Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - Israel - Palästina / Jordanien «Nur reflexhaft Friedensverhandlungen zu fordern, ist nicht hilfreich»

Zu Hintergründen und Folgen der jüngsten Eskalation in Israel und Palästina

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Eine palästinensische Familie entfernt die Trümmer ihres beschädigten Hauses nach einem Waffenstillstand, der nach einem 11-tägigen Krieg zwischen der Hamas im Gazastreifen und Israel erreicht wurde (Beit Hanoun im nördlichen Gazastreifen, 21.5.2021). picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Khalil Hamra

In der letzten Zeit war es ruhig geworden um die Palästina-Frage, auch die Annäherungen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten haben Palästina weiter ins Abseits gestellt. Warum kam es gerade jetzt zu einer solchen Eskalation?

Gespräch mit Ute Beuck, Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung  in Ramallah, und Markus Bickel, Büroleiter in Tel Aviv. Das Interview führte Katja Hermann, Leiterin Referat Westasien / Referentin für Palästina und Israel der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ute Beuck: Ich denke, die Eskalation erklärt sich genau aus diesem «ins Abseits gestellt sein». Als konkreter Anlass gelten die Reaktionen auf die angedrohten Zwangsräumungen von Palästinenser*innen aus ihren Häusern im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah. Allerdings gibt es diese Auseinandersetzungen bereits seit Jahren und die von Bewohner*innen und Unterstützer*innen organisierte Solidaritätskampagne ist in der Tat nur der Auslöser der aktuellen Ereignisse. Die eigentlichen Gründe liegen wesentlich tiefer. Trotz der Oslo-Abkommen der frühen 1990er Jahre und der Gründung der Palästinensischen Administration (PA), die dem allgemeinen Verständnis nach einen palästinensischen Staat durch den Aufbau von Institutionen vorbereiten sollte, hat sich die Lage der Bevölkerung seitdem kontinuierlich verschlechtert. Die Besatzung mit all ihren Implikationen wie Siedlungsbau, willkürliche Verhaftungen, Mobilitätseinschränkungen für Palästinenser*innen etc. besteht weiterhin und hat in den vergangenen Jahren, in denen die US-Regierung unter Präsident Donald Trump Israel de facto freie Hand gelassen hat, nochmal an Fahrt aufgenommen. In den erwähnten Annäherungen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten wurde Palästina am Rande erwähnt, in den Verhandlungen spielte die Zukunft Palästinas aber keine Rolle. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat den Eindruck gewonnen, dass sein Slogan «Land und Frieden» funktioniert und Israel den Konflikt mit den Palästinenser*innen dauerhaft auf kleiner Flamme managen kann, ohne dass die palästinensische Seite irgendetwas entgegen zu setzen hat. 

Wie sich nun herausstellt, war diese Annahme falsch. Menschen lassen sich nicht auf Dauer unterdrücken und stillschweigend ihrer grundlegenden Rechte berauben. Es ist nun eine neue junge Generation am Start, für die die Oslo-Verträge kein Hoffnungsschimmer auf einen eigenen Staat sind, sondern Geschichte. Oslo gilt als «tot» und daher sind die Vertreter*innen der Oslo-Generation auch nicht mehr die Vertreter*innen der jungen Generation. Was wir gerade beobachten, ist der Ausbruch ihrer Frustration.  

Auch innerhalb Israels kam es zu Ausschreitungen zwischen den jüdischen und palästinensischen Bewohner*innen des Landes. Es ist von Mobs die Rede, die gegenseitige Angriffe verüben, die Menschen sind in großer Angst. Wie kannst Du die Situation erklären?

