Interview | Cono Sur - Sozialökologischer Umbau - COP26 - Green New Deal - Klimagerechtigkeit Energiewende – zu Lasten von wem?

Lucio Cuenca Berger im Interview

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Lucio Cuenca Berger
Lucio Cuenca Berger ist Leiter des lateinamerikanischen Observatoriums für Umweltkonflikte (OLCA) und trat als unabhängiger Kandidat für die Verfassungsgebende Versammlung in Chile an. Foto: Miguel Hechenleiner/Organisation OLCA

Die Produktion von «grünem Wasserstoff» in Chile ist Teil verschiedener nationaler und internationaler Entkarbonisierungs-Strategien – mit teils massiven sozialökologischen Folgen.

Chile ist weltweit eines der führenden Länder was die Etablierung von Pilotprojekten zur Herstellung von «grünem Wasserstoff» angeht. Es gehört zu den wenigen Ländern der Welt, die über eine nationale Strategie für «grünen Wasserstoff» verfügen. Das wachsende Interesse an der Produktion und dem Export des neuen Energieträgers wird auch aus Deutschland gefördert. Dabei ist die chilenisch-deutsche Zusammenarbeit unter anderem darauf ausgerichtet, die Mega-Bergbauindustrie rund um Kupfer und Lithium vermeintlich «grüner», das heißt umweltfreundlicher, zu machen.

Über den Einzug des grünen Wasserstoffs in das chilenische Energiemodell und über seine sozialen und ökologischen Auswirkungen sprachen wir mit dem Ingenieur Lucio Cuenca Berger. Lucio ist Leiter des lateinamerikanischen Observatoriums für Umweltkonflikte (OLCA), einer Partnerorganisation der Rosa Luxemburg-Stiftung, und hat als unabhängiger sozialökologischer Kandidat des Red No Alto Maipo und der Bewegung für Wasser und Territorien (MAT) für die chilenische Verfassungsversammlung kandidiert.

Wasserstoff selbst ist keine Energiequelle, sondern ein Energieträger. Zu seiner Herstellung, der Spal-tung von Wasser in seine Bestandteile (Elektrolyse), muss Strom eingesetzt werden. Als «grün» wird Wasserstoff bezeichnet, wenn er mit Hilfe von erneuerbaren Energien erzeugt wurde. Auf seiner Basis soll die Energiewende auf den Verkehrs-, Industrie- und Wärmesektor erweitert werden. 

In welchem Rahmen findet die Ausgestaltung der chilenischen Energiepolitik und die Einführung von grünem Wasserstoff aus Deiner Sicht statt?

Im Juli 2020 hat der Präsident Sebastián Piñera in seiner jährlichen Ansprache an den Kongress gesagt: «Chile kann sich in einen starken Energieexporteur entwickeln. Insbesondere angesichts der vielversprechenden Aussichten, die der grüne Wasserstoff bietet, der – mehr noch als der Bergbau in unserem Land – zu einer Quelle der Entwicklung und der Exporte werden kann». Das war das erste Mal, dass sich ein hochrangiges Regierungsmitglied dazu geäußert hat, welche Rolle dem grünen Wasserstoff für die chilenische Energie- und Exportpolitik zugesprochen wird.

Chile ist das erste lateinamerikanische Land, das eine nationale Strategie für grünen Wasserstoff hat, die im November 2020 vom Energieministerium herausgegeben wurde. Obwohl man sagt, dass diese Strategie Ergebnis der Zusammenarbeit von Unternehmen, der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und dem öffentlichen Sektor war, kamen die Beteiligten tatsächlich vor allem aus dem Energie- und Extraktivismusgeschäft. Und es gab keine Befragung der Bevölkerung zu dem Thema. Noch steckt der grüne Wasserstoff in den Kinderschuhen. Pilot- und Demonstrationsprojekte sind noch in der Entwicklungsphase. Derzeit werden zwei Projekte entwickelt und es läuft eine Ausschreibung für neue Projekte.

Letztendlich schaffen internationale Organisationen die Bedingungen und Rechtfertigungsgründe dafür, dass die grüne Wasserstoff-Strategie in Chile in den Fokus gerät. Die Internationale Energieagentur (IEA) sagt beispielsweise, dass Chile in der Lage ist, grünen Wasserstoff zu den niedrigsten Kosten der Welt zu produzieren – für unter 1,60 USD pro Kilo. Und der Weltenergierat – Deutschland e.V. hat Chile 2018 in seinem Bericht hinsichtlich seines Produktionspotentials für erneuerbare Energien als «versteckten Champion» bezeichnet. Die Washington Post nannte Chile sogar schon im Jahr 2017 «das Saudi-Arabien der erneuerbaren Energien».  Die Erzeugung von grünem Wasserstoff erfordert elektrische Energie aus erneuerbaren Quellen, wofür Chile die wichtigsten Potenziale der Welt habe.

