Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Südliches Afrika Grammatiken des Genozids

Geschichte im Gespräch

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Schuhe von Opfern des Konzentrationslagers Majdanek, ausgestellt im United States Holocaust Museum in Washington, DC. CC BY 2.0, Flickr/rpavich

Der Begriff «Genozid» wurde geprägt, um eine Grundlage zu schaffen, auf der wir über die Massengräueltaten des 20. Jahrhunderts nachdenken können. Während die Shoah den Bezugspunkt für unser Verständnis der Schrecken von Ruanda 1994 darstellt, erinnern diese auch schmerzhaft an die deutsche Geschichte in Afrika. Wie können wir den Unterschieden, Gemeinsamkeiten und Eigenheiten von Massenverbrechen gerecht werden und die unsichtbaren Verbindungslinien aufzeigen, die unseren Anteil daran offenlegen? Und was lernen wir daraus über sich verschiebende, aber unausgesprochene Grenzen der Menschlichkeit?

Der Gedanke: Verbindungen herstellen

Wenn ich mir die verschiedenen Ereignisse vor Augen halte, die zu dem folgenden Gespräch geführt haben, erinnere ich mich an Pumla Gobodo-Madikizelas Vorstellung ihres damals frisch erschienenen Buchs A Human Being Died That Night («Ein Mensch starb in jener Nacht») im Berliner Völkerkundemuseum im Jahr 2004. Das Buch gibt Pumlas Gespräche mit dem ehemaligen südafrikanischen Sicherheitschef Eugene De Kock wieder, der nach seiner Inhaftierung wegen Verbrechen an Schwarzen Anti-Apartheids-Aktivist*innen seine Schuld einsah und sich daraufhin mit den Opfern und deren Hinterbliebenen identifizierte. Für das deutsche Publikum war diese Vorstellung schwer zu ertragen. Das anschließende Gespräch drehte sich um den Vergleich der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission mit den Nürnberger Prozessen. In Erinnerung geblieben ist mir Pumlas Aussage, sie habe den Medusa-Effekt an sich erfahren, kurz nachdem sie in De Kock einen Menschen erkannt habe. Ihre Grußhand blieb einige Zeit gelähmt. Ich erinnere, dass mich die Debatte leicht verwirrt zurücklies, und doch den Wunsch in mir weckte, jene Perspektiven besser verstehen zu wollen, die mit meinen eigenen unvereinbar schienen. 

Richard Benda, Luther King House/Universität Durham, ist Zeitzeuge und Forscher zum (ruandischen) Völkermord und Post-Konflikt Transformationsprozessen.

Florian Weis, Rosa Luxemburg Stiftung, ist Historiker und hat ausgiebig zur britischen Geschichte, zur europäischen Arbeiter*innenbewegung sowie zur Geschichte des Antisemitismus und der Shoah gearbeitet.

Dorothee Braun ist Leiterin des Regionalbüros Ostafrika der Rosa Luxemburg Stiftung in Dar es Salaam, Tansania.

[Übersetzung von Max Henninger und André Hansen für Gegensatz Translation Collective]

Ich begegnete Pumla im Dezember 2018 erneut, mittlerweile war sie Forschungsprofessorin für Studien zu historischen Traumata und Transformation an der Universität Stellenbosch in Südafrika. In dieser Funktion organisierte sie ein internationales Forum für die Erforschung und Bezeugung historischer Traumata mit dem Titel Recognition, Reparation, Reconciliation: The Light and Shadow of Historical Trauma («Anerkennung, Wiedergutmachung, Versöhnung: Licht und Schatten historischer Traumata»). Dort hielt Achille Mbembe seinen Vortrag über politische Traumageschichten und traumatogene Institutionen, wobei er bei Letzteren insbesondere an Kapitalismus und liberale Demokratie dachte. Ein Jahr später wurde Mbembe in Deutschland Gegenstand heftiger Kritik.

Das Forum in Stellenbosch sollte eine Plattform für die Erforschung von Gewaltgeschichten auf dem Kontinent und darüber hinaus bieten. Es war offen für unterschiedliche Perspektiven und schmerzhafte Zeugnisse. Dazu gehörten der Bericht von Richard Benda über seine persönliche Geschichte als Zeuge des Genozids in Ruanda und seine Forschung zu den «Youth Connekt Dialogues», die 2013 von Art for Peace veranstaltet wurden, einer Vereinigung junger ruandischer Künstler*innen, die sich für Wahrheit und Versöhnung einsetzen, unter besonderer Berücksichtigung der jüngeren Generationen. Finanziert von der IMBUTO-Stiftung von Ruandas First Lady Jeanette Kagame brachten diese Dialogforen Hunderte von jungen Menschen zusammen, die ihre Geschichten erzählten: von sozialer Entrechtung aufgrund dessen, was sie als transgenerationale Schuldzuweisungen wahrnahmen, vom Misstrauen seitens der Überlebenden, ihrem Wunsch beim Wiederaufbau des Landes zu helfen oder die Würde der Mütter, die ihre Kinder verloren hatten, wiederherzustellen. Nach seinem Vortrag bat ich Richard, das RLS-Regionalbüro in Ostafrika bei der Entwicklung eines Programms in Ruanda zu unterstützen.

