Nachricht | Nordafrika - Westasien - Widerstandsbewegungen vernetzen Über das Kranksein

Wenn Körper nicht mehr kämpfen können

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Yara Sallam,

Yara Sallam
Yara Sallam Foto: Rawya Sadek

Vor einem Jahr erschien mein Buch Even the Finest of Warriors (dt. etwa «Selbst die tapfersten Kämpferinnen»). Davon, wieviel Stress mein Körper während der Arbeit an dem Buch ausgesetzt war, hatte ich damals keinen Schimmer. Das Buch sollte Burnouts bei Menschenrechtsaktivist*innen unter die Lupe nehmen, Fragen von Gesundheit und Wohlbefinden diskutieren und den Zusammenhang zwischen Aktivismus und Schuldgefühlen analysieren. Es war für mich ein Weg, mit meiner persönlichen Burnout-Erfahrung umzugehen und sie mit anderen zu teilen, denn ich fühlte mich darin sehr isoliert und alleingelassen. Vielleicht fühlten sich meine Zellen damals genauso. Immerhin sendeten sie mir ein Warnsignal, bevor sie ganz durchdrehten, und dafür bin ich dankbar.

Yara Sallam ist ägyptische Feministin und Rechtswissenschaftlerin. Sie hat für verschiedene Organisationen wie die Egyptian Initiative for Personal Rights, Nazra for Feminist Studies und die African Commission on Human and Peoples’ Rights gearbeitet. Dabei hat sie sich unter anderem mit Strafrecht, regionaler und internationaler Umsetzung von Menschenrechten, Transitional Justice, Religions- und Glaubensfreiheit und der Rolle von Menschenrechtsaktivist*innen auseinandergesetzt. (Biografie)

Im Jahr 2020 wurde (nur einige Monate vor meinem 35. Geburtstag) bei mir Brustkrebs diagnostiziert. Wenige Monate zuvor hatte mein Vater die Diagnose Lungenkrebs erhalten. Noch als er mir davon erzählte, war ich mir sicher, dass auch ich Krebs haben würde. Ein halbes Jahr später spürte ich einen großen Knoten in der Brust und die darauffolgenden Untersuchungen bestätigten den Verdacht. Immer wieder muss ich seither an die beeindruckende sri-lankische Menschenrechtsaktivistin Sunila Abeysekera denken, die 2013 an Krebs starb. Und auch an ein Video des Arztes Gabor Matés, in dem er den Zusammenhang zwischen Stress und Krankheiten erklärt. Er spricht davon, dass ein Beschwert-Sein auch ganz wörtlich zu medizinischen Beschwerden führen kann. Das Video begleitet mich beim Versuch, Strategien zu entwickeln, um die Rückkehr der Erkrankung zu verhindern – und unbeschwert zu leben.

Mit der Diagnose war die Frage nach dem eigenen Wohlbefinden plötzlich nicht mehr bloß eine Elfenbeinturmdiskussion, sondern eine von Leben und Tod. Blicke ich heute auf die vergangenen Monate zurück, stellt sich mir die Frage, wie ich besser mit meinem Körper umgehen kann, damit ich nicht nochmal krank werde. Die Krebsbehandlung, der Tod meines Vaters und die Schwierigkeit, mich auf Dinge zu konzentrieren, die ich vor dem Krebs spielend bewältigte – all diese Dinge gehen mir durch den Kopf. Wenn ich das Buch jetzt machen würde, dann würde ich wahrscheinlich schreiben, dass unser Körper so viel zerbrechlicher ist als wir denken. Ich würde darüber schreiben, wie wir Entscheidungen treffen, die Stress für unser Immunsystem bedeuten. Dass wir Beziehungen eingehen, die bewirken, dass wir uns in unserem eigenen Körper gefangen fühlen. Und ich würde über Signale schreiben – vor allem über Warnsignale, die uns sagen, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Momentan beschäftigt mich wieder dieselbe Frage, die auch meinem Buch zugrunde lag: Warum engagieren wir uns für die Gesellschaft und werden zu Aktivist*innen Das ganze letzte Jahr über habe ich versucht zu verstehen, was genau vor 20 Jahren mein Interesse für gesellschaftliches Engagement und Aktivismus weckte. Wollte ich in die Fußstapfen meiner Eltern treten, ihre Anerkennung gewinnen, ihren Stolz? Habe ich wirklich eigene Entscheidungen getroffen – oder habe ich mich eher treiben lassen wie Wasser in einem Fluss? Auf meine Fragen habe ich immer noch nicht wirklich eine Antwort gefunden.

Haben meine Entscheidungen, hat meine Lebensführung meinen Körper so sehr beschwert, dass er Beschwerden entwickelte? Welche körperlichen Spuren haben die Auseinandersetzungen in der Mohamed Mahmoud Straße bei mir hinterlassen? Die wiederholten Burnouts wegen der Arbeit? Die Gefühle von Wut und Verlust in Bezug auf die Revolution? Die Krankheit meines Vaters, die mich mit meinem größten Albtraum konfrontiert hat, meiner Verlustangst? Hätte sich all das verhindern lassen?

