Nachricht | Wirtschafts- / Sozialpolitik - Golfstaaten - Sozialökologischer Umbau Bericht aus Saudi-Arabien

Die drohende Ölkrise und mögliche Strategien für wirtschaftliche Diversifizierungen und Regulierungsreformen

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Autorin

Alice Kos,

Skyline Aramco
Aramco ist die größte Erdölfördergesellschaft der Welt und der staatliche Ölkonzern Saudi-Arabiens, Firmenzentrale in Dhahran ist die größte Erdölfördergesellschaft der Welt und der staatliche Ölkonzern Saudi-Arabiens, Firmenzentrale in Dhahran Foto: Eagleamn, Wikimedia Commons

Seit der Ölpreiskrise der OPEC (Organization of the Petroleum Exporting Countries; Organisation der erdölexportierenden Länder) 1973 hat sich das Königreich Saudi-Arabien zu einer der größten erdölabhängigen Wirtschaften weltweit entwickelt. Der im Zusammenhang mit Erdöl erwirtschaftete Reichtum hat zur inneren Stabilität des Landes beigetragen, was sich in umfangreichen Sozialleistungen und Sonderrechten für saudische Bürger*innen widerspiegelt. Öl ist also nicht nur das Bindemittel der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, sondern diente während einer bestimmten Zeit auch als machtpolitisches Instrument für die Ausbildung der hybriden kapitalistischen und absoluten religiösen Monarchie unter der Herrschaft der Al-Saud-Dynastie.

Der Verfall des Ölpreises zwischen 2015 und 2018 hat die erdölexportierenden Länder hart getroffen und brachte Saudi-Arabien an den Rand einer Finanzkrise. In diesem Kontext wurde der «Ölkonflikt» [1] mit Russland als ein Versuch des Königreiches wahrgenommen, die Energiekrise zu instrumentalisieren, und das, obwohl der saudische Energieminister 2018 betonte, Saudi-Arabien habe nicht die Absicht, das Ölembargo von 1973–74 zu wiederholen. Er bezeichnete die Energiepolitik des Königreiches als verantwortungsvoll und nicht politisch motiviert. Auch wenn Letzteres vielleicht nicht ganz zutrifft, denkt das Königreich doch zum ersten Mal in seiner Geschichte über Alternativen für die Zukunft und eine nicht fast ausschließlich auf Erdöl basierende Wirtschaft nach.

Alice Kos promovierte in Politwissenschaften und Soziologie. Zu ihren interdisziplinären Forschungsschwerpunkten gehören Politikanalyse, Sozialtheorie, Gendertheorie sowie feministische Politik und Kultur. Sie ist Autorin mehrerer Studien über soziale und geschlechtsspezifische Folgen von Austeritätspolitik in Europa und hat Sozialforschung in der MENA-Region betrieben. Aktuell ist sie als unabhängige Wissenschaftlerin tätig.

Bereits vor Beginn der Corona-Pandemie startete der zum Kronprinzen ernannte Mohammed Bin Salman eine neue politische Initiative zur wirtschaftlichen Diversifizierung des Landes. Die 2018 ins Leben gerufene «Saudi Vision 2030» spiegelt die ambitionierte Reformstrategie des Kronprinzen wider. Der in der «Saudi Vision» beschriebene Reformprozess zielt auf die grundlegenden Strukturen des öffentlichen Sektors ab. Gleichzeitig ist er als Startpunkt einer Modernisierung gedacht, in deren Zuge sich auch das internationale Image als tiefreligiöses Land zugunsten eines «gemäßigten islamistischen Staates» [2] verschieben soll. Obwohl er saudischen Frauen bestimmte Rechte zuerkennt, die Macht der Religionspolizei (mutawa) einschränkt und bestimmte Formen politischer Vertretung etabliert (z.B. Kommunalwahlen), so rührt der Reformplan doch nicht an die traditionellen Strukturen der Macht innerhalb des saudischen Staates. In diesem Kontext werden die geplanten ökonomischen Reformschritte von der Mehrheit der Wirtschaftsvertreter*innen des Landes als Versuch der Diversifizierung begrüßt, die die innere Stabilität sichern soll, die potenziell von der Finanzkrise, von Menschenrechtsbewegungen mit internationaler Wirkung und anderen aufkommenden säkularen Bewegungen bedroht ist. An diesem Punkt ist zu erwähnen, dass die Unterdrückung von Emanzipationsversuchen und säkularem Widerstand jeder Art zum Fundament des saudischen Staates und zu den strategischen Zielen der beiden berühmten früheren Herrscher, König Ibn Saud, Gründer des Staates Saudi-Arabien, und König Faisal [3], gehörte.

In diesem Referenzrahmen bilden der Tourismus und die Freizeitindustrie die beiden neuen Eckpfeiler der ökonomischen Entwicklung und der Diversifizierung der Wirtschaftsaktivitäten des Landes. Die «Saudi Vision» bietet Garantien für 91 neue Tourismuseinrichtungen und kündigt Unterstützung durch Kredite in Höhe von 64 Millionen SAR für zusätzliche Investitionen in der Tourismusbranche an. Die Bildung von Entwicklungsbehörden in Form unabhängiger Rechtseinheiten (z.B. die Allgemeine Unterhaltungsbehörde, die Saudische Tourismusbehörde und verschiedene vom saudischen Kulturministerium genehmigte Kulturbehörden) ist ebenfalls ein wichtiger Schritt, um private Investitionen in der Tourismus- und Freizeitindustrie zu fördern. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch, dass die saudischen Bürger*innen nunmehr als potenzielle Kund*innen und Verbraucher*innen auf dem Tourismus- und Freizeitmarkt angesehen werden. Durch fehlende Urlaubs- und Freizeitangebote im Land gingen nämlich bisher erhebliche Beträge im Jahreseinkommen verloren und das BIP des Landes wurde im Ausland investiert – Saudis machten in Europa oder in den benachbarten Emiraten Urlaub (zuweilen auch wegen des im eigenen Land immer noch verbotenen Konsums von Alkohol). Insofern ist die Entwicklung dieses Sektors maßgeblich, um saudisches Kapital im Land zu behalten. Unter die Bemühungen um Diversifizierung fällt außerdem, dass der Staat durch ein ausgeklügeltes System zur Kürzung der Staatsausgaben (dazu gehören Einschnitte im öffentlichen Sektor, Gehaltskürzungen und Personalabbau) weniger interventionistisch werden soll.


[1] Am 8. März 2020 begann Saudi-Arabien mit Russland den sogenannten Ölpreiskrieg, der einen vierteljährlichen Verfall des Ölpreises um 65 Prozent auslöste. Im Ergebnis zog sich Russland aus den Vereinbarungen zur Koordinierung des Ölpreises mit den OPEC-Mitgliedsstaaten zurück. Alex Ward, «Saudi Arabia – Russia oil war explained», Vox, 9. März 2020.

[2] Zum Konzept des gemäßigten Islams siehe: James Reinl, «Saudi drive to moderate Islam welcomed at UN», 30. Oktober 2017, Arab News.

[3] Das Bündnis des Landes mit den USA wurde 1945 am Beginn des Kalten Krieges geschlossen. Das Land hatte eine Schlüsselstellung in der Abwehr des Kommunismus in der Region. Toby Matthiesen, «The cold war and the communist party of Saudi Arabia», 1975–1991, Journal of Cold War Studies, Band 22, Punkt 3, Sommer 2020, S. 32–62.