Feature | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - Türkei Türkei: Wie hat sich die Studierendenbewegung verändert?

Widerstand an der Istanbuler Boğaziçi-Universität

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Autorin

Zozan Baran,

Studierendenproteste an der Boğaziçi-Universität
«Am Ernannten erkennen wir den Ernennenden», Studierendenproteste an der Boğaziçi-Universität Anfang Januar 2021, nachdem der konservative-Politiker Melih Bulu von Staatspräsident Erdoğan zum Unirektor ernannt worden war. Hilmi Hacaloğlu - VOA, Wikimedia Commons

Universitäten sind in der Türkei traditionell Zentren linker politischer Strömungen und politischer Mobilisierung. Mit den jüngsten Protesten gegen das an der Boğaziçi-Universität eingesetzte «Treuhandregime» ist zu einem Zeitpunkt, als gerade relative Stille auf den Protestschauplätzen herrschte, eine neue Phase der Mobilisierung angebrochen. Dass die Proteste ausgerechnet an einer der prestigeträchtigsten Universitäten der Türkei stattfinden, ließ bei Regierungsanhänger*innen Vorwürfe von «Elitismus» laut werden. Die «Elitismus»-Kritik betrifft zwar auf den ersten Blick vor allem die Boğaziçi-Studierenden, in Wirklichkeit verwendeten Konservative diese «Kritik» aber schon vorher gern, um junge Menschen mit höherer Bildung als von der türkischen Gesellschaft entfremdet und privilegiert abzustempeln. Aber was trifft zu an der Behauptung, Studierende seien eine privilegierte Gruppe, die mit ihren Protesten nur die eigenen Vorteile verteidigen wolle?

So absurd diese Vorwürfe sind, überrascht es doch in der Tat, dass die jüngsten Proteste ausgerechnet von der Boğaziçi-Universität ausgehen. Denn obwohl die Universität zu den wenigen politisch liberalen Orten im Land gehört, wo unterschiedliche Meinungen und Identitäten in der Regel willkommen sind, ist es völlig neu, dass Studierendenproteste hier ihren Anfang nehmen. Dagegen ist es diesmal an den bisherigen Brennpunkten wie etwa den Universitäten Ankara und Istanbul vergleichsweise ruhig.

Zozan Baran ist Aktivistin und unabhängige Wissenschaftlerin, sie kommt aus der Türkei und ist kurdischer Abstammung. Sie erlangte ihren BA in Politikwissenschaften an der Boğaziçi-Universität und ihren MA in Soziologie an der Freien Universität Berlin. Sie lebt zurzeit in Berlin und arbeitet in einem vergleichenden Ansatz über politische Regime und Bewegungen.

Das liegt einerseits ganz sicher an der repressiven Atmosphäre im Land, andererseits könnte ein weiterer, weniger offensichtlicher Grund sein, dass außer an Universitäten wie Boğaziçi höhere Bildung nicht länger einen sicheren Lebensstandard und die damit einhergehenden Privilegien garantiert. Wie an anderer Stelle bereits gezeigt wurde [1], gediehen Studierendenbewegungen bisher am besten auf dem fruchtbaren Boden sozialer Demokratie und politischer wie wirtschaftlicher Sicherheit. Mögen die Studierenden nach wie vor hartnäckig protestieren, das Fehlen ebendieser Bedingungen verringert auf Dauer die Wirksamkeit und insbesondere die Überlebenschancen der Bewegung.

Wie ich in diesem Artikel darlegen möchte, ist der Lebensstandard der Jugend aufgrund verschiedener Faktoren gesunken, und damit gehören auch die wirtschaftlichen und sozialen Privilegien, die ältere Generationen von Hochschulabgänger*innen noch genießen konnten, der Vergangenheit an. Es sind zwei Dinge, die dazu geführt haben, dass Bildung keinen hohen Lebensstandard mehr garantiert und dass die Jugend heute in wirtschaftlicher Bedrängnis ist: Die Neoliberalisierung der Wirtschaft im Allgemeinen und des Bildungssystems im Besonderen sowie die Kombination aus einem hohen Bevölkerungsanteil junger Menschen und einem schwachen Wirtschaftssystem.

In einem Interview wiesen Studierende der Boğaziçi-Universität zu Recht darauf hin, dass Studierende – wenn man «Elite» an wirtschaftlichen Privilegien festmache – weit davon entfernt seien, eine solche zu bilden.[2] In der Tat beweisen viele sozio-ökonomische und demografische Indikatoren, dass die Jugend und insbesondere Hochschulabsolvent*innen eine prekäre Stellung in der einbrechenden Wirtschaft haben. Bereits vor der COVID-19-Pandemie verschlechterte sich die Lage am Arbeitsmarkt unaufhaltsam für die türkische Jugend und zwang viele in prekäre Jobs fernab ihrer eigentlichen Qualifikation.[3]

Das Bildungsministerium veröffentlichte jüngst die Einschulungsraten für Grundschulen, Sekundarschulen und Hochschulen. Diesen Erhebungen zufolge lag die Netto-Zulassungsquote an Hochschulen bei 43 Prozent. In einer Studie von 2016, deren Genauigkeit allerdings fraglich ist, wird die Bruttozulassungsquote mit fast 80 Prozent angegeben. Wenn man bedenkt, dass es in der Türkei 13 Millionen Jugendliche (zwischen 15 und 24 Jahren) gibt, dann wird klar, dass das Bildungssystem des Landes eine große Reserve an qualifizierten Arbeitskräften hervorbringt. Gleichzeitig befindet sich die Türkei nach Angaben der OECD in Europa mit 26 Prozent unter den Ländern mit der höchsten Arbeitslosenrate (genauer gesagt an 6. Stelle). Noch folgenschwerer: Die Türkei hat die größte NEET-Gruppe («not in employment, education or training») Europas, gemeint sind Jugendliche, die weder arbeiten, noch sich in beruflicher Ausbildung oder Vorbereitung darauf befinden. Die Türkei ist also ganz offensichtlich ein Land mit einer großen, gut ausgebildeten jungen Bevölkerung, die unter der Instabilität am Arbeitsmarkt und dem Mangel an qualifizierten Stellen leidet. In der sich verschärfenden Wirtschaftskrise wird die Gruppe gut qualifizierter Arbeitsloser sogar immer sichtbarer.