Damit wir uns richtig verstehen: Ich sage nicht, dass ich Schuld an meinem Krebs habe. Ich versuche aber zu lernen, verantwortungsvoll mit meinen Beschwerden umzugehen. Ich habe es mir nicht ausgesucht, mich krank und beschwert zu fühlen. Tatsächlich sagen diese ganzen Fragen eher etwas über die Strukturen aus, die mein Leben bestimmen – und auch das vieler Aktivist*innen, die sich in vergleichbaren Situationen für eine Veränderung einsetzen. Abgesehen davon: Auch wenn ich einen ganz anderen Job hätte, hätte ich mich der Revolution 2011 und den niederschmetternden Ereignissen die darauf folgten, nicht entziehen können. Ich könnte mich natürlich entscheiden, von jetzt an keine Menschenrechtsverletzungen mehr zu dokumentieren – aber ich kann Ägypten nicht entkommen, wenn ich hier leben will. Um den Stress zu reduzieren, der meinen Körper so fragil macht, muss ich mir die Frage stellen, wie sich mein Aktivismus mit meinen körperlichen Grenzen vereinbaren lässt – und das wird tiefgreifende Entscheidungen fordern.

Welche Spuren hat es hinterlassen, dass ich im Gefängnis meine Gefühle unterdrücken musste? Zu meiner eigenen Sicherheit und der meiner Mitmenschen war es nötig, dass ich meine Gefühle verbarg. Also versteckte ich sie und zeigte während der 15 Monate meiner Haft wenig von dem, was mich bewegte. Sehr viel mehr bleibt einem in der Höhle des Löwen auch nicht übrig – mein Herz auf der Zunge zu tragen, schien jedenfalls keine gute Idee.

Eine meiner Freundinnen hat einmal gesagt, dass Enttäuschung ja auch ein starker Antrieb sein kann. Ich erinnere mich, dass ich bei der Arbeit an dem Buch tatsächlich nach Freude suchte. Politischer Aktivismus macht mir Freude und erfüllt mich. Er verlieh und verleiht meinem Leben nach wie vor Sinn, das gebe ich gerne zu. Die Euphorie, , Verbundenheit, das Mitgefühl wildfremder Menschen. All das war es wert. Bis ich an Krebs erkrankte und jeder Hauch von Freude plötzlich in weite Ferne rückte.

Mein Buch von vor nur einem Jahr kommt mir jetzt vor wie aus einer anderen Welt. Die Diagnose rüttelte meine Sinne auf, mein Körper schaltete auf Kampfmodus. An allen Fronten startete der Kampf gegen die Krebszellen: Mit Ernährung, Ärzt*innen, Homöopathie, Medikamenten, Strahlentherapie. Ich konnte nicht mehr richtig lachen und meine Mimik fühlte sich plötzlich fremd an, als ob meine Gesichtszüge sehr schwer würden. Eine Freundin half mir, einen Namen dafür zu finden: Dissoziation. Mein Lachen kam mir vor wie das einer Marionette, meine Mimik schien wie über Schnüre gelenkt. Lachen oder eine entspannte, glückliche Gesichtshaltung fühlten sich unnatürlich an. Aber ich spielte weiter Theater, um mein Publikum nicht zu beunruhigen.

Von Freude konnte nicht die Rede sein, also musste ich eine neue Motivation finden – diesmal nicht im Aktivismus, sondern als Unterstützung bei meiner Genesung (die gefühlt so viel länger dauerte, als sie es eigentlich war). Was ich fand – und darin schätze ich mich glücklich –, war Liebe. «Aktivieren Sie Ihr soziales Netzwerk», riet meine Therapeutin. Als ich es tat, strömten mir Liebe, Freundschaft, Großzügigkeit und Sorge entgegen. Mir scheint, dass genau das die Dinge sind, auf die wir zurückgreifen können, wenn Freude im Aktivismus zu viel verlangt ist. Natürlich weiß ich, dass das nicht selbstverständlich ist: Ein gutes soziales Netzwerk aufzubauen und in Bewegung zu setzen, ist harte Arbeit. Auch für mich gilt, was Pam Labib in ihrem Artikel «The everyday practices of surviving health ableism» schreibt: «Ich bin auf ein soziales Netzwerk angewiesen, das ich über Jahrzehnte aufgebaut habe».

Als die Krebsbehandlung im Krankenhaus vorbei war, fühlte ich mich wie nach der Freilassung aus dem Gefängnis. Es ist seltsam, Krankheit und Behandlung als eine Art Inhaftierung zu empfinden, denn das war es ja eigentlich nicht – vielleicht meine ich eher eine Art «Enge»? Ich fühlte mich eingeschlossen in den Erfahrungen und Eindrücken der vorangegangenen Jahre. Es war nicht nur die Bürde meiner Arbeit, die meinen Körper beschwerte, ihm nicht guttat – auf mir lasteten auch die Erlebnisse der Revolution, meine Inhaftierung, die Erkrankung meines Vaters und meine unablässige Suche nach Zuneigung.

