Nachricht | Rassismus / Neonazismus - Migration / Flucht - Bildung für alle Anschlag von Hanau: «Warum haben sie uns voller Hass das Leben weggenommen?»

Im Gespräch mit Serpil Temiz Unvar

Information

Serpil Temiz Unvar Foto: Ercan Ayboğa

Am 19. Februar 2020 erschoss ein Rechtsterrorist in Hanau neun Menschen. Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Kaloyan Velkov und Ferhat Unvar wurden an jenem Tag aus dem Leben gerissen. Serpil Temiz Unvar, Mutter von Ferhat Unvar, gründete nach dem Anschlag die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, um die Erinnerung an ihren Sohn und an die Opfer von Hanau aufrecht zu erhalten und antirassistische Arbeit im Bildungsbereich zu stärken. Wir sprachen mit ihr über ihren Sohn Ferhat, die Zeit nach dem Anschlag und die Bildungsinitiative Ferhat Unvar.

Das Interview führten Efsun Kızılay und Ercan Ayboğa.

Efsun Kızılay: Liebe Serpil, vielen Dank, dass du dir Zeit für das Interview genommen hast. Der Anschlag von Hanau hat sehr schmerzhafte Spuren hinterlassen. Wie war die Zeit nach dem Anschlag für euch? Habt ihr ausreichend Unterstützung von staatlichen Stellen erhalten?

Serpil Temiz Unvar: Wir Familien haben unseren Schmerz noch nicht wirklich verarbeiten können. Hierzu hatten wir weder die Zeit noch die Möglichkeit. Wir haben uns unmittelbar nach dem Anschlag in einen Kampf begeben, den Kampf um Aufklärung. Je mehr versucht wird, die Tatumstände zu vertuschen, desto mehr neue Informationen befördern wir zutage. Wir fühlen uns inzwischen wie Detektive. Wir kämpfen gegen Rassismus, wir setzen uns dagegen ein und das Einzige, was wir bekommen, sind warme Worte und schöne Sätze. Wir Familien reden jeden Tag, jede Minute darüber. Das kostet wirklich sehr viel Kraft. Wir überlegen uns, was wir als nächstes machen sollen. Wir verbringen 24 Stunden damit, über diese Tat zu sprechen und darüber, welche Wege wir bestreiten sollen. Nein, wir haben keine Unterstützung bekommen, überhaupt nicht. Sie wollen es nicht akzeptieren. Sie wollen nicht akzeptieren, dass es auch in der Polizei Rassist*innen gibt. Weil die Behörden und Politiker*innen es nicht offiziell akzeptieren wollen, dass es Rassismus gibt, versuchen sie uns mit warmen Worten zu vertrösten, aber wir sind keine Familien, die man einfach so stillhalten kann. Sie sagen, dass es ein Einzelfall war. Nur Herr Steinmeier (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier; Anm. d. Red.) und Herr Kaminsky (Claus Kaminsky, Oberbürgermeister der Stadt Hanau; Anm. d. Red.) haben es öffentlich zugegeben. Vor ihnen habe ich Respekt. Sie haben ihre Betroffenheit geäußert und mitgeteilt, dass die Tat aufgeklärt werden müsse. Doch sehen wir bislang keine Schritte, dies auch wirklich zu tun. Sogar die Beweise und Hinweise, die wir eigenständig finden, nehmen die Behörden nicht ernst und versuchen die Akte zu Hanau zu schließen.

Efsun Kızılay: Welche Unterstützung wünscht ihr euch?

