Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Krieg / Frieden - Osteuropa «Fällt England, fallen auch wir»

Rückblende ins jüdische Warschau im ersten Halbjahr 1940

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Holger Politt,

Am Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos
Am Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos  Foto: Holger Politt

Das Jüdische Historische Institut in Warschau gibt in polnischer Übersetzung und ungekürzt die Tagebücher von Chaim Aron Kaplan heraus. 2019 sind zunächst die Aufzeichnungen aus dem Jahr 1939, jüngst die Eintragungen vom Januar bis Juli 1940 erschienen. Der bekennende Zionist Kaplan hatte seine regelmäßigen Aufzeichnungen in Hebräisch geschrieben, der letzte Eintrag stammt vom 4. August 1942, bevor Kaplan und Ehefrau nach Treblinka transportiert wurden. Ihm war es zuvor gelungen, die Hefte mit den wertvollen Notizen in die Hände eines Freundes zu geben, der sie aus dem Ghetto schmuggeln konnte, so dass sie außerhalb Warschaus unentdeckt verborgen blieben. Ein Teil kam 1961 mit einem polnischen Auswanderer nach New York, ein anderer Teil blieb im Jüdischen Historischen Institut in Warschau zurück, so auch die Aufzeichnungen aus dem Jahr 1940. In New York gab Abraham Isaac Katsh 1965 unter dem Titel «Scroll of Agony: A Warsaw Ghetto Diary» die Aufzeichnungen aus den Jahren 1941/42 in einer englischen Ausgabe heraus, die wiederum vielfach in andere Sprachen übersetzt wurde – so auch ins Deutsche – und den Namen Kaplans weltweit bekannter machte. Später folgte auch eine hebräische Ausgabe, doch warfen Historiker Katsh mitunter vor, zu übertrieben und unbegründet in das überkommende Material eingegriffen zu haben. Einzelne Teile des Tagebuchs wurden verschiedentlich in Polen und Israel veröffentlicht.

Dr. Holger Politt ist Leiter des RLS-Regionalbüros Ostmitteleuropa in Warschau.

Kaplan wurde 1880 auf dem Gebiet der heutigen Belarus geboren, kam um das Jahr 1900 nach Warschau und schlug die Laufbahn eines Lehrers ein. Später gründete er eine sechsklassige Grundschule, die bis zu dem von den deutschen Okkupanten verhängten Verbot der Schulbildung für jüdische Kinder bestand. Er war vor allem Hebräisch-Lehrer, verfasste mehrere Lehrbücher, die auch in den USA gedruckt und genutzt wurden. Die eigenen Kinder waren vor Ausbruch des Krieges nach Palästina ausgewandert, er hatte mit dem Gedanken gespielt, ihnen zu folgen, sobald er sich zur Ruhe gesetzt habe. Die regelmäßigen und ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen sind in einem ruhigen, berichtenden Tonfall verfasst, der genaue Beobachter des Tagesgeschehens nimmt auffallend häufig Bezug auf die großen Zusammenhänge in Weltgeschichte und Weltpolitik, die nach der deutschen Besatzung für das Schicksal der Warschauer Juden immer bedeutsamer wurden. Die jetzt in einem Band veröffentlichten Aufzeichnungen aus der ersten Jahreshälfte 1940 beschreiben die Stadt noch vor der erst im Herbst 1940 amtlich verhängten Einrichtung des Ghettos. Allerdings wird deutlich, wie sehr die stetig fortschreitende Entrechtung der Juden diesen letzten, fast nur noch formal anmutenden Schritt vorbereiteten. Am 27. Juni 1940 notierte Kaplan: «In Warschau gibt es kein formales Ghetto, doch praktisch gibt es das Ghetto.»

Aus Chaim Aron Kaplans Aufzeichnungen, Tagebuch Januar bis Juli 1940 (aus dem Polnischen übersetzt)

Aufzeichnung vom 1. Februar 1940

Mit Beginn der Okkupation Polens stand der Okkupant wie ein «Vater und Patron» des polnischen Volks da, der es vor den jüdischen Klauen rette. Die hasserfüllte Propaganda gegen die Juden sollte nach dem Geschmack etlicher polnischer Kreise, vielleicht sogar der ganzen polnischen Gesellschaft sein. So als wollte er sagen: «Ich habe euch die politische Unabhängigkeit genommen, dafür habe ich euch die ökonomische Unabhängigkeit gegeben. Bislang lag das ganze Wirtschaftsleben in den Händen der Juden, von nun an wird es in eure Hände übergehen. Das ganze Leben habt ihr vergeblich gegen den jüdischen Eindringling gekämpft. Ich erhelle euch den Weg. Unter meiner Herrschaft werden den Juden alle Existenzmittel entzogen, ihr werdet an ihre Stelle treten.»

Allerdings war die polnische Gesellschaft, ihrerseits besiegt und unter dem Eindruck der nationalen Katastrophe in tiefe Depression gefallen, nicht besonders empfänglich für diese Propaganda. Sie spürte, dass der Okkupant der Todfeind ist, überhaupt nicht ihretwillen gegen die Juden vorgeht. Gemeinsames Leid näherte die Herzen an. Die barbarische Verfolgung gegenüber den Juden weckte das Gefühl der Solidarität im Unglück. Ohne nun zu übertreiben, so fühlten die beiden Konkurrenten von einst, dass sie Brüder sind im Leid, dass sie den einen gemeinsamen Feind haben, dessen Ziel es ist, beide zu vernichten.