Im Zuge der «Mbembe-Debatte» tauschte ich mich mit Florian Weis darüber aus, wie man einen Dialog zwischen unterschiedlichen Gewaltgeschichten herbeiführen kann, ohne Besonderheiten zu vernachlässigen oder starren Kategorisierungen verhaftet zu bleiben. Auf der Suche nach Antworten auf Florians einschlägige Fragen kam die Idee zu diesem Gespräch auf. Florian kennt sich nicht nur bestens in der europäischen Arbeiter*innenbewegung, der jüdischen Geschichte und der Geschichte des Antisemitismus und der Shoah aus. Während er in den 1990er Jahren zum Verhältnis der britischen Labour Party zum deutschen Nationalsozialismus forschte, kam es zum Ausbruch der Bürgerkriege in Ruanda (1994) und im ehemaligen Jugoslawien, insbesondere in Bosnien (1992–1995). So wurde Florians Verständnis der Vergangenheit von der erlebten Gegenwart geprägt und umgekehrt.

Ich bin überzeugt, dass diese Stränge auf komplexe Weise ineinandergreifen, wie das folgende Gespräch über die verschiedenen Formen zeigt, in denen Gewalt, Grauen und Leid ausgedrückt, artikuliert, erzählt oder geäußert und verstanden werden. Und doch findet darin eine Suche nach Berührungspunkten statt, nach zugrundeliegenden Mustern, die verschiedene Geschichten, Perspektiven und Ideen streift, um schließlich im titelgebenden Begriff der Grammatiken des Genozids zu münden.

Dorothee Braun


Jede Form von Gewalt hat ihre eigene Art, den Anderen zu kontaminieren, heimzusuchen, zu berühren, zu streicheln und ihm zuzuflüstern. Sie verfügt über eine besondere Kraft, die sich jedoch wie eine Flüssigkeit verhält, da sie verschütten und in Räume sickern kann, die wir für abgegrenzt und vom Anderen unberührt halten.

(Tiffany Lethabo King, Vorwort zu The Black Shoals [1])

Dorothee Braun: Ruanda 1994 und der Holocaust gelten als zwei der schrecklichsten und komplexesten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Die Tragödie von Ruanda kann, hinsichtlich der Gräueltaten und in Bezug auf die Ausgeprägtheit der kollektiven Identitäten sowie auf deren bewusste, planmäßige Vernichtung, überzeugend mit der Shoah in Verbindung gebracht werden. Jeder Versuch, diese Geschichten in einen Dialog zu bringen, sieht sich der Gefahr ausgesetzt, einen Vergleich anzustellen, der unsere Vorstellung vom Menschen selbst in Frage stellt. In ihrem kürzlich erschienenen Buch fordert Tiffany Lethabo King, das moderne Verständnis des Menschlichen neu zu fassen oder hinter uns zu lassen. Sie stellt ein westliches, dominantes Wissenssystem in Frage, das blind ist für seine eigenen fortwährenden Verwicklungen in gewalttätige Geschichten und nicht die Kapazitäten hat, anstelle anderer und deren Erfahrungen mit Gewalt in der Welt  zu sprechen.

Florian Weis: In der Auseinandersetzung mit dieser Kritik suche ich nach Möglichkeiten, um im Gespräch über kollektive und massenhafte Gräueltaten verschiedene Gewaltgeschichten in einen Dialog zu bringen, ohne ihre Unterschiede, etwa hinsichtlich der Opfer und der Motive der Täter*innen, zu leugnen. Oft werden diese Massen- oder Kollektivverbrechen als Genozide bezeichnet. Mir ist bewusst, dass Sie sich mit den Grenzen der Begrifflichkeit des «Genozids» auseinandersetzen. [2] Wie würden Sie die Gewaltgeschichten des 20. Jahrhunderts bezeichnen? Wie können wir eine gemeinsame Grundlage schaffen, einen Dialog, der einen Vergleich dieser Verbrechen und vor allem ihrer Opfer ermöglicht, ohne zu urteilen, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen oder in strenge moralische Wertungen zu verfallen?

Richard Benda: Wie sollen wir diese Verbrechen nennen? Zum Glück haben wir bereits einen Begriff als Ausgangspunkt. Nicht so sehr eine Bezeichnung als vielmehr einen konzeptionellen Rahmen. Der Begriff «Genozid» vermittelt im wörtlichen Sinne, dass diese Verbrechen ihrem Wesen nach das Ziel verfolgen, eine Gruppe von Menschen, die sich durch eindeutige, spezifische Eigenschaften auszeichnet, auszurotten, sie aus der Menschheitsfamilie zu eliminieren.

Nach meinen Beobachtungen verfügen jene kriminellen Handlungen, die wir letztlich als Massenverbrechen oder Genozide bezeichnen, immer über Gemeinsamkeiten, und zwar in dem Sinn, dass es historische Prozesse des Imaginierens und Erzeugens des Anderen gibt, des Schaffens scharfer Trennlinien zwischen dem Anderen und uns. In Friedenszeiten – genauer gesagt in Zeiten der Abwesenheit von offenen Konflikten – werden diese Trennlinien still und heimlich in alltägliche Narrative eingespeist. Sie sind vollgesogenen mit Negativ-Kriterien, die mit dem Anderen assoziiert sind; weben beinahe einen Mythos um das, was der Andere ist – bis zu dem Moment, in dem sich politische Interessen artikulieren und in eine politische Krise münden. Dann werden diese Narrative und Identitäten verhärtet und in Waffen verwandelt, so dass das, was bis dahin Vorstellungen, Fantasien oder Anekdoten waren, in den Rang historischer Wahrheiten erhoben werden. Es entstehen neue Konstrukte. Plötzlich ist die Gruppe des Anderen eine handfeste, erkennbare und unmittelbare Bedrohung, ein Feind also, den es zu beseitigen gilt. Ich finde es interessant, wie diese von uns im Laufe der Zeit entwickelten Narrative unser moralisches Verständnis von Richtig und Falsch, Kriminell, Transgressiv oder Gewalttätig prägen.

