Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Westafrika Mali in der Sackgasse?

Ein gesellschaftlicher Konsens für die Zukunft des Landes fehlt

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Frauen demonstrieren mit erhobenen Fäusten und halten eine große Fahne Malis.
Eine Gruppe M5-RFP-Sympatisant*innen in der französischen Diaspora fordert den Rücktritt von Ibrahim Boubacar Keita und die Freilassung von Soumalia Cisse im August 2020. Foto: IMAGO / Hans Lucas

Aktuell ist die Lage in Mali von einem gewissen Durcheinander geprägt. Ab Juni 2020 protestierte die Bewegung des 5. Juni – Sammlung der patriotischen Kräfte (M5-RFP) gegen den amtierenden Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta (IBK). Nach dem Militärputsch im August konnte sie mit der Situation nicht umgehen. Im Streit um die Macht, oder vielmehr um die Aufteilung der Macht, ging das aus verschiedenen Organisationen bestehende Bündnis in die Brüche.

Chéibane Coulibaly ist Präsident der Université Mandé Bukari. Er hat mehrere Bücher verfasst, unter anderem «Crise politico-institutionelle au Mali. Essai de philosophie politique Mandingue» (Politisch-institutionelle Krise in Mali. Versuch über die politische Philosophie der Mandinka), erschienen im Jahr 2020.

M5-RFP besteht aus drei Organisationen: La Coordination des mouvements, association et sympathisants (CMAS) von Imam Mahmoud Dicko, Espoir Mali Koura (EMK) und Front pour la sauvegarde de la démocratie (FSD). Der Kampf um die politische Führung innerhalb der M5-RFP begann, als sich der Flügel EMK weigerte, Mahmoud Dicko an der Spitze anzuerkennen. Der Imam hatte im Juni zu den Demonstrationen aufgerufen und galt als deren Anführer. Cheick Oumar Sissoko, Vorsitzender der Solidarité africaine pour la démocratie et l’indépendance (SADI), der Schwesterpartei von DIE LINKE, bezeichnete Dicko als moralischen Anführer. Die EMK konnte die wenigsten Aktivist*innen mobilisieren und wollte dennoch die Führung der Bewegung übernehmen. Darüber hinaus schafften es ihre Führungspersonen, die viele Intellektuelle als «Linksextreme» bezeichneten, nicht, einen Kompromiss einzugehen, um ihre Ziele in kleinen Schritten zu erreichen.

Dicko stand unter enormem Druck. Die internationale Gemeinschaft wollte die Situation kontrollieren und äußerte ihre Befürchtung, Dicko wolle eine «islamistische Herrschaft» errichten. Die Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten ECOWAS unterstützte die bei den Malier*innen unbeliebten traditionellen Parteien, angeblich um zu einem geregelten Verfassungsstaat zurückzukehren. Nach dem Staatsstreich vom 18. August 2020 waren zudem auch die jungen Offizier*innen darauf aus, Kontrolle über die Lage zu erhalten. Es heißt, Dicko habe letztlich auf Befehl seiner arabischen Unterstützer*innen, in deren Auftrag er in Mali aktiv sei, nachgegeben. Jedenfalls versuchte Dicko zurückzurudern und erklärte, dass er nie den Rücktritt von IBK gefordert habe.

Dieses Hin und Her veranlasste die Jugend, die den Großteil der Demonstrant*innen ausmachte, Wachbrigaden zu bilden, um die Ziele der Bewegung nicht zu gefährden. Unterstützung fanden sie bei den traditionellen Parteien in der M5-RFP. In seiner Position als Leiter des Strategiekomitees der M5-RFP richtete sich Choguel Kokala Maïga (Vorsitzender der Partei Mouvement patriotique pour le renouveau, MPR) direkt an die Mitglieder dieser Brigaden und versicherte ihnen, dass die M5-RFP ihnen regelmäßig von den Verhandlungen berichten und nichts ohne ihre Zustimmung unternehmen werde.