Die Vermarktlichung und Neoliberalisierung des Bildungssystems tragen ebenfalls zur wachsenden Unsicherheit bei. Die neoliberalen Reformen, durch die höhere Bildung zu einer Institution wird, die nur noch auf die Bereitstellung qualifizierter Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt ausgerichtet ist, haben den Wettbewerb um Bildung und Arbeitsstellen verschärft, und das auch schon für sehr junge Menschen. Für tausende Hochschulabsolvent*innen bedeutet dies konkret, dass ihre Bildung ihnen nicht nur zu keiner sicheren Arbeit mehr verhilft, wie es den vorangegangenen Generationen noch versprochen worden war, sondern dass der Wettbewerb außerdem extrem hart wird. Dies wiederum fordert Zeit und Energie und ist emotional herausfordernd.

Will man verstehen, warum die Studierendenbewegung an Kraft verliert, so muss man als Erstes den extremen Wettbewerb und die wachsende Prekarität auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen. Bei den aktuellen politischen und wirtschaftlichen Bemühungen geht es in erster Linie darum, die Abwärtsspirale zu bremsen – und nicht darum, Aufstiegschancen zu schaffen. Mehr kann Bildung einer jungen Generation in der Türkei heute nicht mehr garantieren. Der hart umkämpfte und instabile Arbeitsmarkt, der Wertverlust von Hochschuldiplomen und die ständig wachsende Reservearmee an Arbeitskräften sind Faktoren, die helfen zu verstehen, warum einerseits die traditionellen Hochburgen der Studierendenbewegung – wie die Universität Istanbul – kaum von sich hören lassen und was andererseits für Studierende an so prestigeträchtigen Universitäten wie der Boğaziçi und der ODTÜ (Orta Doğu Teknik Üniversitesi – Technische Universität des Nahen Ostens) auf dem Spiel steht. Es entsteht ein Eindruck davon, was es bedeutet, Bildungsqualität und das Vertrauen der Öffentlichkeit in solche Einrichtungen zu verlieren.

Das soll nicht heißen, dass die Proteste von wirtschaftlichen Faktoren gesteuert werden. In vielen Berichten werden ganz richtig die politischen und kulturellen Forderungen hinter der Mobilisierung aufgezeigt. Wie von den demonstrierenden Studierenden bereits hervorgehoben, wird mit den Protesten gefordert, insbesondere die Autonomie der Universitäten und allgemein einen hohen Grad an Demokratie zu erhalten. Die überzogene Reaktion der Regierung hierauf scheint in der Angst begründet zu liegen, es könne zu einem zweiten Gezi-Protest kommen. Inhaltlich geht es bei den Demonstrationen um politische Forderungen und die Verteidigung der Demokratie. Angesichts des nicht vorhandenen Widerstands durch Oppositionsparteien ist der studentische Protest von unschätzbarem Wert für die demokratischen Kräfte. Insofern trivialisiert es die Bewegung in keiner Weise, wenn man ihre Grenzen und sozio-ökonomischen Hintergründe aufzeigt. Es wird vielmehr deutlich, dass die Bewegung Raum für Opposition schafft und eine Mobilisierung ermöglicht, die es schon lange nicht mehr gab.

Das Verständnis sich verändernder wirtschaftlicher und sozialer Dynamiken hilft uns also, die Stärken und Schwächen von Protestbewegungen im Allgemeinen und der Studierendenbewegung im Besonderen fundierter zu beurteilen. Studierendenbewegungen waren in der Geschichte der Türkei bisher die zentralen Protestbewegungen und scheinen dies nach wie vor zu sein. Wir müssen uns fragen, wie sich der Verlust von Privilegien und die neue Stellung der «qualifizierten» Jugend auf künftige Proteste und die Chancen, gebildete und weniger gebildete junge Menschen in einer breiteren Bewegung zu mobilisieren, auswirken wird.


[1] In seiner Analyse der 68er-Bewegung unterstreicht Eric Hobsbawm die günstigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die der Studierendenbewegung den Weg ebneten. Vgl. Hobsbawm, Eric, Age of Extremes 1914 – 1991. The Short Twentieth Century 1914-1991, London 1994, S. 320–329.

[2] Hiermit soll gesagt werden, dass Studierende nicht unbedingt aus privilegierten und gut situierten Familien stammen. Natürlich findet man an einer Prestige-Universität wie Boğaziçi viele Studierende mit einem solchen Hintergrund. Gleichzeitig ermöglicht die staatliche Universität aber auch zahlreichen Studierenden aus niedrigeren sozialen Schichten eine hochqualitative Ausbildung. Studierende an der Boğaziçi-Universität können ein Stipendium beziehen, was in einem Land mit schwachen Sozialleistungen von besonders hohem Wert ist.

[3] In Interviews jüngeren Datums zeigt sich, dass unter den streikenden Supermarkt- und Restaurant-Angestellten nicht wenige einen Hochschulabschluss haben.