Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Iran Stell Dir vor es sind Wahlen und keiner geht hin

Zivilgesellschaft ruft zum Boykott der iranischen Präsidentschaftswahlen auf

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Hamid Mohseni,

Menschen protestieren gegen die ökonomische Situation bei den Proteste von 2017-2018 in Iran. CC BY 4.0, MojNews via Wikimedia Commons

Die Präsidentschaftswahlen im Iran waren einst das wichtigste Spektakel für die Islamische Republik Iran (IRI), um sich selbst einen demokratischen Charakter zu attestieren. Nun droht ihr mehr denn je die Offenbarung ihrer fundamentalen Legitimitätskrise.

«Wenn die Menschen keine Hoffnung für die Zukunft haben, gehen sie nicht wählen. Wenn sie dem Staat und dem System nicht vertrauen, gehen sie nicht wählen. Wenn sie sich nicht frei fühlen, dann gehen sie nicht wählen. Das Vertrauen in das System wurde in dieser Wahl manifestiert.» Diese Worte formulierte Ali Khamenei, Staatsoberhaupt der IRI, im Jahre 2009. Der Ultra-Nationalist Ahmadineschad hatte kurz zuvor die Wahl bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 85 Prozent mit einem Erdrutschsieg gegen den selbsternannten Reformer Mousavi für sich entschieden. Es handelte sich um einen Wahlbetrug, in dessen Folge die «Grüne Bewegung» Hunderttausende Menschen monatelang auf die Straße mobilisierte, bevor sie - und mit ihr die Hoffnung auf einen systemimmanenten Wandel - zerschlagen wurde.

Hamid Mohseni ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er studierte Germanistik und Philosophie und ist freier Autor. Seit 2009 verfolgt er die Entwicklungen im Iran und beteiligt sich an linken Solidaritätsinitiativen, die die demokratischen und sozialen Proteste im Iran kritisch begleiten.

Khameneis Botschaft war klar: Das iranische Volk hat mit solch einer Wahlbeteiligung das System der IRI bestätigt. Das ist aus Perspektive der Machthaber letztendlich das wichtigste Ergebnis sämtlicher Wahlen im Iran – egal, wer gewinnt. Diese fast schon gleichgültige Haltung gegenüber den Kandidaten ist möglich, weil diese nicht viel bewirken können. Denn die IRI ist nicht reformierbar: Das hat historisch-strukturelle Gründe und findet seinen Ausdruck im politischen System. Es hat aber auch spezifisch-politische Gründe, denn der sogenannte Reformismus im Iran ist nur ein Gespenst – was sich insbesondere bei den Wahlen in diesem Jahr zeigt. Die Tatsache, dass kein einziger der letztendlich sieben zugelassenen Kandidaten (von insgesamt ca. 600 Bewerber*innen) nicht einmal mit bestem Willen als «Reformer» bezeichnet werden kann, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Das ist kein Zufall. Im Iran gilt die «Lehre des Obersten Rechtsgelehrten», und diese sichert dem klerikalen Oberhaupt eine Monopolmacht zu. Es gibt zwar vom Volk gewählte Institutionen (z.B. das Parlament, den Präsidenten), doch das letzte Wort haben Gremien, die vom Staatsoberhaupt ernannt werden, oder das Staatsoberhaupt selbst. Die Gründerväter der IRI haben dieses System so konzipiert, dass jegliche Möglichkeit der Einschränkung der höchsten Autorität ausgeschlossen ist. Die Existenz eines Parlaments und die Duldung selbsternannter Reformer*innen galten lediglich dem demokratischen Schauspiel. Lange funktionierte dieses auch, und die Iraner*innen gingen gemäß der Logik des «kleineren Übels» an die Urne. Aber die aktuelle innenpolitische, ökonomische, ökologische und existentielle Krise expandiert immer weiter und nagt dermaßen an der Existenz der Iraner*innen, dass kaum noch jemand innerhalb dieser Rahmenbedingungen eine Möglichkeit auf Verbesserung sieht – insbesondere nicht durch die Reformer*innen.