Serpil Temiz Unvar: Ich möchte wirklich nicht über finanzielle Unterstützung sprechen. Es wurde so getan, als hätten die Familien eine Summe von 600.000 Euro erhalten, aber dieses Geld wurde an die Stadt übertragen, um Projekte gegen Rassismus umzusetzen. Es wurden viele Falschmeldungen und Lügen wie diese in den Umlauf gebracht. Eine Mitarbeiterin des Opferbeauftragten des Landes Hessen sagte bei einer Begegnung sogar zu mir, dass mein Sohn auch bei einem Unfall ums Leben hätte kommen können. Sie haben uns Familien nach der Tat 30.000 Euro überwiesen. Hätte ich gewusst, dass sie so etwas sagt, hätte ich dieses Geld abgelehnt. Das, was ich will, ist, dass sich in diesem Land etwas ändert. Sie denken, dass sie uns Geld geben und die Akte daraufhin schließen können. Aber mein Kind ist nicht käuflich, der leblose Körper meines Kindes ist nicht käuflich. Ferhat war sein ganzes Leben lang mit Rassismus konfrontiert und ihm wurde aus rassistischen Gründen das Leben genommen. Es gibt keinen materiellen Gegenwert hierzu. Das Einzige, was mich etwas besser fühlen lassen könnte, wäre Folgendes: Dass sich in Zukunft Sachen verändern, vor allem für die Jugendlichen, um wenigstens sagen zu können, dass diese jungen Menschen nicht umsonst gestorben sind und etwas verändert haben, als sie diese Welt verlassen mussten.

Ercan Ayboğa: Gab es Veränderungen in der Hanauer Bevölkerung?

Serpil Temiz Unvar: Ja, die gab es. Das kann ich sehen. Vor allem bei den Jugendlichen gibt es einige Veränderungen. Die Menschen sind sensibler gegenüber Rassismus geworden. Vorfälle, die früher als normal galten und hingenommen wurden, wie zum Beispiel der Alltagsrassismus, werden heute nicht mehr normalisiert. Die Menschen können den Mut aufbringen, dagegen einzustehen. Insbesondere die jungen Menschen kämpfen mit uns gemeinsam und bestreiten diesen Weg mit uns. Das gibt mir Kraft und Hoffnung.

Im Gespräch mit Serpil Temiz Unvar

Details

Am 19. Februar 2020 erschoss ein Rechtsterrorist in Hanau neun Menschen. Serpil Temiz Unvar, Mutter von Ferhat Unvar, gründete nach dem Anschlag die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, um die Erinnerung an ihren Sohn und an die Opfer von Hanau aufrecht zu erhalten und antirassistische Arbeit im Bildungsbereich zu stärken.

Efsun Kızılay: Viele Menschen in diesem Land erleben Rassismus und Diskriminierung. Du hattest in früheren Interviews erwähnt, dass Ferhat auch mit Rassismus und Diskriminierung konfrontiert war, insbesondere in der Schule. Könntest du uns erzählen, was Ferhat erlebt hat?

Serpil Temiz Unvar: Er hat viel Rassismus erlebt. Angefangen hat dies schon in der fünften/sechsten Klasse. Kinder mit Migrationsgeschichte, die ein Gymnasium besuchen, sind besonders hiervon betroffen, da sie nicht als dorthin zugehörig angesehen werden. Sie glauben nicht, dass unsere Kinder auf ein Gymnasium gehören. Ferhat war wirklich ein sehr schlaues und belesenes Kind. Ich erinnere mich sehr gut, einmal rief sein Lehrer an und sagte mir am Telefon: „Wir Lehrer*innen können die Kinder nicht schlagen.“ Was er damit ausrücken wollte war, dass wir unsere Kinder schlagen sollen, weil sie es nicht dürfen. Einmal sagte seine Mathematiklehrerin sogar: „Entweder er geht von der Schule oder ich.“ Danach ist er sowieso auf ein anderes Gymnasium gewechselt. An der neuen Schule war er dann wiederum mit einer anderen Form des Rassismus konfrontiert. Es gab nicht ein einziges deutsch-deutsches Kind in seiner Klasse. In jenem Jahr mussten 17 Kinder die Stufe wiederholen. Das ist doch nicht normal, oder? Nur fünf/sechs Kinder sind in die nächste Stufe gekommen, alle anderen mussten die Stufe wiederholen. Ist das nun kein Rassismus? Sie nehmen den Kindern ihre ganze Motivation.

