Nachricht | Krieg / Frieden - Migration / Flucht - Libanon / Syrien / Irak Das Gepäck der Revolution

Ein Essay von Bashar Farahat

Information

Straße in Aleppo im Jahr 2013
Aleppo im Jahr 2013 Foto: Joud Hasan

März 2012: Nach Damaskus

Vor nur einem Jahr waren die Straßen von Latakia noch voller Menschen, die den Sturz des Regimes forderten. Niemand hatte erwartet, dass sich der revolutionäre Funke auch in der Hochburg des Assad–Clans entzünden würde. Die Reaktion des Regimes fiel dann wie erwartet aus: Nachdem es die Bewegung ohne Rücksicht auf Verluste brutal niedergeschlagen hatte, verlegte es sich auf die psychologische Kriegsführung. Den Besiegten sollten auch ihre Helden und ihre Geschichten genommen werden.

Anfangs spotteten wir noch über die Begriffe, mit denen das Regime über die Revolution sprach. Revolutionäre bezeichnete es als Extremisten, Demonstrationen als Krawalle und deren Niederschlagung als Kampf gegen den Islamismus.  Aber die leeren Straßen von Latakia machten mich zu traurig für ironische Kommentare. Wenn es die Bewegung noch gab, konnte man sie zumindest nicht mehr sehen. Anstelle der Begeisterung, die seit einem Jahr die Gesichter erhellte und in alltäglichsten Gesprächen zu spüren war, trat nun ein Hauch von Verzweiflung. In vielen war etwas zerbrochen. Allein die Nachrichten aus anderen Landesteilen ließen ein wenig Raum für Hoffnung.

Bashar Farahat ist ein syrischer Geflüchteter, der aktuell in London, UK lebt. Er arbeitet als Arzt für das staatliche Gesundheitswesen (National Health Services (NHS)). Er ist auch Poet und Schriftsteller und publiziert in verschiedenen Zeitungen und Soziale Medien.

Übersetzung: Mirko Vogel, Mahara

Anders als viele erwartet hatten, war das Feuer der Revolution nach ihrem ersten Jahr nicht erloschen. Je heller es brannte und je weiter es sich ausbreitete, desto rücksichtsloser wurde das Regime in seinen Versuchen es zu ersticken. Aber mit jedem toten Zivilisten und jedem Gefangenen desertierten mehr von Assads Soldaten und stärkten die Reihen der Freien syrischen Armee, von der immer lauter als Beschützerin der Revolution gesprochen wurde.

Ich schaute in meine Reisetasche: Ein medizinisches Fachbuch, ein Stethoskop, ein Blutdruckmessgerät, Verbandsmaterial, die Flagge der Revolution, ein Roman, Kleidung für eine Woche, ein Notizbuch, ein Stift.

Als ich in Damaskus ankam, traf ich mich mit Freunde in einem Café, von wo aus wir gemeinsam zu einer Demonstration im Viertel Barzeh aufbrechen wollten. Am meisten fürchteten wir uns davor, verhaftet zu werden, darum hatten wir Pläne für den Ernstfall gemacht. Sollte jemand von uns festgenommen werden, würden wir seinen Facebook–Account schließen und die Nachricht im Netz möglichst weit streuen. Dann würden wir unseren Wohnort wechseln und uns einen neuen Arbeitsplatz suchen.

Um nicht aufzufallen, verließen wir das Café in kleinen Gruppen und umgingen die Straßensperren der Sicherheitskräfte.  Aber unsere Angst und unsere Notfallpläne lösten sich in Luft auf, als wir die Demonstration erreichten. Wir riefen Parolen für die Freiheit, schrien, tanzten, sangen und waren wie neu geboren. Denn eine Revolution ist wie eine zweite Geburt, die erste Demonstration ist wie der erste Lebensschrei.


Glaubst du an die Revolution?

  • Natürlich, sie ist ein Teil von mir.

Wird die Revolution siegen?

  • Ganz sicher.

Wann?

  • Vermutlich in den nächsten Monaten.

Und dann?

  • Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit.

März 2013: In mein Dorf

Als ich vor ein paar Monaten freigelassen wurde, warteten die meisten meiner Freunde auf mich. Aber sie hatten sich verändert. Als sie mir berichteten, was während meiner Gefangenschaft passiert war, spürte ich ihre Angst. Die Revolution hatte auch ihr zweites Jahr überlebt und in vielen Regionen wurde weiterhin demonstriert. Die Freie syrische Armee war stärker geworden und hatte das Regime aus einigen Regionen vertrieben, woraufhin Assad den Iran, die Hisbollah und Russland zur Hilfe gerufen hatte. Neuerdings gab es auch islamistische Gruppen, die gegen das Regime kämpften. In vielen Gegenden wurde nicht mehr demonstriert. Immer mehr Menschen glaubten an die Mär vom Kampf gegen Terroristen, die das Regime unentwegt wiederholte. Eine Geschichte wie eine Vogelscheuche für die, deren Gedanken allzu frei flatterten. Andere ließen sich nur zu gerne von ihr korrumpieren, erlaubte ihnen diese Lesart der Ereignisse doch, die Augen vor den Massakern des Regimes zu verschließen. 

