauftragten, das Innenministerium spricht nur von 6 Toten. Andere Quellen von 11.