Diese haben sich in den letzten Jahren derart delegitimiert, dass sie selbst als Teil des Problems angesehen werden. Reformistische Versprechen zerschellen regelmäßig an der Intervention des Staatsoberhauptes. Der als moderat angetretene Noch-Präsident Rouhani hat sein Kabinett entgegen kühner Versprechen konservativ besetzen müssen und weder eine Frau noch Sunnit*innen in hohe Ämter gehoben. Auch seine auf Diplomatie gepolte Außenpolitik ist krachend gescheitert – vorschnelle Analysen machen dafür einzig und alleine die Politik Donald Trumps verantwortlich, doch das ist verkürzt. Rouhanis Außenminister Sarif beklagte in einem geleakten Interview, dass er praktisch keine Gestaltungsmöglichkeiten habe, sondern die Spielräume vor allem vom Militär und dem Staatsoberhaupt festgelegt würden. Den größten Schaden nahm das Reformer*innen-Lager allerdings durch die staatstragende, repressive Verurteilung der radikalen und breit getragenen «Dey-Proteste[1]» in den Jahren 2017/2018 beziehungsweise im Jahr 2019. Dadurch unterschieden sie sich durch nichts mehr von den Ultrakonservativen. Für viele Iraner*innen war damit eine rote Linie überschritten, sodass diese Proteste dem ohnehin in der Krise befindlichen Reformismus den Todesstoß verpassten, diagnostiziert Sadegh Zibakalam, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Teheran: «Der Ruf der Reformer ging mit den Dey-Protesten unter.» Sie seien die «großen Verlierer», die sich endgültig ins eigene Fleisch geschnitten hätten.

Das zeigt sich auch dieses Jahr in sämtlichen Wahlboykott-Aufrufen, die teilweise sogar von Akteur*innen stammen, die sich selbst vor einigen Jahren klar diesem Lager zugeordnet hätten. Faeseh Haschemi, Tochter des ehemaligen Präsidenten Haschemi Rafsandschani, sagte bei einem stark rezipierten Audiotalk auf Clubhouse, dass die Reformist*innen nicht wählbar seien, und dass bei einer hohen Wahlbeteiligung behauptet werde, «das Volk stehe geschlossen hinter der Staatsführung. Diesen Missbrauch dürfen wir nicht hinnehmen». Ein offener Brief von 230 Akteur*innen aus der iranischen Zivilgesellschaft kommt zum selben Schluss: «Lasst uns die Scheinwahlen boykottieren, damit das unpopuläre Establishment nicht länger Bestand hat.» Unterzeichnende sind unter anderem Aktivist*innen aus der im Iran starken Lehrer*innengewerkschaft. Eine weitere Stellungnahme kommt von ca. 100 Frauenaktivist*innen und Müttern von verschleppten und getöteten Demonstrant*innen; sie unterstreichen, dass «diese diktatorische Struktur unter solchen Rahmenbedingungen nicht geändert werden kann. Es wird nur schlimmer und schlimmer».

Solche Aufrufe scheinen zu fruchten. Diverse Umfragewerte prognostizieren eine Wahlbeteiligung von lediglich 25-45 Prozent. In fast allen Umfragen geben weit über 60 Prozent der Befragten an, an diesen Präsidentschaftswahlen kein Interesse zu haben. Es geht bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl im Iran also nicht darum, wer gewinnt, sondern wie viele Menschen an die Urne gehen und dem gesamten politischen Regime dadurch überhaupt Legitimität zusichern. Das ist für die Machthabenden deutlich wichtiger als der Name des neuen Präsidenten.


[1] Zwischen 2017 und 2018 fanden im Iran massenhafte soziale und systemkritische Proteste statt, die das ganze Land erfassten. Sie begannen im iranischen Monat «Dey», weswegen sie «Dey-Proteste» genannt werden.