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Maria Dragus im Interview zum Instagram-Projekt «Ich bin Sophie Scholl»

Anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl haben der BR und SWR einen Instagramaccount veröffentlicht, der die letzten 10 Monate von Sophies Leben dokumentiert – aus ihrer Sicht. Wir haben mit Maria Dragus, der Schauspielerin von Sophies großer Schwester Inge, über notwendige Veränderungen in der Geschichtsvermittlung, moderne Erinnerungskultur und Sophie Scholls Wirken bis in die heutige Zeit gesprochen. 

Maria, du bist bereits mit 15 Jahren durch deine Rolle in «Das weiße Band – eine deutsche Kindergeschichte» bekannt geworden, seitdem hast du eine Vielzahl von Filmen gedreht. Viele haben einen politischen Hintergrund. Wie bist du zu dem Projekt «Ich bin Sophie Scholl» gekommen?

Maria Dragus: Ich kannte Tom Lass (Anm.: Regisseur) schon länger und als er dann dieses Projekt an mich herangetragen hat, habe ich mich gefragt: «Was ist das eigentlich? Wie soll diese Geschichte erzählt werden?» Ich fand es wahnsinnig spannend: Instagram und Sophie Scholl, Geschichten-Erzählen mit einem neuen Ansatz. Tom Lass hat mir dann erklärt, was er vorhat und dass es auch für ihn ein Experiment ist. Von Anfang an war klar, dass unglaublich gut recherchiert wurde. Dadurch habe ich mich sicher gefühlt und hatte Lust darauf, in dieses Format und diese Geschichte einzutauchen.

Du spielst die Rolle der großen Schwester Sophies, Inge Scholl. Kannst du uns etwas über Inge Scholl erzählen?

Maria Dragus: Inge war vier Jahre älter als Sophie. Wenn man jemanden spielt, der echt existiert hat, wird man nie ganz komplett an diese Person herankommen. Ich habe mir Literatur angeschaut. Es gibt Briefwechsel zwischen Sophie und Inge, aus der Zeit in der Sophie in München war. Ich habe mich gefragt: Wie hat Inge die Zeit, als die weiße Rose aktiv war, erlebt? Sie hat von sich selber gesagt, dass sie nie von der Widerstandsgruppe wusste und auch, dass sie Sophie davon abgehalten hätte. Die Schwesternbeziehung dieser letzten zehn Monate (Anm.: Zeitraum des Projektes ) ist nur eine Momentaufnahme aus dem Leben von Inge. Sie hat nach Sophies Tod das Bild von ihr weitergetragen und damit geschafft, dass Sophies Geschichte immer und immer wieder erzählt wird. Inge meinte, dass es wichtig ist, die richtigen Schlussfolgerungen aus der Nationalsozialistischen Zeit mitzunehmen.

Was verbindest du mit Sophie Scholl?

Maria Dragus: Vor dem Projekt kannte ich Sophie Scholl nur aus dem Geschichtsunterricht. Was sich mir da durch das Projekt aufgetan hat war nochmal eine ganz andere Welt, gerade in Hinsicht auf das, was wir heute erleben. Vor allem auch wie mutig und reif Sophie für ihr Alter war. Mit 21 schon so klar zu wissen, was falsch ist, wogegen sie vorgehen will und dann eine Untergrundorganisation zu gründe. Ich finde das wahnsinnig – ihr ganzes Lebenswerk, was sie in dieser kurzen Zeit hinterlassen hat.

Für mich war das ein Geschenk, Sophie Scholl und das, was sie hinterlassen hat, neu entdecken zu dürfen und in solch einer Komplexität mir nochmal zu vergegenwärtigen. Es ist wahnsinnig wichtig, sich immer und immer wieder daran zu erinnern. Gerade in meiner Generation und den Generationen, die noch kommen.

Was war dir in der Vorbereitung auf das Projekt besonders wichtig?

