Nachricht | International / Transnational - Krieg / Frieden - Europa - Osteuropa - Ukraine Ukraine und Russland in einer neuen Spirale der Eskalation

Truppenaufmarsch beendet, Konflikt ungelöst

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Ivo Georgiev,

Der großangelegte Truppenaufmarsch in Russland an der Grenze zur Ukraine und auf der Halbinsel Krim ist anscheinend beendet. Zehntausende russische Soldaten, die an einem Militärmanöver teilnahmen, haben sich inzwischen in ihre Kasernen zurückgezogen. Vier Wochen dauerte die jüngste Zuspitzung im ukrainisch-russischen Konflikt, der seit 2014 die Beziehungen zwischen den beiden Ländern und die politische Stabilität auf dem europäischen Kontinent schwer belastet. Die hohe Konzentration russischer Truppen in der Nähe der von russlandtreuen Separatisten regierten «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk in der Ostukraine löste eine Welle der Empörung und Angst vor einem möglichen Einmarsch in die Ukraine aus. Erinnerungen an das Jahr 2014 wurden wach, als Russland bereits solche Manöver durchführte und die Abspaltung der selbsternannten «Volksrepubliken» im ukrainischen Donbas mit seiner Armee vorantrieb. In diesem mehrmonatigen Krieg verloren damals mindestens 13.000 Menschen ihr Leben.

Ivo Georgiev ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Ukraine.

Die jüngste Demonstration militärischer Stärke kam unvermittelt. Derartige Militärmanöver werden üblicherweise international vorab angekündigt. Sie stellte die ukrainische Gesellschaft und Politik auf eine harte Probe. Einstimmig verurteilten ukrainische Politiker die Truppenübung und zogen eine Mobilisierung der gesamten Streitkräfte in Betracht. In Kiew befürchtete man, die Lage an der Grenze zu den Separatistengebieten könnte außer Kontrolle geraten und zum offenen Krieg führen. Auch international sorgte das Säbelrasseln für Kritik und Besorgnis um die fragile Waffenruhe in dieser kriegsgeplagten Region. Am 22. April meldete Moskau, die Ziele der Übung seien erreicht und gab sich verwundert über die verursachte diplomatische und mediale Aufregung. Waren die harschen Reaktionen übertrieben? Können die Ukrainer und Ukrainerinnen jetzt entspannt aufatmen und zur «Normalität» übergehen? Was bedeutet dieser Vorfall für die Zukunft des Landes und für die Regulierung des Konfliktes im Donbas?

Die Krise mag überstanden sein, die Spannungen und die Gefahr der Eskalation bleiben jedoch weiterhin bestehen. Warum befürchten die Menschen in der Ukraine eigentlich ein militärisches Eingreifen aus dem Nordosten?

In den letzten Jahren baute Russland sein Militärpotential auf der annektierten Halbinsel Krim kontinuierlich aus und stationierte dort insgesamt 33.000 Soldaten. Erst jüngst verkündete Moskau, dass sein Militär die Meeresenge von Kertsch und Teile des Schwarzen Meeres für ausländische Schiffe bis Oktober 2021 sperren würde, ohne einen nachvollziehbaren Grund dafür zu nennen. Damit wäre die Ukraine nicht mehr in der Lage, ihren Hafen in Mariopul am Asowschen Meer zu nutzen, über den ein Großteil der ukrainischen Industrieexporte abgewickelt wird. Die Ukraine fühlt sich von solchen völkerrechtswidrigen Schritten beunruhigt und gefährdet.

