Nachricht | Libanon / Syrien / Irak - Palästina / Jordanien Die anhaltende Nakba

oder: Solidarität von Yarmouk bis Sheikh Jarrah

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Yarmouk im Januar 2014: Demonstration anlässlich der Beerdigung von Verstorbenen während der Hungerblockade durch das syrische Regime. Foto: Moayyad Zaghmout

Die derzeitige Eskalation in Jerusalem zeigt, dass wiederholte Vertreibungen von Palästinenser*innen auch zum 73. Jahrestag der Nakba – der arabischen Bezeichnung zur Beschreibung der Katastrophe des Verlusts der Heimat – ungelöst bleiben. Dabei sind sie von Sheikh Jarrah bis Yarmouk untrennbar mit breiteren Kämpfen um Befreiung in der Region verbunden. Linke Solidarität muss das widerspiegeln.

Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

Abdallah Alkhatib ist ein palästinensisch-syrischer Menschenrechtsaktivist aus Yarmouk, Damaskus. Seit 2011 war er Teil der friedlichen Bewegung gegen das Assad-Regime. 2017 gründete er mit anderen Aktivist*innen den literarischen Blog «sard.network».

«Hier bin ich aufgewachsen, groß geworden, hier bin ich zur Schule gegangen und habe meinen Abschluss an der Universität gemacht. Hier habe ich geheiratet und Kinder bekommen. Die Heimat, in der ich gelebt habe, ist dieses Haus. Alle meine Erinnerungen sind in diesem Haus. Ich sehe mich nicht außerhalb Jerusalems, nicht mal außerhalb dieses Hauses. Auf gar keinen Fall. […] Ich verlasse dieses Haus nicht, außer ins Grab!», beschreibt der 76-jährige Nabil Al-Kurd, der seit den 1950er Jahren im palästinensischen Stadtteil Sheikh Jarrah in Ostjerusalem lebt, seine Gefühle anlässlich einer drohenden Räumung in einem Reuters-Interview.

«Camp Yarmouk haben wir 1956 gebaut. Es ist nicht einfach nur ein Ort, an dem wir wohnen – ganz im Gegenteil. Es ist eine Heimat für mich, denn es gleicht Palästina und ist die Hauptstadt der palästinensischen Diaspora. Ich kenne die Bewohner*innen gut, kenne jede Gasse und jedes Haus. Es ist besser in einem Zimmer mit Blechdach im Camp zu leben als in einem großen Haus außerhalb des Camps.»[1]

In diesen Worten beschreibt Fatima Maued, 78 Jahre alt, 2013, warum sie das im Süden von Damaskus gelegene, weltweit größte palästinensische Flüchtlingslager nicht verlassen will – damals als Yarmouk durch das syrische Regime und seine palästinensischen Verbündeten belagert wurde und von den ursprünglich 160.00 palästinensischen Bewohner*innen nur noch circa 30.000 ohne Nahrung und Medizin ausharrten. Dann führt sie weiter aus: «In Palästina hatten wir unsere eigenen Häuser. Nach der Vertreibung nach Syrien haben wir Yarmouk Stein für Stein aufgebaut, Häuser und Schulen. Wir haben hier geheiratet und Kinder bekommen. Sie sind hier aufgewachsen, zur Schule gegangen, wie könnte ich diesen Ort also verlassen? Ich sage heute, dass ich Yarmouk nicht verlasse, außer nach Palästina oder ins Grab. Palästinenser*innen, die ihr Haus einmal verlassen haben, kommen nicht zurück. Das ist unsere Geschichte!»

Acht Jahre liegen zwischen den beiden Interviews, in denen Menschen, die Vertreibungen aus ihren Häusern in Haifa 1948 miterlebt haben, zu Wort kommen. Damit wird die palästinensische Geschichte in zwei Teile geteilt: vor der Nakba und danach.

Die Vertreibung und der Verlust der Heimat, die Nakba, wurde zu einem wesentlichen Merkmal palästinensischer Identität und kollektiver Erinnerung. Mit den Ereignissen in Yarmouk oder Sheikh Jarrah wird diese beständig erneuert.

Durch die Nakba wurden Fatima Maued und Nabil Al-Kurd zu palästinensischen Flüchtlingen[2] mit Aufenthaltspapieren, die ihnen einen anhaltenden «vorübergehenden Aufenthalt» gestatten – ohne Gültigkeitsende. Fatima führte die Flucht nach Syrien, Damaskus. Nabil kam nach Jerusalem. An beiden Orten bauten sie sich ein neues Leben auf, ihre Erinnerungen im Kopf und die Besitzurkunden ihrer alten Häuser in der Tasche. Was die beiden unterscheidet, ist lediglich, dass Fatimas Weigerung, ihr Haus in Yarmouk zu verlassen, ein Kampf gegen das diktatorische Assad-Regime ist. Nabils Beharren, im 1967 besetzten und 1980 völkerrechtswidrig annektierten Ostjerusalem zu bleiben, wendet sich gegen Israels strukturelle Unterdrückung von Palästinenser*innen.