Auch ich hatte mich verändert. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass ich mit dem Leben davongekommen war. Manchmal kam es mir vor, als sei ich noch immer in dieser Zelle, kaum 25 qm groß, in der ich vier Monate lang mit etwa hundert anderen Gefangenen eingepfercht war. Der Gestank des Todes, den wir täglich atmen mussten, hinterlässt Narben auf der Seele, die für immer bleiben.

Ich schaute in meine Reisetasche: Kleider, ein Buch und mein Entlassungsschein.


Glaubst du an die Revolution?

  • Ja, sie ist ein Teil von mir.

Wird die Revolution siegen?

  • Ganz sicher, aber die Angelegenheit ist ein wenig kompliziert.

Wann?

  • Ich weiß nicht, aber bald.

Und dann?

  • Freiheit.

März 2014: Nach Beirut

Ich verließ Syrien, nachdem ich zum zweiten Mal im Gefängnis gewesen war. Noch Monate nach meiner Freilassung hielten mich Einsamkeit, Angst und das Gefühl von Niederlage gefangen. Die Narbe, die meine erste Verhaftung hinterlassen hatte, war noch tiefer geworden. Auf der Straße fühlte ich mich unsicher und konnte den Menschen nicht in die Augen sehen.  Wenn ich an die letzte Demonstration dachte, an der ich teilgenommen hatte, lächelte ich traurig als handele es sich um eine Kindheitserinnerung.

Als ich freigelassen wurde, wartete niemand auf mich. Die meisten Freunde waren entweder tot, im Gefängnis oder hatten das Land verlassen. Ich setze mich in ein Café und hörte den Nachrichten mit halben Ohr zu. Die wichtigste Meldung behandelte eine islamistische Organisation namens ISIS.

Einige Freunde organisierten für mich eine sichere Ausreise in den Libanon, nach Beirut. Als mich der Fluchthelfer darauf hinwies, dass wir gerade die syrische Grenze überschritten hätten, atmete ich tief ein. Eine unverständliche Mischung aus Freude und Trauer erfüllte mein Herz und ich schaute in meine Reisetasche: Nichts. Sie war leer.


Glaubst du an die Revolution?

  • Ja.

Wird die Revolution siegen?

  • ...

Wann?

  • ...

Und dann?

  • Gehen wir zurück.

März 2015: Nach London

Ich hatte die Stadt Beirut mit all ihren Widersprüchen geliebt. Eine Stadt, in der man Zuflucht vor der Angst als auch die Angst selbst finden kann. Sie gibt dir alles, was Du Dir von einer Stadt wünschst, um es Dir dann wieder zu nehmen, so dass Du wieder von vorne anfangen musst. Als ich keine Kraft mehr für einen weiteren Neuanfang hatte, akzeptierte ich mein Schicksal und ging ins Exil.

Ich schaute in meine Reisetasche: Mein Reisepass, einige Bücher, Kleider, mein Studienabschluss in Medizin, zwei Briefe meiner Mutter, ein Souvenir von einem inhaftierten Freund, Souvenirs von allen meinen Freunden in Beirut und ein Souvenir von der Stadt selbst.


Glaubst du an die Revolution?

  • Ich weiß nicht.

Wird die Revolution siegen?

  • Ich weiß nicht.

Wann?

  • Ich weiß nicht.

Und dann?

  • Ich weiß nicht.

März 2021: Zu mir

Mein Gedächtnis ist randvoll mit Einzelheiten. Ich spazierte durch die Straßen von Latakia und warf einen Blick in mein Zimmer im Wohnheim des Krankenhauses, in dem ich einmal gearbeitet habe. In Damaskus ging ich in ein Café und besuchte die Stelle in Barzeh, wo wir demonstriert hatten. In meinem Heimatdorf setzte ich mich unter einen Baum. Ich stand an der syrisch-libanesischen Grenze, gab Beirut einen Kuss und bedankte mich bei London.

Ich schaute in meine Reisetasche: Ein Lied bei einer Demonstration, ein Banner mit der Aufschrift «Freiheit», die Flagge der Revolution, eine Straßensperre, eine Kugel in der Brust eines Demonstranten, Blutungen, die wir nicht stillen konnten, die Farbe der Zellentür, die Stimme des Vernehmungsbeamten, der Geruch seiner Zigarette, während er sich ein Geständnis unter Folter anhört, die Mischung aus Tod und Hoffnung in den langen Gefängnisnächten, eine Narbe, ein gefälschter Pass, Gelächter in Beirut, zwei Tränen am Flughafen, Stille in London.

Die Revolution ist auch in ihrem zehnten Jahr noch lebendig. Immer wenn ich meine Reisetasche packe, ist sie dabei. Sie warnt mich vor dem Vergessen und versteckt einen kleinen Schlüssel für mich. Damit öffne ich ein Fenster zur Hoffnung, die mich am Leben erhält.


Glaubst du an die Revolution?

  • Natürlich, auch ihre Niederlagen sind ein Teil von mir.

Wird die Revolution siegen?

  • Vielleicht hat sie schon gesiegt.

Wann?

  • Mit dem ersten Schrei.

Und dann?

  • ...