Schleichende Angliederung der «Volksrepubliken» an Russland

Auch ohne eine offene militärische Intervention russischer Streitkräfte geht die schleichende Angliederung der «Volksrepubliken» Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) an Russland weiter. Im April 2019, unmittelbar nach der Wahl Wolodymyr Selenskyjs zum neuen ukrainischen Präsidenten, begann Moskau rechtswidrig russische Pässe an die Bewohner der abtrünnigen ukrainischen Gebiete auszustellen. Heute besitzen mindestens 442.000 Menschen in Donezk und Luhansk russische Pässe (von insgesamt 1,6 Millionen). Diese Entwicklung erinnert sehr an die Situation in Südossetien und Abchasien 2008, als Russland den postulierten Schutz der zuvor mit russischen Pässen ausgestatteten Menschen als Argument nutze, in der benachbarten südkaukasischen Republik Georgien mit entsandten, bewaffneten «Friedenstruppen» zu intervenieren. Dieses Szenario könnte sich in den abtrünnigen Regionen um Donezk und Luhansk wiederholen. Laut Medienberichten aus den Separatistengebieten sollen die ukrainischen Personalausweise dort in vier Jahren keine Gültigkeit mehr haben. Damit wäre der Zugang der Bevölkerung zum von Kiew kontrollieren Gebiet nur noch mit einem Sonderpassierschein möglich, was die ohnehin prekäre humanitäre Situation der Bevölkerung massiv verschlechtern würde. Bereits jetzt ist es zum Beispiel für alte Menschen eine enorme logistische Herausforderung, wenn sie die «Kontaktlinie» an den Kontrollübergängen überschreiten müssen, um ihre Rente abzuholen oder Verwandte zu besuchen - ein Zustand, für den auch die Regierung in Kiew Verantwortung trägt.

Seit Jahresbeginn wurden in den Separatistenrepubliken zudem alle leerstehenden Immobilien von in das ukrainische Kernland Geflüchteten «verstaatlicht», also enteignet, so dass mehrere Tausend Menschen nicht mehr in ihre alten Wohnungen zurückkehren können. Seit einem Jahr ist dort Russisch als einzige Sprache offiziell zugelassen. Viele Hochschulen und auch die Universität in Donezk gestalten ihre Lehrveranstaltungen mittlerweile nach den Lehrplänen des russischen Bildungssystems, die Abschlüsse werden in Russland anerkannt. Dieser Übergang im Bildungswesen ist Teil einer großangelegten Kampagne namens Russkij Donbass (Russischer Donbass), die am 28. Januar 2021 offiziell in Donezk vorgestellt wurde. Der Prozess soll in wenigen Jahren abgeschlossen sein. Das erklärte Ziel ist der Anschluss der Region an Russland. Zahlreiche russische regierungsnahe NGOs und Medienanstalten treiben das Vorhaben voran. So verkündete die Chefin des auch in Deutschland bekannten, staatlichen TV-Senders Russia Today (RT) medienwirksam in Donezk: «Russland, Mütterchen, hol den Donbass zurück nach Hause». Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass auch russische Parteien jüngst Vertretungen in Donezk eröffneten.

Und auch die Machthaber in Luhansk und Donezk fordern offen die russische Führung auf, ihre Truppen gegen die Regierung in Kiew einzusetzen und werden dabei nicht nur von russischen Propaganda-Medien, sondern auch von Duma-Abgeordneten unterstützt.

Minsker Verhandlungen in der Sackgasse

Die russische Regierung bestreitet jedoch, dass der Anschluss der «LNR» und «DNR» an das «Mutterland» angestrebt wird und weigert sich somit, eine Mitverantwortung für die politischen Entwicklungen in den Separatistenrepubliken zu übernehmen. Die Verhandlungen über eine friedliche Regulierung oder gar Lösung des Donbas-Konfliktes stecken seit langem in einer Sackgasse. Das Minsker Abkommen vom Februar 2015 sollte eine Waffenruhe durchsetzen und sah vor, dass der abgespaltene Teil des Donbas wieder in den ukrainischen Staat integriert wird und zwar zu Bedingungen, die den Interessen der dort lebenden Menschen besser gerecht werden. Eine Verfassungsreform sollte der Region einen Autonomiestatus gewähren, ein Sonderverfahren sollte die Selbstverwaltung der abtrünnigen Gebiete regeln, nachdem dort lokale Wahlen stattgefunden haben, und zwar nach dem ukrainischen Gesetz. Erst nach einer internationalen Anerkennung der Wahlergebnisse sollte der Autonomiestatus in Kraft treten.