Mukhayyam Al-Yarmouk und Sheikh Jarrah – zwei Namen für eine Geschichte

1957 wurde Mukhayyam al-Yarmouk (das «Yarmouk-Camp») im Süden der Hauptstadt Damaskus auf Land des syrischen Staates errichtet und von der «Palestinian Arab Refugee Institution»[3] (PARI) an die palästinensischen Flüchtlinge verteilt. Für den Bau der Häuser erhielten sie eine geringfügige finanzielle Unterstützung durch die syrische Regierung und das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA). Diese inoffiziellen Camps, da eben nicht auf von der UNRWA erworbenen Land erbaut, hatten oft einen wesentlich besseren Lebensstandard als die offiziellen Flüchtlingslager, da die UNRWA weder Interesse noch die finanziellen Kapazitäten zum Aufbau von Flüchtlingslagern hatte. In den Worten der UNRWA führen diese zu einer – wie sie es nannte – «abnormalen Existenz» und zur Entwicklung einer Flüchtlingsmentalität, die sie als «passiv anhaltende Subventionen erwartend» beschrieb.[4] Jede palästinensische Familie erhielt ungefähr 40 Quadratmeter in Yarmouk, um ihr eigenes Haus zu bauen. Dies war nicht viel, aber es war besser als die Moscheen, Schulen und Unterkünfte, die die syrische Regierung während des Krieges von 1948 eingerichtet hatte, um die neuen Flüchtlinge aufzunehmen, und in denen diese jahrelang lebten.

Die neuen Bewohner*innen unternahmen große Anstrengungen, um Yarmouk in eines der am besten ausgestatteten Flüchtlingslager in Bezug auf Infrastruktur, Wirtschaft[5] und Politik umzuwandeln. So wurde das Lager in der Bezeichnung ihrer Bewohner*innen zur «Hauptstadt der palästinensischen Diaspora» und verwandelte sich in einen Eckfeiler der Mobilisierung für das Rückkehrrecht entsprechend der UN-Resolution 194 von 1948. Yarmouks Viertel, Straßen und Schulen wurden nach den Dörfern und Städten in Palästina benannt, die die Menschen verlassen hatten. So nahmen die Bewohner*innen ihre Erinnerungskultur selbst in die Hand, um die anhaltende Nakba nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Während der 62 Jahre seines Bestehens hat sich das Lager zu einem Zentrum palästinensischer politischer und kultureller Aktivitäten entwickelt.

Im selben Jahr[6] , genau 315 Kilometer vom Yarmouk entfernt, wurde das Viertel Sheikh Jarrah in Jerusalem auf dem Land erbaut, welches nach 1948 durch Jordanien verwaltet wurde. Anders als im Falle von Yarmouk befand sich das Land nicht in staatlichem Besitz – Jordanien hatte zwar die Kontrolle über das Land, aber nicht die juristischen Landtitel.

In der Nähe der Trennlinie zwischen Ost- und West-Jerusalems und unter den gleichen Bedingungen, unter denen Yarmouk entstanden war, wurden so einfache Gebäude errichtet[7] . Das Grundinteresse der UNRWA war nicht die Lagerbildung von Palästinenser*innen, sondern kostenrational: Mit der Umsiedlung der neuen Bewohner*innen aus Flüchtlingsunterkünften in der Westbank in die 24 von der UNRWA erbauten Doppelhäuser nach Sheikh Jarrah konnten diese von Versorgungslisten gestrichen werden. Die Bewohner*innen mussten zudem für die ersten drei Jahre eine symbolische Gebühr von 50 Fils als Miete zahlen. In den 60 Jahren, in denen das Viertel Sheikh Jarrah mit seiner strategischen Lage an der Straße zwischen Ost- und Westjerusalem nun existiert, entwickelte es sich zu einem der zentralen Punkte im Widerstand gegen siedlerkoloniale Bewegungen in und um Jerusalem.

Somit stehen Yarmouk und Sheikh Jarrah symbolisch für zentrale Forderungen auf dem Weg zu einer gerechten Lösung der politischen Situation in Israel und Palästina. Sie verkörpern die Zentralität von (Ost)Jerusalem für Palästinenser*innen und die Forderung der Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzukehren.