All das ist nicht einzigartig, anderen Aktivist*innen geht es ähnlich. Ich glaube, dass ich krank geworden bin, weil mein Körper irgendwann überfordert war. Ich bin all die Ursachen für Brustkrebs durchgegangen und glaube nicht, dass bei mir eine besondere genetische Veranlagung besteht; es muss eher an dem liegen, was mein Körper durchgemacht hat. Letztendlich weiß niemand, warum meine Zellen durchgedreht sind – aber was ich für mich erkannt habe, ist, dass ich mein Leben ändern will. Es gibt keine Garantien, aber ich schulde meinem Körper zumindest die Chance, frei von Krebs zu bleiben. Mein Partner sagt dazu: «Mach dir keine Gedanken darüber, dass der Krebs zurückkommen könnte, das ist genauso unwahrscheinlich, wie dass du überhaupt krank geworden bist.»

Ich habe mich entschieden, das Gesundwerden zu meinem Lebensprojekt zu machen. Mir ist klar geworden, dass ich das, was mich an diesen Punkt gebracht hat, nicht länger so will. Ich habe mich entschlossen, Kairo zu verlassen und aufs Land zu ziehen, ein Schritt, den ich aus verschiedensten Gründen immer wieder aufgeschoben hatte. Ganz gemäß der African Feminist Charter (Afrikanische feministische Charta) lebe ich jetzt mein «Recht auf gesunde, von gegenseitigem Respekt geprägte und erfüllende persönliche Beziehungen». Ich habe Grenzen neu gezogen und Beziehungen beendet, die sich festgefahren anfühlten. Ich verrenke mich nicht mehr, um jemandem zu gefallen. Ich will meine Gefühle ernst nehmen, statt sie herunterzuschlucken.

Mich abzugrenzen ist mir immer schon schwergefallen, sowohl privat als auch bei der Arbeit und im Aktivismus. Für mich kommen da Fragen von Selbstwert und was mir überhaupt zusteht in Spiel. Nur dank vieler intensiver Gespräche mit meiner Therapeutin gelingt es mir heute, meine Grenzen eher zu erkennen und zu respektieren. Durch den Krebs habe ich auch gelernt, dass mich das Ignorieren meiner Gefühle im wahrsten Sinne des Wortes innerlich auffrisst. Ich habe mich entschieden, einen Weg zu finden, meine «guten» wie «schlechten» Gefühle anzuerkennen und zuzulassen. Es fällt mir zwar immer noch schwer, aber ich habe eine klarere Sicht auf die Dinge.

Um gesund zu werden, musste ich meine Bedürfnisse denen der anderen vorziehen. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich an erster Stelle. Manchmal fühle ich mich schuldig dafür, alte Kapitel abzuschließen, aber ich genieße die Veränderung, die sich langsam einstellt. Ich meine damit nicht, dass es nicht auch heilsam sein kann, sich um andere Menschen zu kümmern: Es ist ein wohltuendes Privileg und großes Glück, für geliebte Menschen da zu sein. Heilung findet auch in zahlreichen respektvollen und erfüllenden Beziehungen statt. Dennoch ist es wichtig, sich in der Sorge um andere nicht selbst zu vergessen. Und wenn sich Prioritäten kurzzeitig ändern und manchmal auch andere an erster Stelle stehen, dann sollte das die Ausnahme von der Regel sein.

Die richtigen Entscheidungen für meine Gesundheit zu treffen, war unter anderem auch dadurch möglich, dass mich meine Arbeitgeberin, die Menschenrechtsorganisation Egyptian Initiative for Personal Rights, stark unterstützte. Ich wollte mein Leben nicht länger in einer Warteschleife verbringen und rang mich dank ihrer Hilfe endlich durch, Kairo zu verlassen.

Was ich mache, fühlt sich ein bisschen wie Kochen an. Mein «Rezept» sieht so aus: städtische Stressoren reduzieren, Umweltbelastungen und schlechter Ernährung den Rücken kehren. Dazu gebe ich eine Prise anderer Dinge bei: Ich werde besser darin, persönliche Grenzen zu navigieren, das Schöne im Leben anzunehmen und daran zu glauben, dass mir trotz allen Leidens in der Welt ein gutes Leben zusteht. Ich verdiene es, gesund, glücklich und geliebt zu sein. Jeder Mensch hat das verdient. Ich weiß aber auch, dass es ein Privileg ist, Stressoren reduzieren zu können. Nicht alle können eben mal so nach dem Aufwachen beschließen, den Wohnort oder den Job zu wechseln. Auch ich habe es erst nach jahrelanger Therapie geschafft und weil ich viel in meine Arbeit und meine Beziehungen investiert habe. Und durch eine gehörige Portion Glück.

Viele Jahre war ich nicht in der Lage, die Entscheidungen zu treffen, die ich heute treffe, und das obwohl ich dieselben Wünsche und Sehnsüchte hatte. Der Weg zurück in die Gesundheit hat mich gelehrt, auf neue Weise mit Stress umzugehen – und das allein kann schon ein wichtiges Etappenziel sein.