Ich bin per Zoom mit einer Freundin verbunden, die in einer wohlhabenden Wohnkolonie im Osten Neu-Delhis lebt. Ihr Zimmer ist erfüllt vom Klang ständiger Sirenen, in das rotblaue Blinklicht mischt sich ein orangefarbenes Flackern. Sie dreht ihren Bildschirm und ich sehe: Direkt unter ihrem Fenster lodert das Feuer eines Scheiterhaufens.
Die Krematorien der Stadt können schon lange nicht mehr Schritt halten, einige sind bereits geschmolzen. Die Luft in der Stadt ist, neben dem Smog, nun auch vom schwarzen Rauch der allgegenwärtigen Feuer erfüllt. Sogar die uralten Bäume, die zwischen den Ruinen der sieben Städte wachsen (entgegen häufiger europäischer Erwartungen ist Neu-Delhi eine grüne Stadt), müssen für die Toten weichen.
Als Projektmanager des Südasienprogramms der Rosa-Luxemburg-Stiftung bewege ich mich permanent zwischen zwei Kontinenten, aber noch nie hatte ich so sehr das Gefühl, mich sogar auf zwei unterschiedlichen Planeten aufzuhalten, wie in den letzten Wochen. Während in der einen Welt das Infektionsgeschehen langsam abflaut und gleichzeitig die vom Virus ausgehende Gefahr immer wieder in Frage gestellt wird, ist in der anderen Welt ein Kampf ums nackte Überleben ausgebrochen.
Die Arbeit des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der indischen Hauptstadt steht dieser Tage faktisch still, denn alle Mitarbeiter*innen sind entweder selbst infiziert, müssen ihre Angehörigen versorgen oder tote Verwandte und Freund*innen betrauern. Die Gesundheitsversorgung ist fast vollständig zusammengebrochen, Sauerstoff in vielen Krankenhäusern knapp oder bereits ausgegangen, Menschen sterben auf den Stufen vor überfüllten Krankenhäusern oder während sie auf der vergeblichen Suche nach einem Bett durch die Stadt gefahren werden. Alle Menschen, die ich in Neu-Delhi kenne, sind in diesen Tagen damit beschäftigt, Sauerstoff und Krankenhausbetten für Freund*innen oder Verwandte zu organisieren, sprich: eigenhändig eine humanitäre Grundversorgung herzustellen. Die Regierung hingegen greift auffallend wenig in das Geschehen ein und lässt Kritik von Seiten der Oppositionsparteien zur schlechten Vorbereitung auf die zweite Pandemiewelle an sich abprallen.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir die menschliche Katastrophe vor unseren Augen zu verstehen suchen, indem wir täglich die Infektions- und Sterbeziffern beobachten. Doch was in Indien geschieht, lässt sich nicht in Zahlen, sondern nur in Bildern begreifen. Zahlen können uns auch deshalb nur wenig über die tatsächliche Lage in Indien vermitteln, weil der hindunationalistischen Regierung unter Narendra Modi, die seit 2014 an der Macht ist, nicht daran gelegen ist, die wahren Zahlen zu erfassen. Folglich werden nur wenige Corona-Tote auch als solche registriert, die tatsächlichen Inzidenzen liegen vermutlich um ein Vielfaches höher als die offiziellen Angaben. Die Leichen, die in den letzten Tagen zu Tausenden an den Ufern des Ganges im nordwestlichen Bundesstaat Uttarakhand angespült wurden, erzählen von all den Toden, die nie gezählt wurden.
Noch Anfang April trafen sich an ebendiesem Flussufer über drei Millionen hinduistische Pilger*innen zum rituellen Baden. Die Hindunationalisten hatten das religiöse Fest Kumbh Mela («Fest des Kruges») trotz zahlreicher Proteste aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft zugelassen. Die Regierungspartei BJP schaltete sogar eine Plakatkampagne, die zur Teilnahme ermutigen sollte, und schaffte so sehenden Auges eines der größten Superspreader-Events der bisherigen Pandemie.
Die Pandemie wütet also keineswegs nur in den Metropolen, sondern auch auf dem Land, wohin die Wanderarbeiter*innen aus den Städten schon vor Monaten geflohen sind. Ihr Schwerpunkt verschiebt sich sogar zunehmend in die Dörfer, in denen die medizinische Versorgung noch weit schlechter ist als in den Städten, sodass die Menschen ohne Diagnose, ohne medizinische Betreuung und ohne Medikamente sterben. Auch wenn jetzt also die offiziellen Zahlen sinken, heißt das nicht, dass sich die Situation der Menschen in Indien wirklich verbessert.