Zwischen meinem zweiten Sohn und Ferhat liegen vier Jahre. Ich hatte ihn damals an der Schule von Ferhat angemeldet. Der Schuldirektor hat daraufhin extra einen Termin mit mir vereinbart, um mir mitzuteilen, dass sie meinen Sohn annehmen müssen, weil es sein Erstwunsch ist, ich aber nicht vergessen soll, dass er bei uns keine Chance hat. Vor lauter Angst habe ich mein Kind von der Schule genommen und zwei Wochen vor Schulbeginn jegliche Schulen in der Umgebung für eine Anmeldung angefragt. Angst; nicht zu wissen, was ich in dieser Situation tun kann – all das waren sehr dominante Emotionen und Gedanken. Ich war damals natürlich auch sehr unerfahren. Die rassistischen Vorfälle, die wir erlebten, kamen uns normal vor. Wir dachten nämlich, dass dies nicht unser Staat ist, uns nicht akzeptieren wird. Dies empfanden wir damals als normal. Ich habe dieses Gefühl dann auch an meine Kinder weitergegeben. Dieses Gefühl, Fremde in diesem Land zu sein. Auch wenn die Lehrer*innen dich nicht mögen, bist du verpflichtet ihnen Folge zu leisten. Obwohl du weißt, was dein Kind in diesem Moment empfindet, kannst du nichts dagegen tun. Was kannst du auch machen oder sagen? Willst du dich gegen die Lehrkraft stellen? Sobald du das tust, stehen sie bereit, um dich fertig zu machen. Das Jugendamt steht ebenfalls bereit. Es gibt niemanden, der dich unterstützen könnte. Du bist ganz alleine.

Ferhat ist danach auf eine Berufsschule gewechselt und hat sie als Zweitbester abgeschlossen. Ich habe vor Kurzem ein Notizheft bekommen, in dem die Schüler*innen seiner Schule unterschrieben haben und von Ferhat erzählen. Sie schreiben, dass er ein sehr belesener Freund war, der immer vieles erforscht hat und viel wissen wollte. Warum aber haben die anderen Schulen das dann nicht gesehen? Wieso hat er sein Potenzial nicht nutzen können und hatte stattdessen immer nur Angst? Ich verstehe es wirklich nicht. Die Kinder können ihre eigenen Potenziale vor lauter Angst nicht ausschöpfen. Und wir Familien können ihnen auch vor lauter eigener Angst nicht helfen. Wir machen ihnen Druck, weil wir Angst um ihre Zukunft haben. In diesem Teufelskreis befinden wir uns dann permanent.

Ercan Ayboğa: Wie reagierte Ferhat auf diese Situation? Hat er sein Recht eingefordert, als ihm Unrecht getan wurde?

Serpil Temiz Unvar: Er hatte damit aufgehört. Er sagte dann: „Egal, was ich mache, wie sehr ich mich anstrenge, sie werden mir keine Chance geben.“ Wie soll man dieses Kind auf die Zukunft vorbereiten? Eigentlich liefern sie das Kind der Straße aus. Ferhat war aus den Schmerzen, die er erlebt hatte, gestärkt hervorgegangen. Er war ein sehr kämpferisches Kind. Er hat es trotz aller Strapazen geschafft und wollte die Universität besuchen. Das war sein erster Wunsch. Sein zweiter war, ein Buch zu schreiben, in dem er all seine Erfahrungen, festhalten wollte. Diesen Wunsch hatte er wenige Monate vor dem Anschlag geäußert. Er wollte das unbedingt machen. Dieses Buch, das er nicht schreiben konnte, mit seinen Erfahrungen, möchte ich nun für die jungen Menschen und die Gesellschaft herausbringen.

Ercan Ayboğa: Könntest du uns ein wenig über den Freundeskreis von Ferhat erzählen? Er hatte einen großen Freundeskreis, oder?