Dennoch glaube ich nicht, dass es eine allgemein anwendbare Bezeichnung geben sollte oder kann. Es lassen sich allgemeine oder vergleichbare Muster und Prozesse erkennen, doch es gibt immer auch etwas ausgesprochen Spezifisches, Besonderes – sei es die Nationalität, die Religionszugehörigkeit, die Geografie oder die Geschichte der beteiligten Menschen. Und auch die politischen Vorgänge, die zu dem führen, was wir Genozid nennen, weisen deutliche Besonderheiten auf. Es handelt sich um historische Prozesse mit unterschiedlichen Orientierungspunkten, Gedächtnissen, Handlungen, Interaktionen und Beziehungen, die sich auf verschiedene Epistemologien, moralische und rechtliche Bezugspunkte sowie kulturelle Vermächtnisse stützen.

Mir ist es sehr wichtig, Massenverbrechen derart zu bezeichnen, dass die Menschen, die an ihnen beteiligt waren – Protagonist*innen, Opfer, Täter*innen und alle Nutznießer*innen, Zuschauenden oder sonstwie Involvierten – die Tragödie innerhalb des angemessenen epistemischen, moralischen und politischen Kontextes begreifen. Nur so können Täter*innen belangt werden, nur so können sich Opfer und Täter*innen ihre gemeinsame Geschichte vollständig zu eigen machen.

Florian Weis: Im Herbst 1945 nahm der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg seine Arbeit auf. 2020 ist sein 75. Jahrestag. Ich denke, der Nürnberger Prozess war ein überaus wichtiger Schritt, nicht nur um Nazi-Täter zu bestrafen, sondern auch um einen Bezugspunkt für andere internationale Gerichte zu schaffen. Daher hat er bis heute nicht nur eine historische, sondern auch eine politische Bedeutung. Ich denke, jeder internationale Gerichtshof, den man seither einberufen hat, bezieht sich in gewisser Weise auf Nürnberg. Deswegen interessiert mich in diesem Zusammenhang neben dem Begriff «Genozid» auch der Begriff «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Er wird anderen, auch zukünftigen Verbrechen vielleicht besser gerecht.

Ich möchte das schmerzhafte Reflektieren über verschiedene Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einen Dialog bringen. Wir erwähnten bereits die Shoah, Ruanda 1994, oder aber Armenien 1915. Was ist mit den Massenverbrechen, die wir mit dem Stalinismus der 1930er Jahre in Verbindung bringen, oder mit denen in Maos China, wo Millionen von Menschen umgebracht oder billigend in Kauf genommene Opfer einer brutalen Politik  wurden? Was ist mit Kambodscha in den Jahren 1975–1979? Kambodscha kann nicht in erster Linie als ein Genozid auf der Grundlage von Nationalität gelten. Der Bezugspunkt war eher die vermeintliche Klassenzugehörigkeit. Oder schauen wir wieder nach Europa, nach Irland, und denken wir an die Große Hungersnot der 1840er Jahre. Manche bezeichnen sie als eine Art Genozid. Damit bin ich nicht einverstanden. Meinem Verständnis nach wollten die Briten nicht Millionen von Iren töten, weil sie eben irisch waren. Für mich ergibt sich die große Hungersnot aus dem brutalen Manchester-Kapitalismus sowie aus Nachlässigkeit, Ignoranz und fehlerhaften Reaktionen. Man kümmerte sich wenig um die Grundbedürfnisse von Millionen von Menschen. Aber natürlich waren die 1840er Jahre eine schreckliche Zeit, und viele Überlebende und ihre Nachfahren verließen das Land. Ich will sagen, dass es verschiedene Massenverbrechen und auch große Opfergruppen gibt, die sich voneinander unterscheiden. Wir sollten auch die massenhaften Opfer des globalen kapitalistischen Systems erwähnen, das sicherlich nicht die Absicht hat, Menschen zu töten, weil sie einer bestimmten Ethnie oder irgendeiner anderen Gruppe angehören – ein großer Unterschied zur Shoah oder zu Ruanda 1994 – doch die Folgen von Ausbeutung und Ungleichheit sind schrecklich genug, auch ohne eine Tötungsabsicht. Wenn ich Sie richtig verstehe, verweisen Sie auch auf die Folgen des neoliberalen Kapitalismus in Ostafrika, insbesondere in Ruanda, und sehen darin einen Faktor, der zu den Ereignissen von 1994 beigetragen hat. Meine Frage lautet also, ob der 1945 in Nürnberg geprägte Begriff «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» weiterführen könnte.