Die Basis der Bewegung wurde vom Strategiekomitee zwar anerkannt, aber sie war nicht gut organisiert. Die Parteien rechneten also damit, mit dieser Anerkennung die tatsächliche Kontrolle ausüben zu können. Doch die Brigaden waren schwer in den Griff zu bekommen und ihre Losungen zu radikal («Erfüllung aller unserer Forderungen») in einem Moment, als Kompromissbereitschaft gefragt war.

Die Existenz der Brigaden hinderte zudem die einzelnen Akteur*innen daran, politische Zugeständnisse zu machen, wie sie in der Vergangenheit üblich waren. Selbst das Militär, das die Macht übernommen hatte, hielt sich angesichts der Brigaden zurück und gab dem Druck der ECOWAS nicht allzu schnell nach. Denn die Malier*innen hegten den Verdacht, diese wolle das Regime von IBK wieder einsetzen.

Die Brigaden hatten allerdings keine einheitliche und selbstständige politische Ausrichtung. Ihr Druck auf die Akteur*innen, einschließlich des an die Macht gelangten Militärs, hielt den Zerreißproben und der Zersplitterung der M5-RFP nicht Stand. Das Nachlassen des Drucks der Brigaden beschleunigte wiederum den Niedergang der M5-RFP, deren letztes Treffen mit dem Übergangspräsidenten Bah N’Daw unter Beweis stellte, wie gering ihre Bedeutung in der malischen Politik noch war.

Das lag daran, dass die M5-RFP ihr Augenmerk nicht auf die Roadmap des Übergangs richtete, sondern auf die Zusammensetzung der politischen Organe der Interimszeit. Kürzlich forderte Choguel noch die Auflösung des als Parlament fungierenden Nationalen Übergangsrats (CNT) und der Regierung, was den Eindruck vermittelte, dass die Führungspersonen der M5-RFP hauptsächlich Posten im Staatsapparat ergattern wollten. Acht Monate nach dem Beginn der auf 18 Monate festgesetzten Übergangsperiode trat der Interimspräsident im Fernsehen auf und belächelte diese Forderungen nur noch.

Schlimmer noch, die M5-RFP konnte die Roadmap des Übergangs letztlich nicht entscheidend beeinflussen: Das Militär verstand schnell, dass die Wünsche der ECOWAS und der internationalen Gemeinschaft ausschlaggebend waren, insbesondere in Bezug auf das Abkommen von Algier, das bei den Malier*innen auf wenig Gegenliebe trifft.

Den Protesten unterschiedlicher Organisationen zum Trotz plant die Übergangsregierung ein Verfassungsreferendum, um die Maßnahmen des Abkommens von Algier umzusetzen. Seinerzeit hatte ich darum gebeten, dass Deutschland und andere befreundete Länder sich nach dem Putsch gegen Wirtschaftssanktionen zulasten Malis aussprechen. Jetzt sollten diese Länder davon absehen, die Durchführung des Referendums finanziell zu unterstützen, denn der vorgelegte Entwurf entspricht ganz und gar nicht dem mehrheitlichen Wunsch der Malier*innen. Er könnte jedoch verabschiedet werden, weil ein ordnungsgemäßer Ablauf der Wahlen momentan eh schon nicht zu gewährleisten ist.

Wenn sich die M5-RFP mehr auf die Roadmap des Übergangs konzentriert hätte, wären die Debatten zu einer neuen Verfassung sicherlich inklusiver verlaufen. Selbst wenn es gelingt, eine solche Verfassung zu beschließen, stünde sie mit dem Ende der Übergangszeit bereits wieder zur Debatte. Denn der alte Sozialpakt, der die Ethnien insbesondere in der Frage der Ausbeutung des Bodens und der Naturschätze zusammengehalten hatte, ist gebrochen (daher die vielen Konflikte innerhalb einzelner Ethnien und zwischen ihnen), und der neue Pakt ist noch nicht ausgereift. Wenn vor diesem Hintergrund eine übereilte Verfassung beschlossen wird, die doch eigentlich diesen neuen Gesellschaftsvertrag kodifizieren soll, dann zäumt man das Pferd von hinten auf.

