Eines haben die drei Länder Algerien, Marokko, Tunesien gemeinsam: Die Menschen, vor allem die Jugendlichen wollen nur noch weg. Es ist nicht so wie in unseren Medien oft dargestellt, dass die drei Maghreb-Länder nur die letzte Durchgangsstation von Geflüchteten aus Afrika südlich der Sahara wären, nein, schon seit über zwei Jahrzehnten wächst die Zahl derer, die auf Gefahr ihres Lebens die Überfahrt auf italienisches oder spanisches Territorium wagen.
Aus Tunesien sind es inzwischen ganze Familien und zunehmend unbegleitete Kinder, die auf Lampedusa oder Sizilien anlanden. Dies alles geschieht, obwohl die Küstenwachen dieser Länder immer besser von der EU ausgerüstet werden und den auf See «geretteten» Flüchtlingen schwere Haftstrafen drohen. Das Motiv für die Flucht aus der Heimat ist die Perspektivlosigkeit in diesen Ländern, in denen selbst junge Menschen mit Hochschulabschluss zu rund 50 Prozent arbeitslos bleiben, in denen die Kaufkraft seit Jahren dramatisch sinkt, in denen Rechtsstaatlichkeit – bis auf bescheidene Ansätze in Tunesien – nicht existiert.
Der Politwissenschaftler und Soziologe Werner Ruf war bis 2003 Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Er ist Mitglied der AG Friedensforschung an der Universität Kassel sowie Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Nach dem «Arabischen Frühling» schien die Begeisterung für die Demokratiebewegungen im Maghreb seitens der westlichen Regierungen groß, Tunesien erhielt sogar auf der Homepage des deutschen Auswärtigen Amtes den Titel des «Transformationsleuchtturms». Zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die die Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Frauen, Wahlbeobachtung etc. zum Ziel hatten, erhielten zum Teil nicht unerhebliche Mittel, oft über die in den Maghrebstaaten zahlreich vertretenen politischen Stiftungen.
Parallel zu diesem Engagement auf der zivilgesellschaftlichen und eher kosmetischen Ebene verfolgte die EU massiv den Abschluss neuer umfassender Freihandelsverträge vor allem mit Marokko und Tunesien. Algerien, das als Prototyp eines Rentenstaats seine Staatseinnahmen so gut wie ausschließlich aus dem Export von Öl und Gas erzielte, hatte einen bestehenden Assoziationsvertrag mit der EU nie mit Leben erfüllt. Diese Freihandelsverträge geben dem Begriff von Freiheit einen völlig anderen Gehalt als die in offiziellen Reden und Publikationen hoch gefeierten bürgerlichen Freiheiten. Grundsätze dieser, der neoliberalen Ideologie verpflichteten Freihandelsverträge sind:
- Zollfreiheit: Der Wegfall von Zöllen erleichtert den Import von billigen, weil industriell gefertigten Waren aus den Mitgliedstaaten der EU. Für den importierenden Staat entfallen wichtige Einnahmen, die nicht mehr für die Entwicklung der Infrastruktur (Straßen, Schulen, Krankenhäuser …) zur Verfügung stehen.
- Freie Investitionstätigkeit und freier Kapitalverkehr: Diese richtet sich meist nach dem Preis der Arbeitskraft. Billiglohnländer oder Länder mit freien Produktionszonen (Produktionsstandorte im Land, an denen aber der nationale Mindestlohn nicht gilt und keine Gewerkschaften gegründet werden dürfen) sind für solche Investitionen attraktiv. Die Produkte sind ausschließlich für auswärtige Märkte bestimmt (verlängerte Werkbänke), sie schaffen keine Kaufkraft. Das Kapital kann jederzeit abwandern, wenn es einen noch vorteilhafteren Standort findet. Gewinne, soweit sie im produzierenden Land anfallen, sind frei transferierbar.
- Steuerfreiheit: Sie wird oft von den Dritt-Welt-ländern gewährt, um Investitionen anzulocken. Dem Staat entgehen Gelder für Infrastrukturmaßnahmen. Zur Investitionsförderung stellt er oft auf eigene Kosten Wasser- und Elektrizitätsanschlüsse sicher, ebenso Anbindungen an den Straßen- und Eisenbahnverkehr.