Richard Benda: Ich stimme Ihnen zu, dass der Begriff der «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» das Unrecht, das Opfer und auch das Ziel des Verbrechens benennt. Er spricht den Wesenskern dieser unterschiedlichen Gewalthandlungen an. Ich stimme Ihnen auch zu, dass unser Gespräch verschiedene Dimensionen berücksichtigen muss. Insofern sagt mir der Begriff des «Verbrechens gegen die Menschlichkeit» im Singular zu. Die Schwierigkeit, Ruanda 1994 mit den Nürnberger Nomenklaturen des «Verbrechens gegen die Menschlichkeit» oder «Genozid» in Verbindung zu bringen, liegt für mich in der kolonialen Anthropologie beziehungsweise dem Verständnis von Menschlichkeit, das sie transportiert. 1945 waren viele Supermächte, die über die an der «Endlösung» beteiligten Funktionär*innen des Dritten Reichs urteilten, ihrerseits am Kolonialismus beteiligt. [3]

Ich stimme Ihnen zu, dass der Begriff «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» insofern funktioniert, als er uns zu verstehen gibt, wer das wirkliche Opfer ist. Auf dem Spiel steht unser Verständnis davon, was Menschsein bedeutet, Menschen, die in Beziehungen zueinander stehen, Menschen, die sich selbst als Menschen erkennen, die andere als Menschen erkennen und begreifen, dass es eine Gegenseitigkeit oder gegenseitige Anerkennung geben muss. Allerdings ist daran kritisch zu sehen, dass «Menschlichkeit» stets selektiv verstanden worden ist. Wenn wir also von «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» sprechen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass «Menschlichkeit» als moderne Kategorie immer exklusiv war, insofern die einen als Menschen anerkannt wurden, die anderen nicht. Der Begriff des «Verbrechens gegen die Menschlichkeit» ist wohl auch deshalb so bedeutend, weil er uns eine Art Oberbegriff bietet. Dieser stellt gewissermaßen einen Vorstellungshorizont, von dem sich verschiedene Erscheinungsformen ableiten lassen. Ich denke, wir sollten begreifen, dass es bei den sogenannten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vom Völkermord in Namibia zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu Ruanda 1994, stets so etwas wie eine Hierarchie gegeben hat, als müssten wir eine Rangordnung, eine Über- und Unterlegenheit in Bezug auf den menschlichen Wert der Opfer herstellen. Ich mache mir immer Sorgen, dass die Hierarchisierung der Verbrechen unsere eigenen Hierarchien des Verständnisses vom Menschsein widerspiegelt.

Das Problem des Menschlichen liegt […] in den Äußerungen darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein – Äußerungen, die von denjenigen stammen und in Umlauf gebracht werden, die auf die überzeugendste (und machtvollste) Weise die ‹richtigen› oder ‹edlen›, ‹moralischen› Eigenschaften des Menschlichen bestimmen und diese in ihrer Vorstellung in eine Sphäre ‹universellen Menschentums› verlagern. Das Menschliche ist also das Produkt einer bestimmten Epistemologie, dennoch erscheint es als eine natürliche und unabhängige, in der Welt existierende Wesenheit (und wird auch als solche akzeptiert). Implizit enthält dieser epistemologische Rahmen auch die Weltanschauungen derjenigen, die als nicht-menschlich oder weniger-als-menschlich eingestuft wurden. […] Hier entstehen eindeutig imperiale Epistemologien, parallel zur weit verbreiteten Kolonialität des Wissens: christliche Theologie, säkulare Philosophie und Wissenschaften, die unter europäischen Monarchien und Nationalstaaten entstanden und gestaltet worden sind. 

Sylvia Wynter, What Does It Mean to Be Human? [4])

Das geschieht fast unbemerkt, als könnten wir nicht erkennen, dass es schon immer Abstufungen des Menschlichen und Nicht-Menschlichen gegeben hat. Und das hat schwerwiegende Auswirkungen darauf, wie wir die Kulturen der anderen, ihre Sprachen und ihre epistemische Befähigung anerkennen Phänomene zu benennen, sodass sich deren kontextuelle und phänomenologische Aspekte repräsentiert finden. Nehmen wir als Beispiel Ruanda 1994, das meiner Meinung nach in der Lokalsprache Kinyarwanda noch keine angemessene Bezeichnung gefunden hat. Gut, «Ruanda 1994» hat insofern eine Bezeichnung erhalten, als jetzt nicht mehr von «Itsembabwoko» oder «Itsembatsemba», sondern von «Jenoside» [5] die Rede ist: Das ist die Übernahme des Begriffs «Genozid» in Kinyarwanda. Es funktioniert, doch fehlt, wie ich bereits sagte, der Bezug zu gleichwertigen Begriffen in der eigenen Sprache, um materielle, moralische und rechtliche Elemente von Handlungen und Unterlassungen zu beschreiben und gleichzeitig das Gefühl von Verrat, Entsetzen, Absurdität und Hilflosigkeit zu vermitteln.

Dorothee Braun: Sie haben gerade beschrieben, dass man in Ruanda noch keinen angemessenen Begriff gefunden hat, um das massive Ausmaß der Gräueltaten zu erfassen. In Ihrer Arbeit betonen Sie die Bedeutung der Eigenverantwortung bei der Definition, Konzeptualisierung und Vermittlung der Tragödie innerhalb der spezifischen epistemischen Welt der Ruander*innen. Es dauerte jedoch nur einen Monat, bis die Vereinten Nationen nach kurzem Erfassen, Analysieren, Definieren und Benennen mittels historischer Modelle und rechtlicher Rahmenbedingungen einer anderen Zeit und eines anderen Kontextes gleichsam von außen die in Ruanda verübten Verbrechen als Genozid akzeptierten. So kam man jeder internen Debatte zur Begriffsfindung zuvor; solche Auseinandersetzungen wurden im Keim erstickt. Von einem Tag auf den anderen bildete sich die Welt durch einen in der Sprache des Landes völlig unbekannten Begriff eine Vorstellung von Ruanda und den Ruander*innen.