Die politischen Ziele dieses Abkommens erscheinen heute vollkommen unrealistisch. Keine ukrainische Regierung seit 2015 war bereit, über einen Sonderstatus der Region zu verhandeln, ohne dass sie vorab die Kontrolle über die eigene Grenze zu Russland übernommen hätte. Russland war nicht bereit, sich militärisch von der Konfliktregion zurückzuziehen und die Separatistenrepubliken ohne seine Unterstützung der Ukraine zu überlassen. Russland besteht außerdem darauf, dass Kiew mit den Machthabern in Donezk und Luhansk direkte Verhandlungsgespräche führt und betrachtet sich nicht als involvierte Partei in diesem Konflikt. Das sieht Kiew völlig anders. Unter diesen Umständen wäre die Umsetzung der vereinbarten Schritte zur politischen Lösung des Konfliktes in absehbarer Zukunft nicht denkbar.

Heute besteht kaum noch Hoffnung, dass die geteilte Region Donbas wieder zusammenwächst. Tatsächlich driften die sogenannten Volksrepubliken und der von Kiew kontrollierte Donbas-Teil immer weiter auseinander. Beide Seiten – die Regierung in Kiew und die Separatisten - beschuldigen sich gegenseitig, die Waffenruhe an der Frontlinie zu brechen. Für Kiew sind es die Separatisten und deren Unterstützer aus Russland, die eine Umsetzung des Minsker Abkommens unmöglich machen. Seit einigen Jahren bezeichnen ukrainische Medien den Gegner im besetzten Donbas-Teil häufig nicht mehr als «prorussische Separatisten», sondern schlicht als «die Russen».

Für die Regulierung des Konfliktes und die angestrebte Integration in den ukrainischen Staat hat diese mediale Darstellung verheerende Folgen: Es ist ein Signal, dass die Menschen aus den «Volksrepubliken» nicht mehr als Teil der Ukraine gesehen werden. Diese Botschaft wurde insbesondere während der Amtszeit von Ex-Präsident Petro Poroschenko deutlich, als seine Regierung im März 2017 ein Handelsembargo gegen die Separatistengebiete verhängte. Die wirtschaftliche Verflechtung mit dem ukrainischen Kernland wurde dadurch endgültig durchtrennt, der Schaden für die Wirtschaft und für die Versorgung der Bevölkerung auf beiden Seiten der Demarkationslinie war enorm.

Die Hoffnung auf Frieden wurde nicht erfüllt

Vor zwei Jahren wurde Wolodymyr Selenskyj mit absoluter Mehrheit zum ukrainischen Präsidenten gewählt, mit dem Wahlversprechen, den Friedensprozess in der Ostukraine zum Erfolg zu bringen. Und es sah aus, als hätte sich ein «window of opportunities» für die Minsker Verhandlungen geöffnet. Die neue Regierung in Kiew zeigte sich bereit, Kompromisse einzugehen und es gab in der Tat sichtbare Fortschritte: Seit Dezember 2019 wurden mehrmals Gefangene zwischen Russland und der Ukraine ausgetauscht. Zur gleichen Zeit wurden die Verhandlungen im Normandie-Format nach langer Unterbrechung wiederaufgenommen. Ein Plan zur «Entflechtung» der Armeeinheiten an besonders schwer umkämpften Hotspots entlang der Frontlinie wurde vereinbart und teilweise sogar umgesetzt. Der Waffenstillstand wurde zwar immer wieder gebrochen, es gab jedoch deutlich weniger Opfer seit dem Sommer 2020.

Viele Beobachter glaubten, dass damit der erste Schritt zur friedlichen Beilegung des bewaffneten Konfliktes getan sei. Seit Januar 2021 aber spitzte sich die Lage an der Trennlinie im Donbas wieder zu. Die Zahl der Verletzungen der Waffenruhe wuchs schnell und das Sterben ging weiter.

