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Die Gefangenen der ägyptischen Konterrevolution

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Blick über Kairo Wan, Ash Shamashargi, Egypt
Blick über Kairo Wan, Ash Shamashargi, Egypt

Konterrevolution wird definiert als ein Prozess, mit dem die herrschende Elite einen Aufstand niederkämpft und versucht die Kontrolle zurückzugewinnen, um ihre Privilegien zu verteidigen. Wenn sie damit erfolgreich ist, so lehrt es die Geschichte, werfen solche Konterrevolutionen eine Gesellschaft nicht nur zurück auf ihren vorherigen Status, vielmehr zurück auf Null, wenn nicht tiefer: Für gewöhnlich wird alles weggefegt, was durch den kollektiven Prozess der Revolte für die Bürgerrechte erreicht wurde, und die Situation verschlechtert sich beinahe in jeder Hinsicht.

Bei dieser historischen Gesetzmäßigkeit bildet Ägypten leider keine Ausnahme. Was mit dem Aufstand 2011 als Weg zu progressiven Veränderungen begann, wurde durch den Putsch vom Juli 2013 in sein Gegenteil verkehrt. Unter der Führung von Abdel Fattah El-Sisi verübte das Militär das größte Massaker der jüngeren ägyptischen Geschichte. Friedliche Demonstranten fielen ihm ebenso zum Opfer wie politische Parteien, unabhängige Gewerkschaften, Graswurzel-Organisationen und Jugendnetzwerke.

Hossam el-Hamalawy ist Journalist und Aktivist der «Revolutionary Socialists» in Ägypten. Er betreibt den Blog www.arabawy.org

Seit dem Putsch wurden mindestens 19 neue Gefängnisse gebaut, um die wachsende Schar politischer Gefangener zu beherbergen, deren Zahl bei mindestens 60.000 liegt, wie unabhängige lokale und internationale Beobachter schätzen. Erstes Ziel der Maßnahmen war die islamistische Opposition, Reformer ebenso wie Radikale. Doch das Regime weitete seinen schmutzigen Feldzug schnell aus auf säkulare Linke, Liberale, Arbeiterführer*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen, Blogger*innen, Künstler*innen, Studierende, ausländische Wissenschaftler*innen, alle die in sozialen Medien Kritik äußern – die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Die meisten werden wegen «Terrorismus» festgehalten, oder unter der ziemlich unspezifischen Anschuldigung «FakeNews» zu verbreiten. Gleichzeitig wurde Untersuchungshaft unkontrolliert zu einer gängigen Praxis ausgeweitet.

Diese massiven Repressionen entspringen selbstverständlich der Panik, mit der die ägyptischen Eliten in Politik und Wirtschaft drei Jahre lang zusehen mussten, wie die Revolution ihre Interessen und Privilegien bedroht. Seitdem agiert die Konterrevolution nach zwei unterschiedlichen Mustern: Mit willkürlicher Gewalt sowie mit gezielten Angriffen auf die Führungspersonen der Opposition.

Zu ersterem gehört, dass der Sicherheitsapparat abertausende Ägyptische Bürgerinnen und Bürger festhält, die nichts mit politischen Organisationen zu tun haben und erst recht nicht an irgendwelchen Protestaktionen oder spontanen Streiks beteiligt waren. Die Arreste sind nicht unbedingt Polizeiirrtümer, vielmehr übernimmt Sisis Regime durch derartigen Staatsterror die Taktik einer Besatzungsarmee, die für Ruhe in den Kolonialgebieten sorgt. Willkürliche nächtliche Festnahmen und Polizeikontrollen gehörten bereits zum Repertoire des Mubarak-Regimes, der damit in den 1990er Jahren den ersten schmutzigen Bürgerkrieg begann. Diese Erfahrung wiederholt sich seit 2013 im Turbogang.

Die zwei wichtigsten Proteste im Herbst 2019 und 2020 waren überwiegend spontan, oder präziser, unabhängig von den verbliebenen politischen Kräften. Wie immer reagierten die Sicherheitskräfte mit aller Härte und nahmen Tausenden fest, von denen die allerwenigsten politisch organisiert waren. Für Erstaunen sorgte allerdings eine großangelegte Festnahme-Kampagne unter altgedienten, politischen Veteranen. Nicht nur, weil sie mit den aktuellen Protesten überhaupt nichts zu tun hatten, sondern auch, weil die meisten von ihnen aus unterschiedlichsten Gründen, vor allem Demoralisierung, schon seit Jahren nicht mehr aktiv waren.

Aus Sicht von Sisis Sicherheitsapparat allerdings ist dieser Angriff auf ehemalige wie aktive Kader weder unprofessionell noch eine Überreaktion. Denn spontane Proteste allein bringen ein Regime nicht zu Fall. Und Sisi wusste, dass es trotz ihrer Heftigkeit eine Grenze gibt, die sie alleine nicht überwinden können. Erst durch die Intervention von Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften, Netzwerken und Bewegungen, lassen sich Proteste langfristig am Leben halten, politische Programme formulieren und aus der Protestbewegung eine realistische Alternative zum herrschenden Regime formen. Dieses Risiko geht Sisi nicht ein. Verglichen mit 2013/2014, als tatsächlich noch große Teile der Bevölkerung seinen rosigen Prophezeiungen glaubten, ist Sisis Popularität 2021 deutlich gesunken. Doch diese Desillusionierung wird sich weder heute noch in naher Zukunft automatisch in Massenproteste verwandeln.

Vereinzelt gab es zwar Proteste und Streiks aus unterschiedlichsten Gründen wie Wohnungsnot, Gentrifizierung oder Auflösung und Privatisierung staatlicher Einrichtungen. Aber bis diese eher kleinen Aktionen gegen Industrie und Politik die Dimensionen erreichen, die sie vor 2013 hatten, fehlt noch ein ganzes Stück. Der Schlüssel zu einem Wiedererstarken besteht auch in der Wiederbelebung von Dissidenten-Netzwerke, die trotz ihrer Niederlage reichhaltige Erfahrungen gesammelt haben. Aus diesem Grund entzieht Sisi der Opposition weiterhin Ressourcen, Kader und den Nachwuchs.

Verglichen mit den großen Hoffnungen vor zehn Jahren bietet Ägypten heute in vielfacher Hinsicht ein trostloses Bild. Aber wenn 2011 das Ergebnis eines zehn Jahren dauernden Sammlungsprozesses war, gibt es eben auch keine Garantie, dass Sisis Konterrevolution für immer Bestand hat. Denn sie hat die strukturellen Probleme, die vor zehn Jahren die Revolte auslösten, nur noch verstärkt, insbesondere Polizeigewalt und soziale Ungerechtigkeit. Die Bedingungen für eine zukünftigen Aufstand sind also objektiv gegeben. Was ihn beschleunigen könnte, sind hartnäckige Kampagnen zur Freilassung möglichst vieler politischer Aktivisten und Aktivistinnen. Bei dieser Aufgabe erwarten wir die Solidarität internationaler Aktivist*innen in Deutschland und anderswo. Wir brauchen eure Lobbyarbeit: Ihr müsst Eure Regierungen dazu bewegen, Sisis Militär- und Sicherheitsapparat nicht länger zu unterstützen! Verbreitet die Informationen über die politischen Gefangenen in Ägypten und fordert deren Freilassung!