Richard Benda: Ich bemühe mich, kulturelle und epistemische Besonderheiten hervorzuheben und in den Fokus zu rücken. Dazu gehört die Art und Weise, wie Menschen ihre Realitäten begreifen. Der Kontext ist mir wichtig, insbesondere als Ruander, als Afrikaner, der in einem postkolonialen Umfeld aufgewachsen ist. Ich möchte betonen, welche Bedeutung das von mir als epistemische Hierarchie bezeichnete Phänomen hat. Der globale Wert, der einer Gruppe zugeschrieben wird, die eine beispiellose Gewalterfahrung durchlebt, bestimmt, wie leicht es dieser Gruppe fällt, sich ihre Erfahrungen anzueignen. Deswegen habe ich die Bezeichnung der Ereignisse in Ruanda 1994 als «Genozid» immer schon kritisch gesehen. Dabei leugne ich selbstverständlich nicht, dass es sich um wesentlich völkermörderische Ereignisse handelt und möchte das auch nicht herunterspielen. Mir drängt sich jedoch die Sorge auf, eine hegemoniale globale Wissenskultur könnte an die Stelle der kontextuellen Besonderheiten dieses historischen Verbrechens treten.

Das zu verhindern ist eine schwierige Aufgabe. Leute wie ich werden als reaktionäre oder lästige Stimmen wahrgenommen, die in eine Ecke gedrängt unaufhörlich auf ihren Besonderheiten herumreiten. Eine wichtige Folge davon ist, dass die Welt im Allgemeinen und die Wissenschaft im Besonderen einer wertvollen Gelegenheit beraubt werden, eine dringend benötigte Tradition zu entwickeln, die Gemeinsamkeiten dieser Verbrechen zu betrachten und aus ihnen zu lernen. Alle scheinen nur zeigen zu wollen, wie die jeweilige Erfahrung aufgrund ihrer Besonderheiten zum größeren Verbrechen, zum Paradigma wird. Vor diesem Hintergrund müsste ich meine Forschung zur ruandischen Katastrophe mit der detaillierten Darstellung einleiten, dass sie der brutalste Genozid des 20. Jahrhunderts war. Ich müsste darüber sprechen, wie intim dieser Genozid war, weil er im ureigenen Zusammenhang der Gesellschaft begangen wurde, und wie er im Wesentlichen im Aufbrechen dieser sozialen Bindungen bestand und so weiter.

Nebenbei muss ich erwähnen, dass die Shoah für Deutschland gewissermaßen aus ähnlichen Gründen so schmerzhaft ist wie Ruanda 1994 für die Ruander*innen: Da wurde eine Intimität, eine Stufe der gegenseitigen Durchdringung, die als geradezu selbstverständlich galt, zerrissen.

Florian Weis: Aus deutscher oder europäischer Sicht ist die Shoah zusätzlich zu ihrem eigentlichen Grauen außerdem deshalb so schwer zu begreifen, weil sie von einem Land und einer Gesellschaft ausging, die sich selbst als gebildet und von der Aufklärung geprägt begriff. Man glaubte, hohe Bildungswerte, einen hohen Grad an technischer Entwicklung und so weiter erreicht zu haben.

Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab ich nie vergessen. […] [D]aß es im Wesen [eines Intellektuellen, Anm. D.B.] liegt, daß man sich sozusagen zu jeder Sache etwas einfallen lassen kann, das sehe ich immer noch so. Sehen Sie, daß jemand sich gleichschaltete, weil er für Frau und Kind zu sorgen hatte, das hat nie ein Mensch übelgenommen. Das Schlimme war doch, daß die dann wirklich daran glaubten! Für kurze Zeit, manche für sehr kurze Zeit. Aber das heißt doch: Zu Hitler fiel ihnen was ein; und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Ganz phantastische und interessante und komplizierte! Und hoch über dem gewöhnlichen Niveau schwebende Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden. Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle, würde ich heute sagen.

(Hannah Arendt, «Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache»: Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt [6])

Ich denke, die Shoah machte die Illusion zunichte, Teil einer auf Fortschritt und Menschlichkeit gerichteten linearen Entwicklung zu sein. Sie zerstörte die in weiten Teilen der sogenannten gebildeten Klassen herrschende Vorstellung vom menschlichen und sozialen Fortschritt. In gewisser Weise vernichtete sie auch den Optimismus der europäischen Arbeiter*innenbewegung, oder erschütterte ihn zumindest, der auf der Idee beruht hatte, die Weiterentwicklung der Arbeiter*innenklasse werde zusammen mit dem technischen und dem menschlichen Fortschritt eine Art Befreiung der Menschheit insgesamt herbeiführen. Vor allem in Deutschland kam noch das Problem hinzu, dass die Tradition, das kulturelle Erbe in den Bereichen Literatur, Musik, Philosophie, Wissenschaft und Kunst, das auch außerhalb der deutschsprachigen Länder anerkannt war, mit politischem Nationalismus, technischer und industrieller Macht, mit Militarismus und dem Verständnis eines ethnisch homogenen Nationalstaats kombiniert wurde, der mit anderen Mächten konkurrierte, um die dominierende Macht in Europa zu werden. Ich denke, dieses Gefühl der Überlegenheit des kulturellen Erbes, in Verbindung mit der Macht der Technik und einer ethnisierend-nationalistischen und autoritären Politik, führten zu Deutschlands gefährlicher Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ich möchte einen Punkt aufgreifen, den Sie vorhin angesprochen haben. In Deutschland wurde vor etwa 15 Jahren eine Debatte darüber angestoßen, ab welcher Art von neuartigen Massengräueltaten man von einem Genozid sprechen kann. Die einen beginnen mit Armenien 1915, Sie und andere mit Namibia 1904/1905.