Serpil Temiz Unvar: Ja, den hatte er. Viele von ihnen sind auch emotional noch nicht bereit, weil sie es nicht wahrhaben können, dass Ferhat nicht mehr da ist. Sein Freundeskreis hat wirklich sehr darunter gelitten. Einige von ihnen können noch nicht einmal die Kraft aufbringen, mit mir darüber zu sprechen, weil er ihnen so viel bedeutet hat und sie es emotional nicht schaffen. Vor Kurzem hat sogar einer seiner Freunde Ferhats Namen auf seinem Arm verewigt. Ferhat war sowohl ein lustiger Freund als auch jemand, der ihnen immer zugehört und ihnen Wege aufgezeigt hat. Diejenigen die Probleme mit ihren Familien hatten, von Zukunftsängsten geplagt waren oder andere Sorgen hatten, fragten ihn um Rat. So viele Menschen haben mir Folgendes gesagt: „Ich habe dank Ferhat mit der Schule weitergemacht, weil er mir die Kraft hierfür gegeben hat. Er hat uns immer erzählt, was er durchgemacht; dass wir niemals aufgeben dürfen und es schaffen müssen, denn in diesem Land haben wir keine andere Möglichkeit zu leben.“ So ein Mensch war er. Sowohl emotional und psychisch stand er den Menschen bei als auch als helfender Freund bezüglich ihrer Zukunft. Er hat immer viel gelesen und viel recherchiert. Er liebte es über die gelesenen Sachen zu diskutieren.

Ercan Ayboğa: Was hat er zum Beispiel alles gelesen?

Serpil Temiz Unvar: Alles, was mit den Menschen und der Welt zu tun hatte. Zum Beispiel las er Weltklassiker wie Dostojewksi oder Gorki. Aber er las auch Lexika. Wir hatten ein sehr dickes Lexikon zu Hause. Als er in der siebten oder achten Klasse war, sah ich auf einmal, wie er es las. Ich glaube, er hatte nichts Anderes zum Lesen gefunden. Er hat immer viele Fragen gestellt und mochte es, Dokumentation zu schauen. In Mathematik war er gut. Er liebte es, Sachen zu entwerfen, herzustellen, praktisch tätig zu sein.

Efsun Kızılay: Was sind deine Ziele in Bezug auf die Gesellschaft? Wohin müssten sich die Schulen bewegen und wie sollten die Lehrer*innen agieren?

Serpil Temiz Unvar: Wenn wir uns die großen Medien anschauen, wird oft von den Shisha-Bars gesprochen. Wer verkehrt in den Shisha-Bars? Es sind vor allem Migrant*innen. So bekommen bestimmte Orte negative Stempel aufgedrückt. In unserer Gesellschaft bilden sich Gruppierungen heraus, wie auch in den Schulen. Es wird gesagt, dass es an den Schulen für alle das gleiche Recht auf Bildung gäbe. Doch stimmt dies eigentlich nicht. Denn dies hängt vom System und auch von den Lehrer*innen ab. Die Realität sieht so aus, dass eine Reihe von Kindern nicht die Hürden überwinden kann, egal was sie auch immer tun. Während von den migrantischen Kindern relativ viele ab der 5. Klasse aufs Gymnasium gehen, sind von ihnen in der 12. und 13. Klasse noch sehr wenige dabei. Denn die nötigen Chancen werden ihnen nicht gegeben. Der Wille und die Energie der Kinder werden über diese Jahre zerschlagen. Die Kinder setzen ihre Energie nicht für ihre Zukunft ein, sie fühlen sich verlassen und vereinsamen. Und weil sie sich wertlos fühlen, tauchen sie ein in die Welt der Straße. Das liegt auch an uns selbst, aber noch mehr am Bildungssystem. Die Lehrer*innen können gegen diese Situation spürbar was tun.