Die zweite Nakba von Yarmouk

Am 16. Dezember 2012 griff das syrische Regime Yarmouk mit MiG-Kampfflugzeugen an[8] , nachdem Bataillone der Freien Syrischen Armee (FSA) in das Viertel eingedrungen waren. Am nächsten Tag flohen die Bewohner*innen zu Tausenden. Mit einem Schlag hatte das Regime die beginnende Zerstörung des Viertels eingeleitet und eine «zweite Nakba», wie es von vielen der fliehenden Bewohner*innen genannt wurde,[9] ausgelöst. Auch Yarmouks Geschichte wurde somit in ein Davor und ein Danach eingeteilt. Das Danach war geprägt von einer ab Juli 2013 anhaltenden Hungerblockade, die Dutzenden Menschen das Leben kostete. Im April 2015 eroberte Daesh[10] mit Hilfe des Regimes die Kontrolle über das Viertel. Daesh war eine willkommene Ausrede, das Viertel in einer Kampagne syrischer und russischer Luftangriffe, Fassbomben und Boden-Boden-Raketen Mitte 2018 fast komplett[11] zu zerstören. 15 Menschen von Yarmouks ursprünglicher Bevölkerung von ungefähr 300.000 Personen blieben standhaft bis zum letzten Moment und lehnten es ab, das Viertel zu verlassen. Fatima Maued war eine von ihnen. Das Regime nahm 2018 nach der Bombenkampagne Yarmouk ein, etliche der älteren Bewohner*innen der Nakba-Generation wurden verhaftet. Fatima hatte Glück und blieb. Hunderte von Bewohner*innen, die eine Verhaftung durch das Regime befürchteten, zogen die Vertreibung in den Norden Syriens vor. Sie wurden in die Gegend von Deir Ballout gebracht, ein Brachland zwischen Atmeh und Afrin. Derzeit versuchen sie ihre Zelte sommer- und winterfest zu machen. Das Land gehört ihnen auch dieses Mal nicht. Die UNRWA hat hier überhaupt keine Präsenz: Ihre Unterstützung begrenzt sich zum einen auf palästinensische Flüchtlinge in Gebieten unter «Souveränität» des syrischen Regimes. Zum anderen beschränkt sich das Mandat der UNRWA auf humanitäre und Entwicklungshilfe sowie Bildung. Ein «Schutzmandat» wie etwa der UNHCR hat sie aber nicht, und somit fallen die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien in eine «Schutzlücke» (protection gap) – auch das ist ein Teil der anhaltenden Nakba.

2020 hämmerte das syrische Regime den letzten Nagel in den Sarg von Yarmouk. Es veröffentlichte einen neuen Organisationsplan für den Wiederaufbau des Camps, welcher darauf abzielt, den Bewohner*innen das Recht auf ihre Häuser zu entziehen, in dem unmögliche Bedingungen für diejenigen festlegt wurden, die in das Camp zurückkehren und am Wiederaufbau teilnehmen möchten – ein Symptom des «permanenten vorübergehenden»  Status palästinensischer Flüchtlinge.

Scheikh Jarrah

Als sich 1957 28 Familien im Viertel Sheikh Jarrah niederließen, hofften sie, dass dies ihre letzte Station sein würde. Heute leben in dem Viertel rund 2800 Palästinenser*innen. Nach 1970 wurde das Gesetz über rechtliche und administrative Angelegenheiten in Israel erlassen, das unter anderem vorsah, dass Jüdinnen*, die ihr Eigentum in Ostjerusalem im Krieg von 1948 verloren hatten, dieses wiedererlangen könnten. Diese Regelung gilt natürlich nicht für Palästinenser*innen, die Urkunden zu Häuser in Westjerusalem oder anderswo innerhalb der Grünen Linie besitzen.[12]

Die euphemistische Darstellung der israelischen Regierung, dass es sich hierbei lediglich um einen juristischen Immobiliendisput handle, schafft es jedoch nicht, die politische Natur der Landnahme und Veränderung der Demographie Ostjerusalems zu verdecken. Selbst die UNRWA hat in keinem der Fälle interveniert, auch nicht mit finanziellen Hilfen für die geräumten Familien. Dies wirft weitere Fragen zur Handlungsmacht und Verantwortung der 1949 gegründeten Organisation auf, die oft regierungsähnliche Funktionen ausgeübt hat, ohne dafür von palästinensischer Seite demokratisch legitimiert zu sein. Dies hat immer wieder zu Protest von palästinensischer Seite geführt.