In der Arbeit mit einem Medium wie Instagram ist Authentizität besonders wichtig. Daher waren Inges Bücher über Sophie Scholls in der Rollenentwicklung für mich auch sehr bedeutsam. Das Projekt erforderte intensive historische Recherche, wir spielen große Persönlichkeiten. Gleichzeitig aber muss man das alles vor der Kamera runterbrechen, sodass es persönlich wird und nahbar für die Zuschauer*innen. Wir haben viel geprobt und uns so kennengelernt. Gleichzeitig konnten wir auch schauen, was funktioniert aus der historischen Sicht und wie kommen wir da aus der heutigen Perspektive ran. Und: Wie gehen wir damit um, dass jemand ständig eine Kamera in der Hand hat. Es war ein sehr interessanter Prozess.

Sophie Scholl filmt ihr Leben, als ob sie Instagram gehabt hätte. Warum ist es kein konventioneller Film geworden?

Maria Dragus: Das Projekt ist an das Format «Evas Stories» angelegt, was vor ein paar Jahren einen großen Anklang gefunden hat. Warum genau Instagram, da müsst ihr Tom (Anm.: Tom Lass, Regisseur) fragen. Aber ich finde es eine geniale Idee, weil Instagram ein Medium ist, das wir alle benutzen und das so intuitiv handzuhaben ist. So eine Nahbarkeit zu den historischen Figuren zu schaffen ist großartig. Das habe ich auch beim Dreh gemerkt. Man ist so vertraut mit dem Format immer eine Kamera vor sich zu halten, sein Leben abzufilmen und zu zeigen. Ich habe mich noch nie so authentisch in einem Set gefühlt wie an diesem.

Du hast das Projekt «Evas Stories» angesprochen. Vor zwei Jahren hat es für Furore gesorgt, mehr als 1,6 Millionen Menschen folgten den Insta-Stories die sich an den Tagebüchern von Eva Heymann orientierten. Was ist das Besondere an Erinnerungskultur auf Instagram?

Maria Dragus: Ich glaube, man sollte mit der Zeit gehen und das versuchen wir mit diesem Projekt – junge Menschen zu erreichen und nicht nur die, bei denen wir einen einfacheren Zugang zu diesen geschichtlichen Themen finden.

Unser Geschichtenerzählen ist heutzutage durch 15 Sekunden Stories oder durch Tiktok Videos, die man immer weiter swiped, geprägt. Viele Menschen schauen so ihre Nachrichten, gucken gar nicht mehr die Tagesschau oder lesen Zeitungen, sondern erfahren alles über Instagram. Darin besteht eine große Möglichkeit, aber auch eine Gefahr, weil diese Plattformen mit Algorithmen arbeiten. Jeder kriegt sein Paket zugeschnürt auf sich und sieht nur noch das, was ihn interessieren könnte. Erinnerungskultur auf Instagram zu bringen, scheint vielleicht auf den ersten Blick etwas speziell, aber passiert mehr und mehr. Instagram ist eine extrem politische Plattform, eine Diskussionsplattform. Da finden sich Menschen zusammen aus unterschiedlichsten Schichten aus unterschiedlichsten Ländern. Es gibt inzwischen viele Informationsvideos auf Tiktok zum Beispiel von der Tagesschau, in denen man innerhalb von kurzer Zeit komprimiert Infos bekommt, für die man vielleicht sonst keine Zeit hätte.

Instagram ist ja eher als eine gute Laune-Plattform gestartet. Du hast es eben schon angedeutet, dass es inzwischen eine politisierte Plattform geworden ist. Siehst du hier ein großes Bedürfnis diese Entwicklung noch weiter zu verstärken?

Maria Dragus: Für mich ist es in erster Linie eine Selbstaudrucksplattform, eine Möglichkeit direkt mit Menschen in Kontakt zu kommen und sich zu vernetzen. Als Filme-Macher*innen kommt man selten direkt mit ganz viel Publikum in Verbindung. Instagram gibt uns diese Möglichkeit. Manchmal ist es nicht ganz einfach damit umzugehen, weil jeder ungehindert seine Meinung freigeben kann. Es schafft aber auch Räume des Austausches und der Verbindung. Ich finde es zum Beispiel großartig, was letztes Jahr passiert ist, mit der «Black Lives Matter»-Bewegung. Ohne Social Media Plattformen wäre das gar nicht in dieser Form möglich gewesen. Warum also kann man auf Instagram nicht auch etwas Historisches thematisieren und es den Menschen so nahebringen, dass sie denken «Wow, das könnte auch heute so passieren».