Die Erben der lebendigen-Geschichte Namibias, mit all ihren qualvollen Strukturen & ihrer beständigen Mikroaggression & Unterdrückungen, ruft uns leider – auf lange Sicht vielleicht glücklicherweise – dazu auf, diese Geschichte zu hinterfragen & auf tiefgreifende Weise zu untersuchen, was das ist, dieses Wir. So können wir in die Lage kommen, die Horizonte unserer Vorstellungen von uns selbst zu bestimmen und zu erweitern, indem wir unsere eigene Würde und die unserer Vorfahren wiederherstellen, die unbeerdigt im ganzen Land verstreut liegen. […] Und dabei die historische Ermordung, Plünderung, Brandschatzung & Entmenschlichung ansprechen, insbesondere der Nama(qua) und OvaHerero während des Genozids von 1904–1908, aber auch aller anderen Namibier*innen, die in den letzten 200 Jahren in diesem Land gelebt haben. 

(Keith Vries, A Call to Unpack and Interrogate History: Reflecting on Ovizire/Somgu [7])

Richard Benda: Ich denke, wir müssen an diesem Punkt ansetzen. Wenn man sich Deutschlands Position zur Anerkennung der Gräueltaten in Namibia ansieht und den Vergleich zur Anerkennung der Shoah anstellt, dann fällt die seltsame Asymmetrie dieser beiden Fälle von politischer Übernahme von Verantwortung auf. Doch die Auswirkungen auf das Volk der Herero – und auch hier verfalle ich nicht in oberflächliche Vergleiche – waren ebenso verheerend. Man muss sich nur die nahezu vollständige Vernichtung der OvaHerero und Namaqua bewusst machen. Und was ist mit dem Narrativ und der Politik der Wiedergutmachung? Die Lücken und Asymmetrien sind für mich von großem Interesse.

Zunächst einmal geht es um die Anerkennung, dass in Namibia ein Genozid stattgefunden hat. Es kommt einem beinahe so vor, als wäre das Grauen dadurch zu rechtfertigen, dass es im kolonialen Kontext stattfand, als handelte es sich um eine bedauernswerte Nebenwirkung der Zivilisierung eines widerspenstigen Volkes. Wir reden hier nicht darüber, ob dergleichen überhaupt zu rechtfertigen ist. Doch wir haben es mit einer Gesellschaft und einem ehemaligen Kolonialreich zu tun, das anerkennt, dass die Shoah eindeutig eine Politik und Strategie zur Vernichtung eines Volkes war. Aus dieser Anerkennung hat sich in der deutschen Politik – und, so kommt es mir manchmal vor, –auch ein persönlich moralisches Selbstverständnis entwickelt, das von der Bedeutung handelt, für dieses Ereignis Rechenschaft ablegen zu müssen.

Was mich aber stört, ist das Folgende: Es fehlt an einer informierten, einheitlichen Anerkennung von Verantwortung, durch die die Shoah und der Genozid in Namibia im kollektiven Bewusstsein der Deutschen einen vergleichbaren Stellenwert erhalten würden. Ob dieser Mangel auf eine imaginäre Hierarchie der Opfer oder der historischen Tatsachen zurückgeht, weiß ich nicht. Jedenfalls wirft Namibia für mich die Frage auf, inwiefern Deutschland sich in seinem Selbstverständnis tatsächlich seiner historischen Verantwortung für Massenverbrechen stellt. Ich frage mich auch, ob die Ereignisse in Namibia als anders oder weniger bedeutend wahrgenommen werden, weil sie sich nicht auf deutschem Boden abgespielt haben. Abschließend möchte ich zu diesem Punkt sagen, dass die Deutschen über die Geschichte ihres Landes in Afrika bis heute sehr schlecht informiert sind. So wird Afrika meinem Verständnis nach zu einer weiteren Sonderangelegenheit und zu einem Gegenstand epistemischer Hierarchisierung.

Florian Weis: Es gibt einige Erklärungsansätze dafür, warum die Reaktion unterschiedlich ausfällt. Erstens: Der Holocaust fand in den von Deutschland eroberten Gebieten Mittel- und Osteuropas statt, in der geographischen Nähe Deutschlands und unter Beteiligung, zumindest aber Mitwisserschaft vieler Deutscher. Die grausame Verfolgung und schließlich Vernichtung schloss Jüdinnen und Juden aus den eroberten Gebieten Polens, der UdSSR und vielen anderen Ländern ebenso ein wie jüdische Deutsche, die bis 1933, 1938 oder noch länger in Deutschland gelebt hatten. Zweitens: Wäre es 1945 nicht zur totalen Niederlage gekommen, hätten wir diese Art des Umgangs mit der deutschen Verantwortung für Massengräueltaten nicht. Wären die Alliierten 1944 von ihrer Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation abgerückt, hätten wir möglicherweise eine ähnliche Situation wie 1918 erlebt, als Deutschland den Krieg verloren hatte und die extreme Rechte mit ihren Narrativen («Dolchstoßlegende») punkten konnte. Deutschland war 1945 eine restlos besiegte Nation. Niemand konnte behaupten: «Wir sind militärisch nicht besiegt worden.» Niemand konnte mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg die Lüge verbreiten, dass alle Länder Europas die gleiche Verantwortung für den Krieg und die Massengräueltaten trügen und so weiter. Man konnte allen Deutschen nur klarmachen, dass Deutschland den Krieg vollständig verloren hatte. So gab es die Möglichkeit, wenn auch erst Jahre und Jahrzehnte später, über die eigenen Gräueltaten nachzudenken. 1918 hingegen verlor Deutschland seine Kolonialmachtstellung. Das kommt vielen sehr weit weg vor. Ich denke, viele Menschen in Deutschland haben aufgrund der Niederlage im Ersten Weltkrieg und des Statusverlusts keinen Bezug zur kolonialen und unterdrückerischen Vergangenheit.