Im Jahr 2008 erhielt die erste Familie aus dem Viertel Sheikh Jarrah durch die Entscheidung eines israelischen Gerichts eine Räumungsanweisung. Heute versucht die israelische Regierung, weitere vier palästinensische Familien zu räumen, die in der Nachbarschaft leben. Während sich lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen fortlaufend für einen Stopp der Vertreibung aussprechen, setzt Israel diese Politik mit allen Mitteln fort.

Da Palästinenser*innen gelernt haben, dass sie in den meisten Situationen nicht auf internationale Unterstützung zählen können und sie - wie es die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch feststellt[13] - Elementen von Apartheid, die eine Gleichbehandlung vor israelischen Gerichten unmöglich macht, gegenüberstehen, hat sich auch in Sheikh Jarrah Widerstand selbst organisiert. So weiß auch Nabil al-Kurd, dass er nicht noch einmal wie geflüchtete Bewohner*innen aus Yarmouk sein Haus verlassen wird.

Solidarität zwischen den beiden Stadtvierteln: Yarmouk und Sheikh Jarrah

2008 fuhr ein Auto mit aufgedrehtem Lautsprecher durch die Straßen von Yarmouk, durch die es ertönte: «Dies ist ein Aufruf an die Bevölkerung von Camp Yarmouk, an der selbstorganisierten Demonstration teilzunehmen, um gegen die Entscheidung des israelischen Gerichts zu protestieren, Familien aus dem Viertel Sheikh Jarrah zu vertreiben.» Die Bewohner*innen des Camps zögerten nicht, an dieser Demonstration teilzunehmen und ihre Wut und Solidarität mit ihren Geschwistern in Sheikh Jarrah auszudrücken.

Fünf Jahre später, 2013, verbreiteten sich in den sozialen Medien Aufrufe an die Einwohner*innen des Jerusalemer Viertels Sheikh Jarrah, in Solidarität mit den Menschen in Yarmouk zu demonstrieren und ihre Ablehnung der Politik der Belagerung von Zivilisten durch das Assad-Regime zum Ausdruck zu bringen. Trotz schwieriger Umstände, wie den wiederholten Attacken jüdischer Siedler*innen und dem Kampf der Einwohner*innen von Sheikh Jarrah vor den israelischen Gerichten, protestierten die Menschen aus Sheikh Jarrah vor dem Sitz des Internationalen Roten Kreuzes, von dem sie ein Eingreifen in die Situation in Syrien verlangten.

Heute finden im Lager Deir Ballut, dem Ort mit 500 Zelten, in dem die vertriebene Bevölkerung Yarmouks untergebracht ist, fast täglich Demonstrationen in Solidarität mit Sheikh Jarrah statt. Die Flaggen Palästinas und der syrischen Revolution tragend, stehen auf den Schildern, die hochgehalten werden, die Worte «Die Wunde ist dieselbe und der Schmerz auch». Als Antwort auf eine Frage, warum sie in Solidarität mit Jerusalem demonstrieren, während sie sich in einer so schlechten Situation befinden, antwortet Wassim Gharib[14] , 40 Jahre alt, mit erstauntem Ton: «Weil wir nicht wollen, dass mit irgendwem auf der Welt das passiert, was mit uns geschehen ist – Vertreibung und ein Leben als Geflüchtete.» Er fährt fort: «Damals in Yarmouk sind wir auf die Straßen gegangen, weil es um Palästina und um Flüchtlinge wie uns ging. Aber heute demonstrieren wir nicht nur deswegen, sondern auch weil wir nun genau wissen, was der Schmerz der Vertreibung von 1948, den unsere Großeltern erlebt haben, heißt.» Gleichzeitig machen sie deutlich, dass ein freies Palästina nur im Kontext der Kämpfe der Region stattfinden kann und untrennbar ist vom Kampf der Syrer*innen für soziale Gerechtigkeit und politische Selbstbestimmung in einem Assad-freien Syrien. Sie richten sich gegen politische Kräfte, die sich selbst zu den vermeintlichen Anführern ihres Kampfes für Freiheit ernannt haben.

Die historische Verpflichtung der Nakba

«Warum passiert das alles bei uns?», fragt sich Iyad Shehabi, palästinensischer Flüchtling aus Yarmouk und derzeitiger Bewohner von Deir Ballut. Die Antwort auf diese Frage kommt von den Menschen im Viertel Sheikh Jarrah, «weil wir Flüchtlinge sind und dies auch bleiben werden, bis wir in unsere ursprünglichen Dörfer zurückkehren.»