Innenpolitisch geriet Selenskyj zunehmend unter Druck. Eine breite national-patriotische Protestbewegung mobilisierte die Massen gegen die angebliche «Kapitulation» des Präsidenten vor Russland. Bei den Lokalwahlen im Herbst 2020 erlitt die regierende Partei «Sluha narodu» (Diener des Volkes) eine herbe Niederlage. Die Lager der russlandfreundlichen «Oppositionsplattform für das Leben» (OPZh) einerseits und der patriotischen, rechts-konservativen Parteien wie «Europäische Solidarität» andererseits gingen gestärkt daraus hervor. Vor diesem Hintergrund vollzog Selenskyj im Februar 2021 eine politische Kehrtwende.

Der vom Präsidenten neugegründete «Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung der Ukraine» verbot die Arbeit von drei TV-Nachrichtensendern, die der «Oppositionsplattform» nahestehen und indirekt zum Medienkonglomerat des Oligarchen Viktor Medvedchuk gehörten. Der Rada-Abgeordnete ist ein bekennender Freund des russischen Präsidenten und wirbt offen dafür, im Donbas-Konflikt die russischen Forderungen anzunehmen. Wenig später wurden er und seine Familie mit Sanktionen belegt und ihm droht eine Enteignung wegen des Verdachts, in illegalen Geschäften mit den Machthabern der Separatistenrepubliken verwickelt zu sein. Die Rechtsmäßigkeit dieser Maßnahmen ist sehr fragwürdig. Ukrainische Beobachter werteten die Sanktionen sowie die Sperrung der TV-Sender als eine Antwort des Präsidenten auf die «Russifizierungsdoktrin» in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Und als Versuch, den wachsenden nationalistischen Proteststimmungen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Das Militärmanöver Russlands war gewissermaßen eine Reaktion auf diese innenpolitische Kehrtwende. Als «bewaffnete Erpressung» durch Russland bezeichnet der ukrainische Historiker und linker Aktivist Taras Bilous den russischen Truppenaufmarsch, und als militärisches Druckmittel, um von Selenskyj weitere politische Zugeständnisse im festgefahrenen Friedensprozess zu erwirken. Wenn das die versteckten Ziele Moskaus waren, so wurden diese kaum erreicht. Die ukrainische Seite ist jetzt noch weiter davon entfernt, sich dem Druck aus Moskau zu beugen und Kompromisse bei den Minsker Verhandlungen einzugehen. Selbst die russlandfreundliche ukrainische Opposition in Form der Partei OPZh scheint von der Demonstration russischer Stärke an den ukrainischen Grenzen nicht zu profitieren. Die Zustimmungswerte der Partei sanken von circa 20 Prozent im Februar auf 12 Prozent Anfang Mai 2021. Auch Viktor Medvedchuk als bekanntester «pro-russischer» Politiker des Landes verliert zunehmend an Vertrauen in der Bevölkerung.

Die Konfrontation indes hat eine neue Dynamik erhalten. Hatte sich Selenskyj zu Beginn seiner Präsidentschaft in der Frage des NATO-Beitritts auffallend zurückgehalten, treibt er ihn mittlerweile aktiv voran. So auch die Aufrüstung der ukrainischen Armee.

Für die ukrainischen Linken bedeuten die jüngsten Spannungen eine weitere Verschlechterung ihrer ohnehin marginalen und bedrohten Lage. Jede weitere Zuspitzung in den bilateralen Beziehungen, jede neue Stufe der Eskalationsspirale stärkt die rechten und ultra-nationalistischen Kräfte und erhöht damit den Druck auf die Linken. Seit 2014 stehen die ukrainischen Linken unter dem Generalverdacht, als fünfte Kolonne die Interessen Russlands zu bedienen. Um aus der Marginalisierung herauszukommen, braucht es einen dauerhaften Frieden im geteilten Donbas. Ihre Forderung an die beiden Konfliktparteien, aus der militärischen Logik auszusteigen und auf Waffengewalt und Säbelrasseln zu verzichten, verdient Respekt und internationale Unterstützung.