Markus Bickel: Der Gaza-Krieg und die innerisraelischen Ausschreitungen kommen zu einem Zeitpunkt, wo die israelische Demokratie so angegriffen ist wie seit langem nicht mehr. Vier Wahlen in zwei Jahren sind Ausdruck einer institutionellen Krise, die das Land an den Rand der Regierungsunfähigkeit gebracht hat. Das Legitimitätsdefizit ist offensichtlich: Benjamin Netanjahu und Benny Gantz als Ministerpräsident und Verteidigungsminister führen einen Krieg ohne parlamentarische Mehrheit; bislang ist es keinem Bündnis gelungen, eine Mehrheit der Abgeordneten der im März gewählten Knesset hinter sich zu scharen. Das heißt, es gibt ein Machtvakuum, und in diesem haben sich vergangene Woche Männer «ausgetobt», die seit ihrer Jugend Soziale Medien konsumieren, die von Toleranz nichts wissen wollen. Was über TikTok, Instagram und WhatsApp verbreitet wurde, überschreitet vielmals Grenzen menschlichen Anstands, es ist Aufstachelung zum Hass. Nun ist seit zwei, drei Nächten nichts mehr passiert, aber die Angst bleibt, dass es zu weiteren Ausschreitungen kommen könnte am Wochenende.  

Was bedeuten die innerisraelischen Ausschreitungen für den Zusammenhalt des Landes? 

Markus Bickel: Er wird auf eine schwere Probe gestellt. Viele Kolleginnen im Büro haben Angst, dass nachts rechte Angreifer in ihre Viertel kommen und in ihre Wohnungen eindringen. Brennende Synagogen, kurz und klein geschlagene Geschäfte, das hat Israel noch nicht gesehen – dabei hat es hier an Gewalt ja leider nie gefehlt. Seit der Staatsgründung 1948 ist Israel von Kriegen, Konflikten, Terror geprägt, aber das schmale Band der Nachbarschaft hielt einigermaßen. Da sind nun schwere Risse entstanden, die nachhaltig zu kitten nur durch Integration aller Bevölkerungsgruppen als gleiche Bürger*innen gelingen kann.

Wie werden die Raketenangriffe der Hamas gegen Israel von der palästinensischen Bevölkerung wahrgenommen? 

Ute Beuck: Das ist in der Tat ambivalent. Es gab am Anfang durchaus Stimmen, die sich über diese Aktion verärgert zeigten und darin einzig eine Taktik der Hamas sahen, den populären Widerstand in Sheikh Jarrah für sich zu vereinnahmen und sich - im Gegensatz zur PA - als Verteidigerin von Jerusalem aufzuschwingen. Man hat dies u. a. als Reaktion auf die Absage der für Ende Mai angesetzten Wahlen durch die Regierung in Ramallah gewertet, durch die sich die Hamas benachteiligt sah. Es ist aber in der Tat so, dass für die Mehrheit der Palästinenser*innen Jerusalem die «rote Linie» ist, hinter der sich alle vereinigen. Die Bilder von israelischen Sicherheitskräften, die während des Fastenmonats Ramadan den Haram Al-Sharif/Tempelberg in Jerusalem stürmten und die dort Versammelten mit Tränengas und Blendgranaten beschossen, hat definitiv in allen gesellschaftlichen Kreisen große Empörung ausgelöst.

Wie geht es den Menschen im Gazastreifen?

Die dauerhafte Besatzung, die Abriegelung des Gazastreifens mit dramatischen Auswirkungen auf die dortigen Lebensbedingungen, führt bei den allermeisten Palästinenser*innen auch zu dem Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben. Man setzt keinerlei Hoffnung mehr in Verhandlungen und in die Zusammenarbeit mit Israel, wie es die PA beispielsweise im Rahmen der Sicherheitskooperation immer noch tut. Die Bevölkerung unterstützt in diesen Tagen weitgehend jede Form von Widerstand. Ganz klar zu betonen ist dabei aber, dass es sich dabei um das Prinzip des Widerstands an sich handelt und nicht um eine politische oder ideologische Unterstützung der Hamas. Man findet Mitglieder anderer Parteien, völlig unpolitische oder auch nicht religiöse Menschen, die in dieser Zeit die Aktionen der Hamas befürworten. Sie lehnen dabei aber ebenfalls das israelische – und in vielen westlichen Medien reproduzierte – Bild ab, nachdem Hamas mit den Angriffen begonnen und damit Vergeltungsschläge provoziert hat. Für sie ist es die Wahrnehmung ihres Rechts auf Widerstand gegen eine seit Jahrzehnten andauernde illegale Besatzungsmacht. Das Wort «Karamah» (arab. Würde) fällt in dem Zusammenhang sehr oft.

