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Konflikte und Organisierung beim Gorillas Lieferdienst

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Autorin

Nina Scholz,

Kurier-Fahrer
Bote vom Lebensmittel-Lieferdienst Gorillas auf Tour in München. 21. April 2021. picture alliance / SZ Photo | Stephan Rumpf

In deutschen und niederländischen Städten ist ein neuer Fahrradkurierservice unterwegs. Das Startup Gorillas liefert im Gegensatz zu Deliveroo, Wolt und anderen aber keine fertigen Speisen aus Restaurants, sondern ganze Supermarkteinkäufe. Und das im innerstädtischen Liefergebiet in zehn Minuten; so lautet zumindest der Werbeclaims des jungen Unternehmens. Alles, was im Supermarkt bestellt werden kann, kann man auch bei Gorillas bestellen – fast zum gleichen Preis.

In den Berliner Bezirken, die das Unternehmen beliefert, wurden mittlerweile 13 Lagerflächen angemietet, in denen sogenannte «Picker» die per App bestellten Lebensmittel in die Rucksäcke der Kurier*innen füllen und sie dann mit dem Fahrrad zu den Kund*innen fahren. Für den Service zahlen diese derzeit nur 1,80 Liefergebühr. Mit diesem Versprechen wurde Gorillas zu einem der höchst bewerteten Unternehmensgründungen im letzten Jahr. Der Lieferdienst von Gründer Kağan Sümer hat gerade erst umgerechnet 245 Millionen Euro von Investor*innen eingesammelt, wird mittlerweile mit einer Milliarde Dollar bewertet; ist also ein sogenanntes Unicorn und das nur neun Monate nach dem Start. 

Warum wetten Investor*innen auf den Erfolg von Gorillas, worauf beruhen die Erfolgsaussichten?

Das Unternehmen spart an fast allem, was Kosten verursacht: Statt mit Autos und Lieferwagen, wie beispielsweise der Konkurrent Rewe, liefert Gorillas mit Fahrrädern aus, die kostengünstig von Swapfiets, einem anderen Startup, gemietet werden. Dass die nicht für das Berliner Kopfsteinpflaster und schweres Gepäck auf dem Rücken ausgestattet sind, scheint sie dabei wenig zu stören, erzählt mir Silvan (Name geändert), einer der Gorillas-Kuriere. «Selbst die jungen Kollegen haben Rückenschmerzen. Wir haben kein Essen in Pappschachteln auf dem Rücken, wie unsere Lieferando-Kollegen, sondern schwere Einkäufe. Viele bestellen Wein oder Champagner.»

Die Kund*innen müssen also während Corona nicht in den Supermarkt, die Kurier*innen drängeln sich hingegen dicht an dicht vor einigen Lagerräumen, denn auch an Betriebs- und Aufenthaltsräumen spart Gorillas. Dies ist für die Fahrer*innen besonders bei schlechtem Wetter unangenehm und führt auch immer wieder zu Stress mit Anwohner*innen: «In den Lagerräumen gibt es keinen Ort für uns, da ist kein Platz und es ist auch oft dreckig, also warten wir vor den Lebensmittellagern auf unsere nächste Fahrt.» In Berlin-Kreuzberg gibt es Beschwerden über Fahrräder und Kuriere auf dem Gehweg. Oftmals sind es die Kurier*innen, die den Ärger abbekommen und nicht das Unternehmen.