Eine solche Einstellung der Polen gegenüber den Juden gefährdet die Absichten des Okkupanten. Deshalb nahm er sich der Sache mit besonderer Skrupellosigkeit an. In keinem Volk fehlt es an Schurken, in denen aber fand der Okkupant ein bequemes Werkzeug. Ihnen wurde bedeutet, dass die Juden außerhalb des Gesetzes stünden. Die Behörden würden wegschauen, sobald Juden zu Schaden kämen. Dieser Wink reichte den Schurken. In den letzten Tagen kam es immer wieder zu Überfällen auf Juden am helllichten Tag. Der Okkupant schaut weg, die Juden werden geschädigt – körperlich und materiell. Vor den Augen der Passanten kommt es zu Übergriffen auf Juden, der Okkupant bekommt es mit, tut aber so, als sei er auf diesem Auge blind.

Aufzeichnungen vom 13. Februar 1940

Die Nazis hören nicht auf, zu verbreiten, dass sie gegen die Juden im Krieg seien und dass der Krieg weitergehe. Als die am Kampf beteiligte Seite fallen nun alle Juden in den okkupierten Gebieten unter die Kategorie der Kriegsgefangenen. Scheinbar wird das nur behauptet, doch es gibt auch eine psychologische Wahrheit. Ohne Zweifel gibt es überall dort keinen Platz mehr für die Juden, wo der Okkupant seinen Fuß hinsetzt. Doch es geht noch weiter. Die Nazipropaganda bereitet andere Völker vor, dieses Gift einzunehmen. Überall auf der Welt trägt der Hass gegen die Juden einen ökonomischen Zug. Anders im Nazismus. Es ist festzustellen, dass der Nazikrieg gegen die Juden im großen Maße einen ideologischen Charakter besitzt. Der Nazismus will das Weltjudentum bis zu den Wurzeln vernichten. Sein Vorhaben ist, das jüdische Leben in allen Ländern Europas zu vernichten, selbst dann, wenn mit diesem gar keine ökonomischen Beziehungen bestehen.

Aufzeichnungen vom 18. Mai 1940

Für ganz Europa brechen dunkle Zeiten an. Nicht ausgeschlossen, dass es für uns nach längerer Zeit unter der Nazifuchtel keine Wiedergeburt geben wird. Alle Völker Europas gehen in eine Zeit der Gefangenschaft, das wird eine politische Gefangenschaft sein. Den arischen Individuen wird es möglich sein, am Leben zu bleiben. Anders mit uns: unser Schicksal werden Tod und Vernichtung sein. Wirklicher Tod und richtige Vernichtung. Der Führer wird auf seine Weise eine Lösung der jüdischen Frage finden, das ist uns klar. Vielleicht war ich nicht genau genug, denn er muss sie ja gar nicht finden; die Lösung ist von vornherein gegeben und man darf sicher sein, dass sie mit präziser Scheußlichkeit umgesetzt wird. Weil wir das alles mitbekommen, ziehen wir wie im Trauerfall mit gesenktem Kopf umher. Jede Ansammlung von Juden wird zum Leichenschmaus. Die Informationen über die militärischen Siege, selbst wenn sie übertrieben sind, treffen uns wie Hagelkörner, denn viel Wahrheit ist in ihnen enthalten und die Wirklichkeit bestätigt sie. Heute Kopenhagen mit seiner jüdischen Bevölkerungsgruppe; anderntags Amsterdam, Haag und Rotterdam, bislang voller friedlichen und ruhigen jüdischen Lebens. Soeben kam die Nachricht, dass auch Brüssel seine Tore vor den Nazis geöffnet hat. Alle Kriegshandlungen in den letzten neun Tagen haben bewiesen, dass unter den Nazistiefeln die Erde bebt. Es sieht so aus, dass wir es nicht mit einem zufälligen Sieg zu tun haben, vielmehr mit einem durch das Kräfteverhältnis bedingten. Jeder sieht, dass die westlichen Länder ratlos sind angesichts der überlegenen Militärkraft der Nazis. Eine Kraft, für die kein Hindernis existiert. Deshalb wir übermorgen auch Paris in ihre Hände fallen. Was dann? Statt «Versailler Diktat» wird es ein «Pariser Diktat» geben, nur der Diktator wird ein anderer sein. Ist das möglich? Ja, sehr sogar! Die Geschichte beliebt manchmal komisch zu sein. Sie richtet sich nicht nach festen Grundsätzen; sie geht sprunghaft vor und manchmal nimmt sie «Serpentinen». Fällt England, fallen auch wir mit ihm.

Aufzeichnung vom 25. Juni 1940

Gleich nach dem Triumpf über Frankreich haben sie für uns die Vorschriften verschärft für Briefsendungen, die ins Ausland gehen. Bislang wussten wir, dass wir den Brief in den Umschlag einstecken und in einen offenen Briefkasten werfen müssen. Jetzt haben sie die Beschränkungen unerträglich verschärft, wenn ein Brief ins Ausland abgeschickt werden soll. Den für die Postsendung bestimmten Brief müssen wir zur Hauptpost in die Warecki-Straße bringen. In der einen Hand der Brief, in der anderen Hand das Personaldokument. Der Brief wird dem zuständigen Postbeamten gezeigt, der zugleich die Funktion eines Zensors ausübt. Wenn der Brief koscher ist, schiebt der Kontrolleur ihn in den Umschlag und klebt selbst die erforderliche Briefmarke auf. Während der Prozedur wird sorgfältig geprüft, ob der Name des Absenders mit dem Namen im Ausweis übereinstimmt. Obendrein wurden dem Juden weitere Hindernisse in den Weg gelegt. Die Arier haben Vortrittsrecht. Die Warteschlange des Juden kommt erst ganz am Ende. Es kommt vor, dass der Jude ein-, zwei-, dreimal von weiter her hierherkommt, um zurückzukehren, ohne etwas erreicht zu haben: der Brief wurde nicht angenommen und nicht abgeschickt.