Diese Freiheiten sind dort zu Ende, wo es um die Interessen der Mächtigen, in diesem Falle der EU, geht: Sie subventioniert die Landwirtschaft ihrer Mitglieder mit über 250 Mrd. US-Dollar im Jahr, während Subventionen jeder Art – auch für Grundnahrungsmittel – von den neoliberalen Verfechtern der Freihandelsdoktrin in den abhängigen Ländern als Teufelszeug bekämpft werden. Noch krasser sind die Ungleichgewichte im Handel: Während die Märkte der assoziierten Länder europäischen Waren weit offenstehen, werden deren Importe (etwa Frühgemüse, Zitrusfrüchte, Olivenöl) durch Quoten und einen Kalender streng begrenzt, die die Landwirtschaft der EU-Mitglieder am Nordufer des Mittelmeers schützen soll.
Algerien hatte 2002 ein Assoziierungsabkommen geschlossen, das dem mit Tunesien und Marokko geschlossenen ähnelte. Einen nennenswerten Güteraustausch – vom Export von Kohlenwasserstoffen abgesehen – gab es nicht. Jenseits dieser kaum existierenden Handelsbeziehungen mit der EU schloss Algerien jedoch einen gigantischen Vertrag mit Rheinmetall: Seit 2018 liefert die Firma Teilesätze für den Bau von Panzern an eine eigens in Algerien gegründete Firma. Das Geschäft beläuft sich auf mehrere Mrd. Euro, der Export der fertigen Mordmaschinen von Algerien an Drittländer unterliegt dann nicht mehr deutschen Rüstungskontrollgesetzen …
Während des sogenannten Arabischen Frühlings hatte die Regierung größere Proteste verhindert. Ca. 30.000 Bewaffnete hatten die Hauptstadt hermetisch abgeriegelt. Bus- und Bahnverkehr waren unterbrochen. Doch seit dem 22. Februar 2019 hat sich ein einzigartiger Volkswiderstand entwickelt, der Hirak (Bewegung): Ausgelöst durch den Versuch des seit 2013 nach mehreren Schlaganfällen bewegungs- und sprechunfähigen Präsidenten Bouteflika gehen dort seit dem 22. Februar 2019 wöchentlich Hunderttausende, ja Millionen Menschen auf die Straße. Sie schafften nicht nur den Verzicht Bouteflikas auf die Kandidatur, sie bewirkten auch das Zerbrechen des aus verschiedenen Clans bestehenden Blocks an der Macht: Zahlreiche Führungsfiguren aus Politik und Militär wurden verhaftet, serienweise werden sie angeklagt, wegen schwerer Korruptionsfälle verurteilt. Wer allerdings glaubt, hier komme endlich eine unabhängige Justiz ihren Aufgaben nach, irrt: Gerade diese Prozesse belegen, dass diese Justiz nur die Säuberungsarbeit für jene Clans macht, die sich im Kampf hinter den Kulissen als die Stärkeren erwiesen haben. Diese haben zwar Neuwahlen für einen Präsidenten inszeniert, an denen sich aber nur gut 20 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten, ein ähnliches Schicksal dürfte den in Vorbereitung befindlichen Parlamentswahlen bevorstehen.
Der Hirak hingegen ist nach einem Corona-bedingten Abflauen der Demonstrationen in voller Stärke wieder auf den Straßen und stellt seine ungebrochene Stärke dar. Diese besteht jenseits der mobilisierten Massen darin, dass es keine politische Führung gibt, so dass das Regime die Bewegung enthaupten könnte. Ferner ist die Bewegung absolut gewaltfrei, sie fordert einen zivilen, nichtmilitärischen Staat. Diffus sind die Reaktionen der Staatsgewalt. So werden willkürlich verhaftete «Rädelsführer» angeklagt, teils verurteilt, teils freigesprochen oder auch wieder amnestiert, die Einschleusung von agents provocateurs versucht. Diese willkürlichen und scheinbar inkonsequenten Maßnahmen vermögen es jedoch offensichtlich nicht, die Bewegung zu spalten.