Hätten die Interimsmachthaber den Wünschen der Bevölkerung entsprochen und weiter gegen Korruption und unerlaubte Bereicherung gekämpft, hätten sie die Situation auf dem gesamten Staatsgebiet verändert. Sie hätten die politische Lage im Land verbessert und dem sittenwidrigen Treiben einer ganzen politischen Klasse und ihrer Verbündeten ein Ende bereitet.

Das Militär spürte sofort den enormen (vor allem wirtschaftlichen, besonders finanziellen) Druck der ECOWAS und gab ihren Forderungen nach, obwohl die Organisation von den einfachen Leuten als «ein Syndikat von korrupten und vaterlandslosen Staatschefs» betrachtet wird. Das Militär an der Macht konnte nicht riskieren, dass die Mittel zur Gewährleistung eines funktionierenden Staatsapparats ausgingen und die Beamt*innen nicht mehr bezahlt werden könnten. Das Militär hatte Angst vor einem Volksaufstand, umso mehr als zahlreiche Malier*innen aus den Städten gegen Staatsstreiche sind.

Ist die Situation in Mali also völlig festgefahren, zumal die M5-RFP droht, wieder auf die Straße zu gehen, und die Gewerkschaften Streiks ankündigen? Die M5-RFP ist aktuell nicht in der Lage, Bürger*innen massenhaft zu Straßenprotesten zu mobilisieren: Die CMAS mit ihrem charismatischen Chef Mahmoud Dicko gehört nicht mehr dazu; Führungspersonen der EMK behaupten sogar, dass die Bewegung keine 200 Menschen mehr mobilisieren könne; und die dritte Gruppe der ursprünglichen M5-RFP, die hauptsächlich aus traditionellen Parteien bestehende FSD, genießt immer noch nicht das Vertrauen der einfachen Leute.

Die Gewerkschaften, allen voran die mächtige nationale Gewerkschaft der malischen Arbeiter*innen (UNTM), werden von Personen angeführt, die wissen, dass eine Übergangsregierung nicht über dieselben finanziellen Mittel verfügt wie eine «verfassungsmäßige Regierung». Ihnen ist also bewusst, dass nicht alle ihre Forderungen erfüllt werden können, aber sie üben weiter einen «angemessenen Druck» auf die Regierung aus, um einerseits doch einiges durchzusetzen und andererseits den Staat zu verpflichten, Arbeiter*innen stärker zu respektieren, indem Versprechen gehalten werden. Malis Probleme reichen viel tiefer: Es fehlt der Konsens zu einem Gesellschaftsentwurf. Es besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen einer politischen Klasse, die eine liberale Demokratie mit einem starken Fokus auf das Individuum, das Privateigentum und Marktlogiken einführen möchte, und einer Bevölkerung, die größtenteils auf Familie, eine besondere Form von «Eigentum» (die eher «Kollektivbesitz» ist, etwa von Land) und Selbstversorgung mit Lebensmitteln Wert legt. Die Frage ist hochpolitisch, und die Malier*innen müssen den Mut haben, sie in den zahlreichen «Dialogen», die laufend stattfinden, offen zu stellen. Die Kräfte des Übergangs hätten Bedingungen schaffen können – und können es noch immer –, die es den Malier*innen ermöglichen, diese schwierige Hürde zu nehmen und aus der drohenden Sackgasse auszubrechen.

Die in diesem Text geäußerten Ansichten und Meinungen sind die der Autoren und spiegeln nicht notwendigerweise die offizielle Politik oder Position der Rosa Luxemburg Stiftung wider.

Übersetzung von André Hansen für Gegensatz Translation Collective.