Auf der anderen Seite ist das Leiden der Menschen im Gazastreifen natürlich immens und für sie nach über einer Woche Dauerbombardements kaum noch zu ertragen. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Küstenstreifen seit Jahren durch Israel und Ägypten abgeriegelt ist, d.h. eine Flucht vor den Bomben ist nicht möglich. Und natürlich ist der Mehrheit der Menschen auch bewusst, dass die Hamas mit Israel einen Waffenstillstand aushandelt, der weder nachhaltig sein wird, noch werden die Forderungen, die die Hamas aufstellen wird, am Ende erfüllt. Wie gesagt, die Unterstützung gilt mehr dem Prinzip des Widerstandes an sich als der Hamas.

Von der Palästinensischen Regierung in Ramallah ist wenig zu hören, was bedeutet das für das Kräfteverhältnis zwischen Fatah und Hamas?  

Ute Beuck: Die durch die Fatah-Partei dominierte PA hat seit Jahren den Ruf, unfähig und korrupt zu sein. Als sie die für Mai angesetzten ersten Parlamentswahlen seit 15 Jahren unter dem Vorwand absagte, dass sie keine Wahl ohne Jerusalem stattfinden lasse, hat sie sich zum einen dem Diktat Israels gebeugt, damit aber auch die Bevölkerung ihres Rechts auf eine freie Wahl ihrer Regierung beraubt. Das war vermutlich einer der größten Fehler, den sie in den vergangenen Jahren gemacht hat. Der Prozess der Wahlvorbereitung hat nach Jahren des Stillstands Hoffnung auf politische Bewegung geweckt, die nun wieder nicht erfüllt wurde. Die PA hat damit den letzten Rest an Glaubwürdigkeit, den sie vielleicht noch hatte, wohl endgültig verspielt. Vermutlich deswegen hielt sie sich seit Beginn der Eskalation auffällig zurück. Sie bewegt sich auf diplomatischem Parkett, tritt in der UN auf, trifft ausländische Diplomat*innen, aber tritt darüber hinaus aber kaum in die Öffentlichkeit. Der Widerstand gegen sie wird spürbar mehr. In den Sozialen Medien werden trotz anhaltender Repressionen offen Unmengen an kritischen Kommentare über sie geteilt. Es gibt mehrere Berichte, dass Fatah-Anhänger, die mit Fahnen oder Bildern von Präsident Abbas auf den Haram Al-Sharif/Tempelberg gingen, von den dort Anwesenden verjagt worden sind.

Was wir jetzt sehen, ist das Entstehen einer neuen, unabhängigen und vor allem Grenzen überschreitenden palästinensischen Bewegung. Wir haben in dieser Woche den ersten gesamtpalästinensischen Streik seit 1936 gehabt, dem Palästinenser*innen der besetzen Gebiete und Israel geschlossen gefolgt sind. Es gab darüber hinaus Unterstützungsaktionen in der Diaspora wie beispielsweise in Beirut, und wir haben auch große Demonstrationen in ganz Europa und in den USA. Dies ist das, was gerade Hoffnung macht. Es ist politisch etwas in Bewegung gekommen, das mit dem Ende der Eskalation nicht einfach wieder verschwinden wird. In welche Richtung die Entwicklung gehen, ist zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht zu sagen.