Das Interview führte Elisangela Soldateli Paim, Koordinatorin des lateinamerikanischen Klimaprogramms der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Unserer Beobachtung nach wird das Interesse an grünem Wasserstoff u. a. von Deutschland aus gefördert. Im Auftrag des deutschen Bundesumweltministeriums hat die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) beispielsweise die Arbeit mit dem chilenischen Energieministerium und dem Verband zur Produktionsförderung CORFO aufgenommen, um speziell den Bergbausektor in den Blick zu nehmen, der einen enormen Energieverbrauch hat und einen der wichtigsten extraktiven Industriesektoren des Landes darstellt. Seit 2017 gibt es zwei kofinanzierte Forschungsprojekte im Bereich des großflächigen Bergbaus. Zudem war die GIZ maßgeblich an der Organisation der ersten internationalen Seminare zum Thema Wasserstoff in Chile beteiligt, die im Mai 2017 und September 2018 stattfanden und die Aufmerksamkeit der wichtigsten Vertreter*innen aus Regierung, Industrie und Wissenschaft auf sich zogen. Das Energieministerium arbeitet momentan mit Unterstützung der GIZ und anderen nationalen und internationalen Organisationen an einem offiziellen Rechtsrahmen für den Wasserstoffmarkt. Ein wichtiger Meilenstein in diesem Prozess war die Gründung der Chilenischen Wasserstoffvereinigung (H2 Chile) im Januar 2018 mit dem Ziel, die Wasserstoffproduktion in Chile zu fördern und so, zusammen mit dem Export, die Energiewende zu beschleunigen.

Chile verfügt über eine installierte Stromerzeugungskapazität, die fast doppelt so hoch ist wie der Bedarf des Landes. Fast 20 Prozent werden bereits aus erneuerbaren Energien erzeugt, und ein Übergang zur Entkarbonisierung der Energiematrix könnte sofort eingeleitet werden, ohne dabei das Leben der Landbevölkerung so substanziell zu beeinträchtigen, wie es durch viele fragwürdige Bergbauaktivitäten bisher der Fall ist. Vor diesem Hintergrund versteht man, dass grüner Wasserstoff nicht nur Teil einer rein chilenischen Strategie der Entkarbonisierung und Energiewende ist.

Was sind die Hauptakteure und die Interessen an den Plänen zur Erzeugung und zum Export von Wasserstoff aus Chile?

In Chile gehen die Interessen transnationaler Unternehmen und die exportfördernde neoliberale Bergbaupolitik Hand in Hand. Das meiste öffentliche und private Interesse in Bezug auf grünen Wasserstoff läuft heute in der Chilenischen Wasserstoffvereinigung (H2 Chile[1] zusammen. Laut ihrem Präsidenten kann «Chile eine wichtige Rolle spielen, um beispielsweise Deutschland bei der Erreichung seiner Ziele für die Energiewende zu unterstützen». Das zeigt uns, dass es Länder gibt, die ihre Entkarbonisierungsstrategie auf die Produktion von grünem Wasserstoff in Ländern wie Chile stützen. Und wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, dass dahinter nationale und ausländische Energie- und Bergbauinvestitionen stecken – mit chilenischen Unternehmen wie Enaex, Enap, Andes Mining & Energy und Colbún und transnationalen Firmen wie dem französischen Engie, Enel Green Power mit italienischem Kapital und Siemens Energy aus Deutschland.

Gleichzeitig hat der Bergbausektor ein großes Interesse daran, seine Expansionserwartungen an grünen Wasserstoff zu knüpfen. Dahinter stecken zwei Ziele: einerseits sollen die tiefgreifenden Zweifel an den sozialen und ökologischen Auswirkungen des Bergbaus zerstreut werden, indem das Image einer «wettbewerbsfähigeren» und «nachhaltigeren» Bergbauindustrie aufgebaut wird. Und das andere Ziel ist es, einen finanziellen Mehrwert zu schaffen, indem mit «grünem Kupfer» bessere Preise erzielt werden. Darüber hinaus muss erwähnt werden, dass die erneuerbare, nicht konventionelle Energiewirtschaft neben der Produktion von grünem Wasserstoff auch auf den Ausbau großer Wind- und Solarenergieprojekte setzt.

Die Zahlen, auf denen dieses beginnende neue Bergbaugeschäft basiert, stützen sich auf die Menge an grünem Wasserstoff, die in Chile produziert werden kann. Unser Land könnte ungefähr 200 Tonnen grünen Wasserstoff pro Jahr produzieren. Dies würde ungefähr das Dreifache der gegenwärtigen weltweiten Wasserstoffproduktion (schwarzer und grauer Wasserstoff, der aus fossilen Quellen gewonnen wird) ausmachen, die bei 70 Tonnen pro Jahr liegt. Dieses Potenzial, das Chile zu haben scheint, rechtfertigt die Ausweitung des Extraktivismus zur Produktion von grünem Wasserstoff im Land.

Welche sozialen und ökologischen Auswirkungen werden durch den möglichen Fortschritt der grünen Wasserstoffproduktion im Land verursacht beziehungsweise verstärkt?