Vor einigen Jahren hat eine Umfrage der Körber-Stiftung ergeben, dass 47 Prozent der Jugendlichen bis 16 Jahre, nichts mit dem Namen Auschwitz anzufangen wissen. Der israelische Künstler Avi Pitchon forderte neue Perspektiven der Erinnerungspolitik und sprach von einem «gelähmten Exorzismus» der bestehenden Formate. Kann durch solch ein Instagram-Projekt Geschichtsvermittlung moderner und nahbarer gestaltet werden?

Maria Dragus: Im besten Fall erreichen wir Menschen, die sich bisher noch nicht mit Sophie Scholl und der Zeit, in der sie lebte, beschäftigt haben. Das ist aktuell mehr als wichtig: Wir erleben einen Aufschwung rechter Gruppierungen in unserer Gesellschaft, immer mehr Leute wissen gar nicht mehr: «Was war der Zweite Weltkrieg? Was ist da passiert?».
Ich habe beispielsweise in meiner Schulzeit kein KZ mehr besucht. Wie sollen junge Menschen überhaupt noch einen Zugang zu Dingen finden, die so weit weg liegen? Da muss eine Veränderung passieren, es muss mehr Debatten geben und auch die politische Bildung für jüngere Generationen muss sich ändern.

Dieses Projekt ist eine großartige Möglichkeit außerhalb von Unterrichtsräumen näher an die Leute ranzukommen. Es gibt nur noch wenige Überlebende aus Auschwitz oder anderen Konzentrationslagern. Projekte mit diesen Menschen, beispielsweise Theaterstücke, Gespräche oder Lesung geben eindrucksvolle Eindrücke der damaligen Zeit. Diese Möglichkeiten wird es aber bald nicht mehr geben. Und deswegen ist es wichtig neue Ansätze für Erinnerungskultur zu suchen und zu pflegen.

Diese Thematik beschäftigt viele Menschen in der gesamten Erinnerungskultur-Szene. Wie kann man den Holocaust jungen Leuten näherbringen, die Bildung vor allem über solche Plattformen aufsaugen?

Maria Dragus: Richtig, vor allem in einer Zeit, in der Stimmen wieder den Holocaust leugnen. Die AfD verharmlost den Holocaust ständig und sie finden trotzdem Gehör. Das ist absurd, dass solche Debatten überhaupt Raum finden können. Es ist daher notwendig, dass diese Geschichten immer und immer wieder erzählt werden.

Was können wir im Jahr 2021, inmitten der weltweiten Corona-Pandemie, von Sophie Scholl lernen?

Die Zeilen, die sie geschrieben hat an dem Tag, an dem sie hingerichtet wurde: «So ein herrlicher Tag, und ich soll gehen. Aber was liegt an unserem Leben, wenn wir damit schaffen, Tausende von Menschen aufzurütteln und wachzurütteln», das musste ich erstmal sacken lassen. Ich glaube, dass es wichtig ist, auf das Kollektiv zu achten.

Ich habe letztes Jahr angefangen Gespräche zu suchen mit Menschen, die sich mit kollektivem Trauma beschäftigen. Beispielsweise hat diese Pandemie bei uns allen ein kollektives Trauma verursacht. Meistens gibt es eine Täter- und Opfer-Kategorisierung. In der Pandemie kann man nicht sagen: Das ist der Täter und das ist das Opfer. Wir müssen die Menschen, die sich in der Corona-Zeit auf das Querdenkertum einlassen, auch wieder abholen. Wir müssen im Austausch bleiben, sodass man keine Grenzen aufbaut, es sich nicht in Lager aufteilt, von «Du bist richtig und ich bin falsch,» sondern: «Was ist dein Grundbedürfnis?». Ich glaube unser Grundbedürfnis ist ein friedliches Zusammenleben. Dafür müssen wir auf die Menschen zugehen – das nehme ich von Sophie mit. Unser Projekt setzt genau dort an. Wir hoffen natürlich, dass es bei den Leuten Anklang finden wird.