Die Art und Weise, in der die Hindunationalisten in der COVID-Krise agieren, basiert auf einer gefährlichen Mischung aus Hochmut und Gleichgültigkeit. Wie die Schriftstellerin Arundhati Roy jüngst so kraftvoll im «Guardian» darstellte, lässt sich die humanitäre Krise nicht von der politischen Situation trennen. Denn monatelang hatte Narendra Modi über den Umgang seiner Regierung mit dem Corona-Virus geprahlt und seine Führungsstärke zur Schau gestellt. Jetzt, auf dem Höhepunkt der zweiten Welle, ist weder von ihm noch von seinem für die Pandemiebekämpfung zuständigen Innenminister, Amit Shah, irgendetwas zu sehen. Stattdessen tourten beide den gesamten April über durch den Bundesstaat Westbengalen, um dort Wahlkampf zu betreiben. Die Zentralregierung hatte die Regionalwahl, die für gewöhnlich innerhalb von zwei Tagen abgehalten wird, eigens auf einen vollen Monat gestreckt – in der Hoffnung, auf diese Weise die Wahlkreise nacheinander besuchen zu können und damit das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden. Dieses undemokratische Verhalten führte zu einer wahren Explosion der COVID-Fälle in Westbengalen und brachte noch nicht einmal das gewünschte Ergebnis: Die BJP fuhr eine krachende Niederlage ein.
Doch auch nach der Wahl wandten sich Modi und die Führungsspitze der BJP nicht etwa dem Pandemiemanagement zu, sondern fokussierten sich stattdessen auf propagandistische Imagepflege und ihr hochumstrittenes Megaprojekt, den Bau des neuen Regierungsviertels in Delhi.
Aber es sind nicht nur Gleichmut und Wissenschaftsfeindlichkeit, die zu dieser Nicht-Antwort auf die Krise führten, es ist Grausamkeit – dieselbe Grausamkeit, die hinter den Polizeirepressionen steckt, wenn Journalist*innen verhaftet werden, die kritisch über die polizeiliche Vertuschung in einem Vergewaltigungsfall berichten wollen; wenn kritische Intellektuelle öffentlich für Gewaltverbrechen verantwortlich gemacht werden, die in Wirklichkeit von hindunationalistischen Mobs gegen Angehörige der muslimischen Minderheit ausgeübt wurden; oder wenn Fridays-for-Future-Aktivist*innen eingesperrt werden, weil sie an einem Online-Toolkit mitgearbeitet haben, welches Greta Thunberg anschließend in den sozialen Medien teilte.
Durch die wachsende staatliche Repression sind inzwischen viele kritische Medien mundtot gemacht worden. Zahlreiche Professor*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen flohen ins Ausland. Der einst so vielfältige, kritische politische Diskurs in der vielleicht komplexesten Gesellschaft der Welt wird immer leiser. In einem Klima von Angst, Gleichschaltung und Hass steigt der Konformitätsdruck mit jedem Tag weiter an. In diesem Kontext wundert es nicht, dass Lastwagenladungen mit Sauerstoff verschwinden, COVID-Hilfsgelder bei hindunationalistischen Organisationen landen und die wichtigsten Politiker*innen des Landes sich mit anderen Fragen befassen, anstatt das pandemiebedingte Leid der Menschen zu lindern. Die Regierung bekämpft lieber unliebsame Narrative als das Virus. Dies bestätigt, was die geschichtliche Erfahrung ohnehin nahelegt: Nationalisten ist das Schicksal des gemeinen Volkes egal.
Aber auch von Deutschland und der EU steht derzeit wenig zu erwarten, sowohl mit Blick auf COVID, als auch hinsichtlich der Menschenrechtslage auf dem Subkontinent. Gefangen in der Hoffnung auf ein Freihandelsabkommen mit den wirtschaftsliberalen Hindunationalisten hält sich die deutsche Bundesregierung seit Jahren zurück. Sie verzichtet darauf, die bestehenden Menschenrechtsverletzungen und die autoritäre Transformation des Landes öffentlich zu kritisieren.
Vor allem aber hätte die von Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation (WTO) eingebrachte und von den Vereinigten Staaten unterstützte Initiative für eine temporäre Aufhebung des Patentschutzes für COVID-Impfstoffe ein Zeichen echter Solidarität sein können. Die vorschnelle Ablehnung dieses Vorschlages durch die deutsche Bundesregierung stellt die Profitinteressen von Pharmakonzernen über menschliches Leid; sie ist darüber hinaus auch strategisch äußerst unklug. Denn was die Corona-Krise verdeutlicht, ist, dass wir alle verbunden sind. Wir, in Europa und in Deutschland, können uns nicht von dem abkapseln was in Indien geschieht, einem Land, in dem 18 Prozent der Weltbevölkerung leben, weder politisch noch humanitär.