Teile im Norden Chiles und insbesondere die Atacama-Wüste, in der das Potenzial der Sonneneinstrahlung zur Stromerzeugung für die Produktion von grünem Wasserstoff ermittelt wird, sind stark von den Auswirkungen des Bergbaus betroffen. Insbesondere aufgrund der Übernutzung und Kontamination von Wasser, der Luftverschmutzung in Städten, aber auch durch die sogenannten «Opferzonen» in Küstengebieten, in denen Kohlewärmekraftwerke, Bergbaugießereien und Transportdienste für den Bergbau betrieben werden. Auf der anderen Seite verfügt die Magellan-Region in Patagonien, wo auch Windkraftpotential vorhanden ist, im Vergleich zu Nordchile über reichlich Wasser. Dort aber sind die Ökosysteme viel fragiler und die klimatischen Bedingungen für das Leben menschlicher Gemeinschaften viel extremer.

In den ausgiebigen Diskussionen rund um grünen Wasserstoff besteht die Tendenz, nicht über die erforderlichen Wassermengen und die sozioökologischen Auswirkungen durch die Entsalzung des Meerwassers oder die Installation riesiger Wind- und Solarfelder zu sprechen. Diese Strategie des Greenwashings des Bergbaus wird auch genutzt, um den nun «grünen» Abbau von Kupfer und Lithium auszuweiten, ohne dabei die territorialen und sozialen Auswirkungen sowie speziell diejenigen auf die indigene Bevölkerung zu berücksichtigen.  

Der grüne Wasserstoff wird also als die großartige Lösung zur Entkarbonisierung präsentiert, während man über die lokalen Auswirkungen, die er verursachen oder verschlimmern wird, schweigt.

Letztendlich werden es die Länder des globalen Südens sein, die die sogenannte «Energiewende» tragen müssen – zum Nachteil der lokalen Gemeinschaften und ihrer Gebiete.

Du warst Kandidat für die Verfassungsgebende Versammlung in Chile. Welche Perspektiven gibt es Deiner Meinung nach für einen möglichen Wandel des Energiemodells angesichts des aktuellen politischen Szenarios in Chile?

Inmitten des derzeitigen Prozesses für die Entwicklung einer neuen Verfassung erlaubt die Debatte eine eingehende Infragestellung des chilenischen Energiemodells. Das Recht auf Energie muss gemeinschaftlich aufgebaut werden – und zwar im Sinne eines anderen Paradigmas, als dem, das wir gerade haben. Zudem müssen wir diese falschen Lösungen, die uns angesichts der Klimakrise vorgeschlagen werden, in Frage stellen. Chile befindet sich heute in einer beispiellosen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krise. Als Lösung für die Krise schlägt die Regierung einen Konjunkturplan vor, der eine Steigerung des Extraktivismus vorsieht und die Umsetzung verschiedener Projekte, insbesondere im Energiesektor, erleichtern soll. 

Daher ist es von grundlegender Bedeutung, dass wir uns im Rahmen der Verfassungsdebatte gemeinsam der Umwelt- und Sozialkrise stellen. Dies erfordert die Abschaffung des Staates nach dem Subsidiaritätsprinzip, das Ende der Privatisierung der Natur sowie Fortschritte hin zu einem plurinationalen Staat, der die indigenen Völker und die Natur in der Verfassung als Rechtssubjekte anerkennt und in dem das Leben der Gemeinschaften und der Ökosysteme wertgeschätzt werden und letztendlich die Basis für eine postextraktive Energiewende geschaffen wird.

Welche Alternativen, dem extraktiven Modell entgegenzuwirken, schlagen die indigenen Gemeinschaften vor? 

Die Diskussion um eine neue Verfassung geht mit einer tiefgreifenden Infragestellung des aktuellen Modells einher. Tatsächlich hat diese Debatte ihren Ursprung aber in territorialen und sozioökologischen Kämpfe, die viel älter sind. Von dort kommen transversale Vorschläge, wie die Entprivatisierung des Wassers, das Recht auf Renaturierung, die gemeinschaftliche Verwaltung von Wasser sowie die Wahrung der Rechte der Natur der indigenen Völker.

Es sind die organisierten Gemeinschaften, die seit jeher extraktivistische Projekte in Frage stellen und überaus wichtige Kämpfe zur Verteidigung ihrer Territorien geführt haben. Heute gibt es im Verfassungsprozess viele Kandidat*innen, die die territorialen Stimmen vertreten, um Vorschläge der Gemeinden in die Verfassungsgebende Versammlung einzubringen und letztendlich historische Forderungen in die neue Verfassung aufzunehmen, wie eben das Menschenrecht auf Wasser und dessen kommunale Verwaltung; die Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt; und die Selbstbestimmung der Völker


[1] Zu den Partnerunternehmen gehören: Austria Energy, Aes Gener, TCI Gecomp, Colbun, FRV, Cummins Chile, Enagas, Sumitomo Corporation (Chile) Limitada, Engie, Busso group, Siemens Energy (Deutschland), ABB, Grupo Energy Lancuyen, Pronor Green Energy, Enel Green Power, Prime Energía, Enex, Antofagasta Minerals, IVM (Anwaltskanzlei), Solek, Interenergy, Tractebel Engie, RWE, Teching (Ingenieurwesen und Bau), Antuko, Andes solar, COPEC, Air Liquide, SPHERD Energy.