Auch an Sonderzulagen des Einzelhandels wird gespart: «Wir haben unsere Manager gefragt, warum wir sonntags und nachts keine Schichtzulage bekommen. Verkäufer bekommen dann mehr Lohn, wir nicht.» Statt einer Schichtzulage wurden die kritischen Gorillas-Kurier*innen einzeln zu persönlichen Gesprächen gebeten, in denen Druck auf sie ausgeübt wurde, berichtet Silvan. Das Unternehmen setze generell auf Druck, um sein Versprechen die Lebensmittel in Rekordzeit auszuliefern einzuhalten. «Gorillas will wachsen, das ist ihr Fokus, und je mehr sie wachsen, desto schlechter werden unsere Arbeitsbedingungen. Wir werden ständig erinnert, dass wir uns beeilen sollen, aber ohne Zahlen zu kennen, wo und wann wir langsam waren, aber das erzeugt Druck. Angeblich liegt der durchschnittliche Wert der Lieferungen bei sechs Lieferungen pro Stunde, aber das ist unmöglich», sagt Silvan. Mit Recht, denn allein die Fahrt hin- oder zurück ohne Auslieferung würde 20 Minuten dauern. Die Fahrer*innen können auf Grund der Größe und Schwere der Lieferungen nicht mehrere Auslieferungen hintereinander machen wie bei Deliveroo, Lieferando, Wolt und Co. Er vermutet, das Management verbreitet solche Zahlen um Druck auf Fahrer*innen aufzubauen.

Denn hinter der bunten, freundlichen Startup-Fassade gebe es deutliche Hierarchien, berichtet Silvan: «Es gibt nicht nur die Geschäftsführung und das Management, sondern auch Mini-Bosse›, die Berichte über unsere Performance verfassen. Wir vermuten, dass schon einige auf Grund dieser Berichte gefeuert wurden, vor allem die Kollegen, die noch nicht lange in Deutschland sind und das Arbeitsrecht hier nicht kennen.» Silvan kommt wie viele seiner Kolleg*innen nicht aus Deutschland, viele sprechen im Gegensatz zu ihm kaum Deutsch und kennen auch ihre deutschen Arbeitsrechte nicht.

Wachstum auf Kosten der Fahrer*innen

Silvans Bericht erinnert an die von Arbeiter*innen bei Unternehmen wie Amazon oder Deliveroo. Gorillas ist, genau wie diese, ein Plattformunternehmen. Plattformunternehmen ermöglichen es Personen und Gruppen digital miteinander in Austausch zu treten; wie Facebook oder Google. Gorillas ist eine schlanke Plattform wie Deliveroo, die systematisch Kosten sparen, auslagern und das Risiko auf ihre Arbeiter*innen abwälzen. Doch im Gegensatz zu Deliveroo und anderen Plattformunternehmen, die sich zwischen Restaurant und Kund*innen geschaltet haben und für die Vermittlung eine Gebühr erheben, funktioniert Gorillas eher wie die lokale Supermarktvariante von Amazon: Genau wie in den großen Logistiklagern des Versandriesens werden Produkte – Lebensmittel – unter Druck «gepickt» und dann von den Fahrradkurier*innen in Eiltempo ausgeliefert. Genau wie DHL und Amazon verspricht auch Gorillas die schnellste Lieferung an die Kund*innen auf Kosten der Arbeiter*innen. Die systematische Ausbeutung junger Menschen aus ärmeren Ländern, wie sie Silvan beschreibt, findet sich auch bei anderen Unternehmen wie Ryanair.

Gorillas setzt auf schnelles Wachstum, auch das wird in den Gesprächen mit Silvan klar. Plattformunternehmen sind starken Netzwerkeffekten ausgesetzt, deswegen sind die Monopolisierungstendenzen noch stärker als bei anderen Unternehmen. Das lässt sich leicht erklären – niemand nutzt drei Facebooks, sondern nur das eine, wo alle Freund*innen sich sammeln, also gewinnt das Netzwerk, das sich als erstes durchsetzt. Danach wechseln Kund*innen oft nicht mehr. Also setzen Plattformen-Unternehmen in erster Linie darauf, viel Geld einzusammeln, schnell zu wachsen und der Konkurrenz entweder zuvorzukommen oder sie auszuschalten. Erst wenn dieser Punkt erreicht ist, endet oft die Phase des Wachstums um jeden Preis. Theoretisch. Praktisch gibt es immer neue Konkurrent*innen. Unternehmen wie Deliveroo schreiben bis heute oft keine schwarzen Zahlen. Die Investor*innen von Gorillas haben aber offenbar starkes Vertrauen, dass der Kurierservice mit seinem Zehn-Minuten-Versprechen als Sieger in einer umkämpften Branche hervorgeht. Dabei setzt das Unternehmen zum Beispiel auf Influencer*innen-Marketing. Die Zielgruppe sind also nicht alte oder kranke Menschen, die vielleicht während Corona schlechter einkaufen gehen, sondern die Kaufkräftigen, die schnell eine Flasche Champagner wollen. Gründer Kağan Sümer hat für seinen Erfolg erfahrenes Personal in die Geschäftsführung geholt: Der ehemalige Deliveroo-Geschäftsführer Felix Chrobog ist in der Geschäftsleitung, über den es schon öfter Vorwürfe gab, dass er Arbeiter*innen einschüchtern würde. Ebenfalls in der Geschäftsleitung sind Ex-Lidl-UK-Chef Ronny Gottschlich und der ehemaligen Group Director von Delivery Hero, Canberk Donmez.

