Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Iran Es brodelt weiter

Protestbewegungen im Iran

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Hamid Mohseni,

Proteste von Rentner*innen im Iran: «Armutsgrenze: 9 Millionen Toman. Unsere Rente: 3,2 Millionen Toman» Iranfocus.com

Die letzte große Aufstandswelle im Iran liegt nun gut eineinhalb Jahre zurück. Wie sämtliche Protestwellen der letzten Jahre wurde sie brutal niedergeschlagen. Doch im Land der Mullahs stehen soziale Proteste an der Tagesordnung – trotz Verboten und Repression.

Das Jahr neigt sich dem iranischen Kalender nach dem Ende zu. Die traditionellen Feierlichkeiten rund um das Neujahresfest bestimmen derzeit den iranischen Alltag. Doch nicht nur die Corona-Pandemie dämpft die Feierlaune: die diesjährige Inflationsrate von 30-40 Prozent und die miserable wirtschaftliche Lage im Land drückt den Iraner*innen landesweit aufs Gemüt. Vertreter*innen der Islamischen Republik waschen ihre Hände – wie immer – in Unschuld und zeigen auf andere: verantwortlich für diese Krise sei neben der Pandemie die Isolationspolitik des Westens, die mit ihren Sanktionen in Wirklichkeit nur das iranische Volk aushungern wolle. Daher sei es jetzt umso wichtiger, als Nation zusammenzustehen.

Die Iraner*innen kennen diese Masche bestens; seit ihrem 40-jährigen Bestehen beschwört die Islamische Republik die Feinde im Westen, um die eigene desaströse Politik zu rechtfertigen. Es wäre töricht anzunehmen, dass Sanktionen überhaupt keine Auswirkungen auf die iranische Ökonomie und die schwierige Lebenssituation im Land hätten. Doch im Vergleich zu den hausgemachten strukturellen Problemen des Regimes – massive Korruption, Vetternwirtschaft, Investitionen für imperialistische Stellvertreterkriege, brutale neoliberale Sparmaßnahmen – ist der tatsächliche Anteil der Sanktionen an der desaströsen Lage begrenzt, insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass die herrschenden Ayatollahs und ihr militärisch-politisch-industrieller Komplex der Revolutionsgarden die eigenen Privilegien und Reichtümer mit aller Macht schützen, bevor sie diese für das Wohl der Bevölkerung aufgeben.

Hamid Mohseni ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er studierte Germanistik und Philosophie und ist freier Autor. Seit 2009 verfolgt er die Entwicklungen im Iran und beteiligt sich an linken Solidaritätsinitiativen, die die demokratischen und sozialen Proteste im Iran kritisch begleiten.

Die allgemeine Verelendung mündet bei den meisten Iraner*innen zunehmend in Perspektivlosigkeit, Angst, existentielle Krisen, Emigration (falls möglich) und einen stetigen Anstieg der Selbstmordrate. Aber seit einigen Jahren findet sie ihren Ausdruck auch in Wut und in sozialen Protesten im ganzen Land.

Besonders hervorzuheben ist eine landesweite Protestbewegung von Rentner*innen und Pensionierten. Seit gut einem halben Jahr folgen Tausende von Menschen dem Aufruf von unabhängigen Rentner*innengewerkschaften und versammeln sich am Wochenende in vierzig bis fünfzig Städten im ganzen Land, meist vor dem Arbeitsministerium und seinen regionalen Büros. Sie fordern eine Auszahlung bzw. Erhöhung ihrer Bezüge, um angesichts der aktuellen Inflation ein Leben über der Armutsgrenze führen zu können. Dabei haben die Protestierenden das Gesetz auf ihrer Seite: Artikel 30 des sogenannten «Sechsten Entwicklungsplangesetzes» sieht eine Angleichung der monatlichen Renten bei steigenden Lebenskosten vor. Die Regierung hat diese Erhöhung ausgesetzt und verweist auf Budgetdefizite und leere öffentliche Töpfe. Außer Lippenbekenntnissen gibt es keinerlei Entgegenkommen, an einzelnen Orten werden diese Demonstrationen von Sicherheitskräften sogar angegriffen.

Neben dieser regelmäßigen und landesweit viel beachteten Protestwelle erlebt der Iran nahezu täglich kleinere Streiks und Arbeiter*innenproteste. Zentrale Themen sind hierbei Arbeitnehmer*innenrechte und -sicherheit. Die neoliberale Verwüstung im Iran führt zu dermaßen entsicherten Verhältnissen, dass ein ordentlicher, unbefristeter Arbeitsvertrag mit darin verbrieften Rechten für die Arbeitnehmer*innen zur absoluten Ausnahme geworden sind; Kurz- und Tagesverträge oder mündliche Vereinbarungen werden immer häufiger. Minderheiten des Vielvölkerstaates Iran werden dabei häufig systematisch am Arbeitsplatz diskriminiert und schikaniert. Unabhängige Gewerkschaften und Arbeiter*innenräte lehnen die neoliberale Idee der Privatisierung von Betrieben explizit ab – stattdessen wird offensiv über Selbstverwaltung nachgedacht, so wie bei der bekannten Zuckerrohrfabrik «Haft Tappeh» in Ahvaz, die seit drei Jahren mehr oder weniger kontinuierlich bestreikt wird. Damit hat sie einen Leuchtturmeffekt für radikale, teils sozialistische Arbeiter*innenforderungen über die Landesgrenzen hinweg. Die größte Debatte entfacht sich allerdings zweifelsohne um den Lohn. Dieser wird branchenübergreifend teilweise seit knapp einem Jahr nicht ausgezahlt, und wenn er dann doch gezahlt wird, steht er in keinem angemessenen Verhältnis zu den steigenden Lebenskosten. Unabhängige Gewerkschaften, aber auch linke und sozialistische Ökonom*innen fordern seit längerem einen dreimal so hohen Mindestlohn, wie ihn der Staat derzeit anbietet.

Die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Islamischen Republik. Grenzregionen wie Kurdistan oder Sistan-Belutschistan sind häufig systematisch vernachlässigte Regionen, in denen Armut und Existenznöte zu einer Parallel- und lebendigen Schwarzmarktwirtschaft geführt haben. In den kurdischen Regionen des Iran transportieren «Kolbars» sämtliche Güter für ein wenig Geld über die Berge in den Irak, in Sistan-Belutschistan verkaufen «Benzinträger*innen» Treibstoff ins benachbarte Pakistan, weil dort der Nachfragepreis höher ist. Ende Februar brachen in der Region radikale, anti-systemische Proteste aus, bei denen es zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kam und Regierungsbüros besetzt wurden. Auslöser war die Erschießung von mindestens zehn «Benzinträgern» durch iranische Sicherheitskräfte unter dem Vorwand der Schmugglerbekämpfung. Diese systematische und tödliche Praxis der Drangsalierung führt immer wieder zu Protesten in den Grenzregionen des Landes, auf die das Regime ausschließlich repressiv zu antworten weiß. Diese Regionen waren – anders als bei der eher bürgerlichen «Grünen Bewegung» 2009 – zentral und mit ausschlaggebend bei der sozialen Aufstandsbewegung 2018/2019.