Es gab eine Schulpsychologin, als Ferhat noch in die Schule ging, die wirklich sehr gut war. Sie bewertete Ferhat als einen guten Schüler mit den Worten „dieser Schüler hat doch keine Probleme“ und widersprach damit dem Direktor und den Lehrer*innen der Schule. Sie sagte, dass Ferhat clever sei und er mit etwas Verständnis viel schaffen würde, womit sie Ferhat zu unterstützen versuchte. Die Schulpsychologin war neu an der Schule. Ihr wurde aber am Ende des Schuljahres gekündigt. Versteht ihr, wie hier ein System funktioniert? Es ist unheimlich schwierig, dagegen anzukämpfen. Es gibt ein Rassismusproblem und zwar ein großes. Das gibt es in der Politik, der Polizei, den Schulen, im Jugendamt und überall. Doch wird dies nicht eingestanden. Meiner Meinung nach gab es nie rassismusfreie Zeiten in dieser Republik. Dies liegt auch daran, dass mit Hitler zusammen agierende Generäle und Bürokrat*innen nach dem 2. Weltkrieg in hohen Position weiterarbeiteten. Wie soll denn da das Rassismusproblem überwunden werden? Das geht gar nicht. Der Rassismus ist strukturell und muss umfassend in die Hand genommen werden. Von sich aus löst sich da überhaupt nichts. Nur wenn Menschen und Gruppen wie wir uns ernsthaft einsetzen, werden die Verantwortlichen das Problem akzeptieren müssen. Es wird nur Erfolg haben, wenn wir alle uns engagieren. Hierzu will ich noch ergänzen: Entrüstung und berechtigter Zorn hat keine Grenzen. Ich bin zu Recht entrüstet. Nach dem Verlust meines Sohnes habe ich vor nichts Angst und erkenne keine Grenzen an. Dies ist unmöglich und ich werde nicht aufhören.

Efsun Kızılay: Du hast nach dem Anschlag die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Wie kam es zu der Idee, die Bildungsinitiative zu gründen?

Serpil Temiz Unvar: Alles fängt mit Bildung an. Mit Bildung kann man sowohl Rassismus auf ein Minimum reduzieren als auch Rassismus den Weg ebnen, wenn man diskriminierende Inhalte lehrt. Für mich ist Bildung sehr wichtig. Dies habe ich auch immer an meine Kinder vermittelt. Auch sie haben immer viel Wert auf faire Bildung gelegt. Es ist wichtig, die Perspektiven der Lehrkräfte zu ändern. Denn wenn diese sich den Kindern falsch annähern, kommen die Kinder von ihrem Weg ab. Mit nur ein wenig mehr Verständnis und Empathie können die Kinder viel schönere Ziele erreichen. Wir wollen versuchen, dies zu zeigen. Es ist sehr wichtig, die Jugendlichen zu organisieren und zusammenzubringen. Dabei ist es egal, welche Geschichte, welchen Hintergrund sie haben oder welche Religion. Wenn alle gemeinsam an einem Strang ziehen, können wir sehr viel erreichen, denn wir sind nicht wenige. Wenn wir alle zusammenkommen könnten, gemeinsam agieren würden, gäbe es nichts, was wir nicht verändern könnten.

Efsun Kızılay: Könntest du uns von eurer Arbeit als Bildungsinitiative und euren Projekten erzählen?