Die marokkanische Monarchie reagierte auf die heftigen Proteste während des Arabischen Frühlings mit teils erheblicher Subventionierung der Preise der Grundnahrungsmittel und dem Versprechen einer Verfassungsreform, die dann auch erfolgte, ohne die absolute Macht des Königs zu beschränken. Relativ freie Wahlen machten die Islamisten zur stärksten Kraft, diese wurden aber erfolgreich kooptiert. Das Königreich ist von extremen sozialen Gegensätzen gekennzeichnet: So lebt ein Fünftel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, ein Drittel sind Analphabeten. regionale Proteste und Unruhen wie des 2016 begonnen Hirak im Rif-Gebirge zeigen immer wieder die Brüchigkeit des Systems des «Herrschers der Gläubigen», der der mit zwei Mrd. US-Dollar Privatvermögen der siebtreichste Monarch der Welt ist.
Belastet wird das Königreich auch durch den seit 1975 dauernden Krieg in der völkerrechtswidrig annektierten ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara. Er kostet täglich rd. 110.000 US-Dollar. Im November 2020 brach Marokko den 1991 mit der Befreiungsfront Polisario geschlossenen Waffenstillstand, indem es Erweiterungsarbeiten an der 2.700 km langen Grenzmauer zwischen den besetzten und den von der Polisario gehaltenen Gebieten vornahm. Am 13. November erklärte die Polisario, dass sie sich nicht mehr an das Abkommen halte.
Zu Europa unterhält das Königreich, das massiv von Frankreich unterstützt wird, beste Beziehungen. Auch Marokko schloss schon 1996 ein Assoziierungsabkommen mit der EU und verhandelt seit Jahren ähnlich wie Tunesien über den Abschluss eines «erweiterten und umfassenden Assoziationsabkommens». Es ist bisher auch aufgrund massiver Widerstände von einheimischen Wissenschaftler*innen, der Zivilgesellschaft und Teilen der Unternehmerverbände nicht abgeschlossen worden.
Fazit
In den Verhandlungen um die Freihandelsverträge zeigt sich das herrschende Machtverhältnis: Hier die mächtige EU, die als Interessenvertreter großer europäischer Konzerne agiert, dort relativ kleine Volkswirtschaften, die sich bereits in tiefer Abhängigkeit befinden. Wo, wie in Tunesien und Marokko, vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen und Wissenschaftler*innen, aber auch Unternehmerverbände wie der tunesische Landwirtschafts- und Fischereiverband beginnen, Widerstand zu leisten, scheint der Ausverkauf nationaler Interessen noch nicht besiegelt.
In der Diskussion um die Freihandelsverträge wird immer deutlicher, dass ohne die Sicherung materieller Menschenrechte sozialer Frieden und eine konfliktfreiere Welt nicht zu haben sein werden. Kosmetische Operationen, die sich in bescheidener Unterstützung für Frauenrechte, Wahlbeobachtungen oder Pressefreiheit niederschlagen, sind sicherlich lobenswert, sie helfen nicht gegen die Verelendung der Gesellschaften, deren Kaufkraft seit dem «Arabischen Frühling» um mehr als die Hälfte gesunken ist. Der Druck der EU in Richtung auf eine radikale Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik dürfte sich mittel- und langfristig als politisch kontraproduktiv erweisen, ebenso wie das Ignorieren der geradezu heldenhaften Demokratiebewegung in Algerien. Die politisch gewollte radikale neoliberale Umgestaltung der Gesellschaften des Maghreb wird das «Migrationsproblem» weiter verschärfen, den Menschenrechtsdiskurs der EU angesichts der Zahl der aufgrund der immer brutaleren Abschottungsmaßnahmen im Mittelmeer Ertrinkenden ad absurdum führen. Während ganze Gesellschaften in Elend und Perspektivlosigkeit versinken, mutet es als Gipfel des Zynismus an, wenn Deutschland zeitgleich in Tunesien gezielt hunderte von hoch qualifizierten Ärzt*innen und Pfleger*innen anwirbt, die, auf Kosten des tunesischen Staates ausgebildet, legal ins gelobte Europa einreisen dürfen, um billig das marode deutsche Gesundheitssystem zu stärken. Derweil kann die Corona-Pandemie in ihrer Heimat wüten.