Beobachter*innen gingen davon aus, dass es nicht zu einem schnellen Ende der Eskalation kommen würde, auch, weil es nur wenig internationalen Druck auf die Konfliktparteien gab. Für wie nachhaltig hältst Du den in der letzten Nacht vereinbarten Waffenstillstand?  

Markus Bickel: Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Gantz haben den USA sehr deutlich gemacht, dass sie selbst über die Dauer dieses Krieges bestimmen werden. Dreimal hat Joe Bidens Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York ein Veto eingereicht gegen Resolutionen, die das israelische Vorgehen kritisierten. Deshalb war die Forderung nach sofortigem Waffenstillstand die einzig vernünftige, die erhoben werden konnte angesichts von so vielen Toten in so kurzer Zeit. Hoffen wir, dass er hält. Aber natürlich braucht es darüber hinaus auch eine politische Lösung.

Was bedeutet die gegenwärtige Situation für progressive Kräfte in Israel und Palästina? Was sind ihre Forderungen, wie können wir sie unterstützen?

Markus Bickel: Auf palästinensischer Seite ist ein Rückzug in die eigene Community zu beobachten. Aber zugleich auch eine unheimliche Politisierung, ein gewachsenes Bewusstsein dafür, dass sich Palästinenser*innen nicht spalten lassen. Nicht nur nicht in den vier Entitäten, in die sie die israelische Besatzungspolitik zwingt – Gaza, Westjordanland, Ostjerusalem und Israel selbst – sondern auch weltweit nicht. Der Druck auf die israelischen Behörden, diesen Kampf für mehr Bürgerrechte und Demokratie anzunehmen, wird wachsen. Und da hilft jedes Zeichen internationaler Solidarität, ganz gleich ob aus Chile oder Deutschland.

Für die Angehörigen der jüdischen Mehrheitsbevölkerung stellt sich natürlich die Frage, welche Werte sie in einer künftigen Regierung nach Netanjahu vertreten sehen wollen. Kurz vor Beginn des Gaza-Kriegs stand ja die erste jüdisch-arabische Koalition in der Geschichte Israels im Raum. Eine solche kann weiterhin zustande kommen, wenn die progressiven Kräfte um Meretz, Avoda und den Zukunftsblock Jair Lapids zusammenstehen und die beide großen arabischen Blöcke von einer Zusammenarbeit überzeugen können. Der israelischen Zivilgesellschaft, die dieser Tage überall im Land protestiert gegen Krieg und Besatzung, würde durch eine solche Allianz auf jeden Fall der Rücken gestärkt.

Ute Beuck: Netanjahu wurde vor einigen Tagen mit dem Satz «Das Ziel des Gaza-Einsatzes ist eine möglichst lange Ruheperiode» zitiert. Und genau darum geht es nicht. So notwendig es aus humanitären Gründen natürlich war, schnellstmöglich zu einer Einstellung der Bombardierungen zu kommen, kann und darf dies nicht das alleinige Ziel internationaler Interventionen sein. Die Besatzung der palästinensischen Gebiete besteht seit über 50 Jahren und dieser Zustand muss endgültig beendet werden. Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang aber nicht, wieder nur reflexhaft die Rückkehr zu Friedensverhandlungen zu fordern, wohl wissend, dass diese in der Vergangenheit eine Zweistaaten-Lösung nicht nähergebracht haben. Die israelische Regierung hat in den letzten Jahren durch den Siedlungsausbau de facto eine Einstaaten-Realität verfestigt. Man muss sich nun offen mit den unter den jetzigen Bedingungen realen Möglichkeiten auseinandersetzen und Handlungen daran anknüpfen. Ansonsten wird das gefordert, was seit Jahren gefordert wird: dass die internationale Gemeinschaft nicht mit zweierlei Maß misst und das auf die Nichteinhaltung internationalen Rechts durch die verschiedenen Parteien nicht nur verbale Statements folgen, sondern auch entsprechende Sanktionen.