Serpil Temiz Unvar: Die Jugendlichen, die mit uns zusammenarbeiten, haben meistens selber Rassismus erlebt. Alle gehen noch zur Schule, studieren oder absolvieren gerade eine Berufsausbildung. Nach dem Tod von Ferhat, Gökhan, Sedat, Hamza, Mercedes, Said Nesar, Vili, Fatih und Kaloyan wuchs das Gefühl in ihnen, etwas zu tun, sich dem zu widersetzen. Sie wollen etwas verändern. Sie wollen, dass die Namen weiterleben. Jede/r von ihnen teilt die selbe Absicht wie ich. Sie sind sehr motiviert und lernen sehr schnell. Von der Bildungsstätte Anne Frank haben sie eine erste Schulung erhalten und nehmen an weiteren Schulungen teil. Sie werden gerade zu Demokratietrainer*innen ausgebildet. Jeder/m Jugendlichen steht ein Bildungscoach zur Seite. Wir sind gerade dabei, unser eigenes Konzept zu erstellen. Mit diesem Konzept wollen wir die Jugendlichen stärken, bilden und sensibilisieren. Im Anschluss sind Informationen für Lehrkräfte geplant. Es gibt eine große Nachfrage. Die erste Gruppe, bestehend aus acht Personen, hat die Schulungen hinter sich. Mit der zweiten Gruppe wollen wir nun im Sommer beginnen. Nicht nur aus Hanau, sondern auch aus weiter entfernten Städten, reisen die Jugendlichen an und wollen teilnehmen und mitmachen. Sie schöpfen Hoffnung aus der Initiative. Alle zusammen wollen sie daran teilhaben. Egal welche Religion sie haben, welche Sprachen sie sprechen, welchen Hintergrund sie haben. Das gefällt mir am meisten.

Das Einzige, was uns fehlt, sind Räumlichkeiten. Gerade sind wir noch auf der Suche. Wenn wir welche gefunden haben, können alle vorbeischauen. Dann können wir auch andere Projekte umsetzen (Anm. d.Verf.: Inzwischen wurden Räumlichkeiten gefunden). Übrigens nehmen nicht nur Jugendliche teil. Es gibt Personen, die an dem Konzept mitarbeiten möchten, Pädagog*innen, Lehrkräfte. Wir bekommen Anfragen von Menschen, die uns fragen, wie sie uns helfen können. Aus jeder Gesellschaftsschicht treffen Hilfsangebote ein. Obwohl wir noch sehr neu sind, haben wir einen weiten Weg zurückgelegt. Zum Jahrestag des 19. Februar haben unsere Jugendlichen gemeinsam mit den Expert*innen vier Seminare an verschiedenen Schulen organisiert. Aufgrund der Corona-Pandemie können wir derzeit leider keine Schulen besuchen, aber wir stehen in Kontakt mit ihnen und werden sie wieder besuchen, wenn sich die Situation etwas normalisiert hat. In kürzester Zeit haben wir sehr viele Menschen erreichen können. Das ist etwas Gutes, denn viele sind der Meinung, dass die bislang geleistete Arbeit unzureichend war und wünschen sich mehr Aktivitäten. Wir alle reden von Rassismus, vom Organisieren, vom Zusammenkommen, können dies aber nicht wirklich umsetzen. Wir sind in Gruppen aufgeteilt. Wir reden, aber es bleibt dabei. Ich glaube daran, dass es nichts gibt, was wir nicht schaffen können, wenn wir gemeinsam agieren. Natürlich wird es seine Zeit brauchen, aber es ist nichts, was unmöglich ist. Ich bin eine Mutter und alle Kinder sind für mich wie Ferhat. Ich glaube, dass ich das den Kindern auch vermitteln konnte, denn sie alle sagen Mama zu mir.

Ercan Ayboğa: Wie sehen eure Ziele für die nächsten 1-2 Jahre aus? Mit wem zum Beispiel wollt ihr zusammenarbeiten, mit wem Workshops und Veranstaltungen organisieren?

Serpil Temiz Unvar: Von Anfang an haben wir uns bereit erklärt, mit anderen Organisationen gemeinsame Aktivitäten, einschließlich Workshops, durchzuführen. Unser Grundverständnis ist, dass wir mit anderen Akteur*innen zusammen agieren müssen, um wirklich etwas in dieser Gesellschaft zu bewirken. Wer antirassistische Ziele hat, ist potentielle*r Partner*in von uns. Einige der ersten Orte, an die wir hingehen, sind natürlich die Schulen. Da wir uns aber ganz neu organisieren, brauchen wir mehr als ein oder zwei Jahre, bis wir spürbar etwas erreichen. Wie auch immer: Es ist wichtig, Dinge ins Rollen zu bringen. 