Richard Benda: Was Sie gerade gesagt haben, ist sehr wichtig, weil Sie damit die Frage ansprechen, wie es eigentlich dazu kommt, dass Massengräueltaten als solche anerkannt werden. Hier zeigt sich, wie entscheidend eine vollständige Niederlage der Täter*innen ist. Denn ich bin mir absolut sicher: Wenn die Ruandische Patriotische Front (RPF) im Juli 1994 nicht die Macht übernommen hätte, dann wären die rund eine Million ermordeter Tutsi – die wir heute dem «ruandischen Genozid» oder «Ruanda 1994» zuschreiben – vielleicht als bedauerliche Todesfälle oder bloße Kollateralschäden eines Bürgerkriegs verbucht worden. Und wie Sie richtig sagten: Wäre Deutschland nicht vollständig besiegt worden, hätten Deutschland und das Dritte Reich vieles unterschlagen. Die Satellitenstaaten in Europa und die in Rumänien, Kroatien und anderswo angeworbenen Milizen hätten gänzlich straffrei morden können. Das ist gerade wichtig, wenn wir einen Blick auf den Genozid an den Armenier*innen werfen. Die türkische Staatsmacht hat ihn nie offiziell als einen solchen anerkannt. Sie hat auch nie die Kontrolle über das Narrativ verloren.

Wir müssen uns eingestehen, mit welchen Unsicherheiten Anerkennung behaftet ist. Die Sorge darum führt mich zurück zur Frage, wie wir Menschlichkeit begreifen und wer Menschlichkeit begreift. Das betrifft natürlich auch andere historische Ungerechtigkeiten wie Versklavung oder Kolonialismus: Wenn die Opfer dieser historischen Verbrechen als Sieger*innen hervorgehen oder eine Art «Fürsprecher*in» haben, dann wird ihre Notlage zu einer Frage der Menschlichkeit, einem Thema von globaler Bedeutung. Wenn sie verlieren oder machtlos erscheinen, dann wird ihr Schicksal beinahe zwangsläufig zu einem weniger wichtigen Thema für das humanitäre Völkerrecht, für Petitionen und Interessengruppen. Ich denke also, dass es sehr wichtig ist, den Zusammenhang zwischen Macht und der Anerkennung von Massengräueltaten zu erkennen. Wir müssen meiner Meinung nach problematisieren, wie Menschlichkeit gerechtfertigt wird, wenn sie sich nur durch den Sieg mittels «Gewalt» durchsetzt. Ich glaube, es war Jean Améry, der in Jenseits von Schuld und Sühne sagte, dass wir aus diesen Gräueltaten, sofern wir sie überhaupt überstehen, nicht besser, aufgeklärter, menschlicher hervorgehen. Genau dieser pragmatische Aspekt der Anerkennung stellt für mich einen Stolperstein dar: die Kontingenz der Anerkennung. Denn das Pendel hätte auch in Richtung Vergessen ausschlagen können! Bei all diesen großen Verbrechen oder Völkermorden, die als solche anerkannt worden sind, spielen Sieg, Macht und Sichtbarkeit eine Rolle. Ich möchte nur daran appellieren, diesen Aspekt nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht führt er uns auch zur Situation in Namibia zurück.

Florian Weis: Sie erwähnen einen sehr wichtigen Faktor, den der Macht, des Besiegtwerdens, wie es Deutschland 1945 glücklicherweise widerfahren ist. Ich denke, das ist sehr wichtig, denn es ist kein Zufall, dass die Shoah von Deutschland ausging. Ich denke, es gibt viele Gründe, warum ausgerechnet Deutschland diesen Weg eingeschlagen hat und nicht ein anderes Land. Das heißt aber nicht, dass es absolut unvermeidlich gewesen wäre oder dass es in anderen Ländern keinen Antisemitismus gegeben hätte. Natürlich gab es ihn. Das führt mich zurück zu dem Zusammenhang von Macht, Krieg und Revolution. Was 1933 in Deutschland geschah, kann man nicht als Revolution bezeichnen. Wir können darüber diskutieren, ob es eine Konterrevolution war. Natürlich hätten wir ohne den Zweiten Weltkrieg als Vernichtungskrieg eine schlimme und unmenschliche Diskriminierung der Jüdinnen und Juden durch Nazi-Deutschland gegeben, aber der planmäßige Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden war in den Eroberungs- und Vernichtungskrieg im Osten Europas eingebettet. Und damit komme ich zurück auf den Kontext von Ruanda und anderen Situationen, wobei ich immer an Ihren Begriff der Macht und den Kontext der Entmenschlichung denke, der bereits vor den besonderen Umständen des Kriegs gegeben war – eine notwendige Voraussetzung, um ausgesprochen brutale Verbrechen gegen die Menschlichkeit hervorzubringen, oder wie auch immer wir es nennen wollen. Wir müssen einen Ansatz finden, bei dem weder die tiefer liegenden Bedingungen, etwa Rassismus, noch die besonderen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einflussfaktoren, die diese Tendenzen so gefährlich machen, vernachlässigt werden.