Arbeitskampf bei Gorillas

Aber nicht nur die Unternehmer, auch die Kurierfahrer*innen sind heute gut organisiert und können auf Erfahrungen aus anderen Kämpfen aufbauen. Silvan und seine Kolleg*innen sind gerade dabei einen Betriebsrat zu gründen, Anfang Juni soll die Wahlversammlung stattfinden, im September wird er dann gewählt. Unterstützung bekommen sie von der Gewerkschaft FAU, die seit 2017 Kurierfahrer*innen innerhalb der Deliverunion-Kampagne organisiert. Im August 2016 hatten spontan Deliveroo Beschäftigte in London gestreikt, nachdem sie von einer Lohnkürzung erfahren hatten. Bis dahin galten die prekär beschäftigten, scheinselbständigen Arbeiter*innen als unorganisierbar. Die Welle schwappte auch nach Deutschland, wo die FAU im Winter 2017 die Organisierung der Kurierfahrer*innen übernahm. Deliveroo und Foodora gibt es mittlerweile in Berlin nicht mehr – sie konnten sich nicht gegen Konkurrent und Platzhirsch Lieferando durchsetzen – jetzt kämpfen sie gemeinsame mit den Kurier*innen auch gegen Gorillas. Sie können mittlerweile schnell reagieren und Fahrer*innen organisieren, wissen wie man Kolleg*innen in Eins zu Eins Gesprächen überzeugt, stellen Kommunikationsinfrastruktur und rechtliches Wissen bereit. Aktive der Gewerkschaft FAU unterstützen Silvan und seine Kolleg*innen aktuell unter anderem dabei einen Betriebsrat zu gründen. Am 3.6. soll die Wahl für den Wahlvorstand, der die eigentliche Abstimmung des Betriebsrats bis spätestens Anfang September vorbereitet, stattfinden.

Silvan und seine Kolleg*innen wissen auch bereits, was sie gemeinsam mit der FAU durchsetzen wollen. Forderungen sind unter anderem, dass Waren nicht mehr auf den Rücken der Kuriere, sondern in einem Korb transportiert werden. «Das würde Gorillas Geld kosten, also weigern sie sich.» Sie wollen gleichen Lohn für alle durchsetzen: «Manche verdienen 12 Euro die Stunde, andere verdienen 10,50 Euro die Stunde.» Und sie wollen verhindern, dass Kolleg*innen ihren Urlaub nicht nehmen: «Das Management streut Falschinformationen was Urlaubstage angeht. Manche Mini-Jobber haben die Information bekommen, dass sie keinen Anspruch auf Urlaub hätten. Das ist eine Lüge, die aber gerade viele der Kuriere, die kein oder kaum deutsch sprechen, nicht überprüfen.» Schwer wiegt die auch der Vorwurf, dass Gorillas den Lohn der Kurier*innen stehlen würde: «Wir haben Verträge über 20 oder 40 Arbeitsstunden, bekommen aber nur bezahlt, was sie auch ausgefahren haben.» Bis dahin ist es aber noch ein harter Kampf.