Gestern war es Nahr Al-Bared (Nordlibanon) und davor Tal Al-Zaatar (Beirut), die Vertreibung aus Libyen, Kuwait und dem Irak, danach al-Yarmouk und heute Sheikh Jarrah, Silwan (Ostjerusalem), Hebron, Susyia (beides Westbank) und viele Orte mehr. Die politischen Umstände und Akteure, die die Menschen aus ihren Orten der Zuflucht vertrieben haben, waren unterschiedlich, aber das Ergebnis war das gleiche.

Der palästinensische Intellektuelle, Schriftsteller und Revolutionär Ghassan Kanafani hat schon in den 1970er Jahren darauf hingewiesen, dass die Erinnerung an den Widerstand gegen Unterdrückung etwas ist, das Kolonisierten erlaubt, sich eine andere Realität vorzustellen – Erinnerung als Raum von Freiheit und Quelle von Wissen.[15] In diesem Sinne lassen sich die Proteste in der Region in den Jahren 2010/2011 und 2018/2019 in diesem Kontext lesen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie lange Palästinenser*innen noch die Nakba leben müssen. Für die Verfasser*innen dieser Zeilen stellt sich die Lösung einfach dar: Gebt Fatima das Recht, ihren einfachen Traum vom Sterben auf ihrem Land in Haifa zu erfüllen. Eine menschenwürdige Beendigung der anhaltenden Nakba der Palästinenser*innen ist ein Grundpfeiler der Frage von sozialer Gerechtigkeit in der Region. Das kann allerdings nur erreicht werden, wenn «wir alle frei sind».[16] Nicht erst seit 2011 haben progressive Kräfte in der Region deutlich gemacht, dass sie sich vom Streben nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit weder durch die Politik der Vereinnahmung autoritärer Regime und reaktionärer Kräfte noch durch koloniale Gewalt abhalten lassen. Die seit Tagen organisierten Märsche von Palästinenser*innen und anderen progressiven Aktivist*innen aus dem Irak, Jordanien und dem Libanon in Richtung Grenze zu Israel zeigen, dass Grenzen, die auf kolonialer Geschichte beruhen, diese Bewegungen auf lange Sicht nicht stoppen können.


[1] Gefilmtes Interview 2013 in Yarmouk.

[2] Wir verwenden hier gezielt nicht die aus dem deutschsprachigen Diskurs stammenden Bezeichnungen wie «Menschen mit Fluchtgeschichte» oder «Geflüchtete». «Palästinensischer Flüchtling» sehen wir als Selbstbezeichnung und politischen Anspruch, der eng mit dem Anspruch der Anerkennung des Rückkehrrechts verbunden und ein historischer Marker der Nakba ist.

[3] PARI wurde 1949 von der syrischen Regierung gegründet und war ihr gegenüber verantwortlich.

[4] «Report of the director of the United Nations Relief and Works Agency for Palestine refugees in the Near East» (28. September 1951).

[5] Ein Bericht des norwegischen Forschungscenters Fafo, beschreibt Yarmouk in einem Bericht 2007 als «eines der größten wirtschaftlichen Zentren des Landes» ; Tiltnes, Åge A. (2007), Keeping up a brief on the living conditions of Palestinian refugees in Syria, Fafo-Report 2007:13, Oslo, S. 7–8.

[6] Der ursprüngliche Bauprozess begann bereits 1954 und wurde 1955 beendet, die Auswahl der Bewohner*innen zog sich jedoch bis 1957 hin.

[7] Dies geschah im Rahmen eines Partnerschaftsvertrags zwischen dem jordanischen Ministerium für Wohnungsbau und Bauwesen und der UNRWA.

[8] Es wurden zwei Schulen, eine Moschee und weitere zivile Einrichtungen, die Geflüchtete aus allen Landesteilen Syriens beherbergten, getroffen.

[9] Live-Interviews mit geflüchteten Bewohner*innen in Beirut im Jahr 2015.

[10] Dieses arabische Akronym ist eine abwertende Bezeichnung für „Islamischer Staat in Irak und Syrien“ (ISIS).

[11] 80 Prozent aller Gebäude wurden zerstört, siehe S. 23 des «Syrian Cities Damage Atlas».

[12] Linie des Waffenstillstandes in Folge des Krieges 1948. Diese gilt als international anerkannte Grenze des Staates Israel.

[14] Gespräch vom 13.05.2021 via Whatsapp.

[15] Silmi, A. M. (2016) Combat in «A World Not for Us»: Revolutionary Writing in Aimé Césaire and Ghassan Kanafani, PhD thesis, University of California, Berkeley, S. 155.

[16] Oder auch «Alle heißt alle», wie es auf den Protestplätzen im Libanon und Irak in den Oktoberrevolutionen 2018/2019 widerhallte.