Richard Benda: Ich stimme Ihnen zu, dass wir gründlich erforschen müssen, durch welche Prozesse Krisenmomente dazu führen, dass sich diese schlummernde, diffuse Entfremdung plötzlich zuspitzt und zur Waffe wird. Dies scheint im Kontext politischer Krisen und/oder Kriege zu geschehen, und ich denke, dass wir den Diskurs über Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht führen können, ohne Fragen von Krieg und Revolution zu diskutieren. Ich sehe keinen Ort, an dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus dem Nichts, ex nihilo, ohne ein Krisengeschehen entstehen, durch das sie verdeckt oder erträglicher werden. Das nenne ich den «Einsatz politischer Prozesse als Waffen». In Krisenzeiten macht man sich solche Prozesse zu eigen und wendet sie gegen die Opfer.

Es gibt Parallelen und ich denke, das betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen man Vergleiche anstellen kann. Eine Unterströmung von Krieg und Krise muss gegeben sein. Erste Pogrome gegen die Tutsi verübte die Masse der Hutu-Bevölkerung 1959 während der sogenannten Volksrevolution. Häuser wurden niedergebrannt und es begann der Exodus der Tutsi nach Burundi, Uganda und in den Kongo. Das hatte natürlich Folgen, denn die Kinder, und nicht nur die Kinder, sondern die mittlerweile herangewachsene Generation dieser Flüchtlinge kehrte 1990 zurück. Der Bürgerkrieg von 1990–1994, der «Befreiungskampf», wie ihn die RPF nannte, war der unmittelbare Hintergrund für den Genozid von 1994.

Ich würde gern zum Ausgangspunkt zurückkehren, da wir unsere Begriffe ja aus historischen Präzedenzfällen zu beziehen scheinen. Glauben Sie, Florian, als Historiker, dass es so etwas wie eine «Kolonialität des Wissens» gibt, wie ich es nennen würde? Eine Kolonialität des Wissens, die sich daraus ergibt, dass die Shoah zuerst da war, und es somit sehr schwierig wird, eine auf den Genozid in Ruanda zugeschnittene, eigene Begriffswelt zu erkunden oder zu kreieren? In Bezug auf den Diskurs, auf Bezeichnungen und verwendete Begriffe sieht es so aus, als würden wir das Rad neu erfinden, weil wir Begriffe verwenden sollen, die mittlerweile allgemein vertraut sind. Inwiefern sollten wir in Bezug auf Diskurse über spätere Genozide von intellektuellem Kolonialismus sprechen? Ich sehe die Gefahr einer schädlichen geistigen Trägheit.

Florian Weis: Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, habe im Moment aber keine gute Antwort. Ich finde es durchaus nachvollziehbar, dass man ältere Erklärungen als Ausgangspunkt nimmt, um einen abstrakten Begriff für aktuelle Entwicklungen zu finden. Sie haben durchaus  Recht, dass die meisten deutschen und europäischen Debatten auf Europa zentriert sind. Wie gesagt, ich glaube nicht, dass das ungewöhnlich ist. Was wir jetzt sehen, ist ein sehr später Versuch, andere Gräueltaten in den Blick zu nehmen. Ihr Hinweis, ein Konzept zu entwickeln, das Vergleiche zulässt, erscheint mir wichtig.

Wir müssen einen breiteren Vergleichsrahmen schaffen, der sich nicht auf europäischer Ebene erschöpft, ohne diese nun freilich dadurch geringzuschätzen. Wir müssen die vielfältigen Ausprägungen erkennen, die Kipppunkte, die points of no return, wenn sich aus einer Situation, einer Krise, einem Krieg oder einer Revolution so etwas wie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eine Gräueltat entwickelt. Für mich ist dieser Prozess der Eskalation von größter Bedeutung, weil ich glaube, dass er bis zu einem gewissen Grad politisch beeinflusst werden kann. Die Arbeit mit einem übergeordneten Begriff kommt mir sehr hilfreich vor, da wir so nach verschiedenen Typen oder Kategorien suchen können, nicht im Sinne einer Hierarchie der Opfer, sondern im Sinne einer Methode zur Beschreibung besonderer Umstände und zur Definition des Systems oder der Klassifizierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.


[1] Tiffany Lethabo King, The Black Shoals, Durham 2019.

[2] Der Begriff  «Genozid» wurde von Raphel Lemkin geprägt, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an dem Entwurf für die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen arbeitete. Während es Lemkin wohl hauptsächlich um die Nazi-Herrschaft in Mittel- und Osteuropa sowie um die brutale und mörderische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung dieser Länder ging, hat sich das Feld der Genozidforschung seitdem erweitert und umfasst mittlerweile auch den Kolonialismus. 

[3] Es ist anzumerken, dass Historiker*innen Lemkins Genozidbegriff als vollständig auf das koloniale Unternehmen übertragbar interpretiert haben. Siehe Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe: The Lawbook Exchange, Clark 2008, insbesondere S. 78.

[4] Katherine McKittrick (Hg.), Sylvia Wynter: On Being Human as Praxis, Durham 2015, S. 108.

[5] Die vollständige Bezeichnung lautet «jenoside yakorewe Abatutsi».

[6]  RBB, Sendung vom 28.10.1964

[7]  Keith Vries, 18. November 2020