Wenn ich mir die Jugendlichen näher betrachte, stelle ich fest, dass sich viele von ihnen gegen Rassismus engagieren wollen. Damit sie auch aktiv werden, ist es nötig, ihnen Ziele und einen Rahmen für das Engagement vorzuschlagen, um sie zu motivieren.  Sie verfügen über eine große Energie und damit ein großes Potential. Wenn diese für mich so wunderbaren Jugendlichen gesellschaftliche Ziele annehmen und sich hoffnungsvoll dahinter stellen, kann von ihnen viel kommen. Es geht schließlich um das Land, in dem sie leben. Die in der politischen Hierarchie ganz oben stehenden und nicht migrationsfreundlichen Akteur*innen werden angesichts des starken Engagements unsere Forderungen akzeptieren müssen. Wenn die Jugendlichen so denken, agieren und mit anderen Organisationen kooperieren, werden sie Erfolg haben. Es ist nicht unmöglich. Ich sehe mich als Anstoß, der Rest ist abhängig von der Verbreitung.

Ercan Ayboğa: Habt ihr Kontakt zu Initiativen und Organisationen aufgebaut, die eurer Initiative ähneln? Es gibt viele Organisationen, die gegen Rassismus aktiv sind; darunter auch einige von Opfern und Angehörigen von Opfern.

Serpil Temiz Unvar: Wir stehen zum einen mit vielen Einzelpersonen in Kontakt, die Rassismus erfahren haben und ihre Erfahrungen mit uns teilen. Zum anderen stehen wir mit Initiativen und Gruppen von Opfern bzw. Angehörigen von Opfern rassistischer Gewalt in einem Austausch, doch ist ihre Zahl sehr begrenzt. Die Zahl von antirassistischen Initiativen und Organisationen, die hauptsächlich aus Menschen ohne direkte rassistische Gewalterfahrung bestehen und mit uns den Kontakt suchen, ist hingegen recht hoch. Wenn wir alle diese Organisationen genauer betrachten, erkennen wir, dass die Arbeitsfelder teilweise verschieden sind, was aber nicht verwundern sollte. Wichtig ist, dass wir gemeinsam gegen Rassismus in diesem Land an einem Strang ziehen. Denn es ist wichtig, für gemeinsame Ziele den Weg gemeinsam zu beschreiten. Es ist nicht nur mein Weg, sondern der von allen.

Ich sage es immer wieder, dass Ferhat nicht getötet wurde, weil er Ferhat ist, sondern ein Kind von Migrant*innen. Für die anderen ermordeten jungen Menschen gilt das Gleiche. Diese Morde sind eine große Herausforderung für alle Migrant*innen, weshalb alle sich in irgendeiner Form engagieren sollten. Es ist inakzeptabel zu sagen „Dagegen können wir nichts tun“. Eigentlich hätte früher noch energischer was dagegen getan werden müssen. Viele Gruppen und Individuen haben sich in der Vergangenheit gegen Rassismus engagiert und tun es nach wie vor. Doch denke ich, dass sie alle sich nicht wirklich gemeinsam organisiert und koordiniert haben. Dieser Mangel muss in einer Weise überwunden werden.

Efsun Kızılay: Wie haben sich die Initiativen der Betroffenen vernetzt und gegenseitig unterstützt? Wie war der Austausch miteinander?

Serpil Temiz Unvar: Nach dem Massaker von Hanau sind einige solcher Initiativen zu uns gekommen. Als Menschen, die vor Jahren Leid durch Rassismus erfahren haben, sind sie gekommen, um ihre Erfahrung mit uns zu teilen. Das war sehr wertvoll für uns. Doch möchte ich auf einen wenig beachteten Punkt dabei eingehen. Wenn woanders zu einem späteren Zeitpunkt ein ähnliches Ereignis passiert, was für eine Erfahrung soll ich denn mit den Angehörigen der Opfer teilen? Was werde ich ihnen sagen? Dass die Zeit die Wunden heilen wird? Es gibt keinen Trost und Beruhigung hierfür. Bei sowas kann ich von niemandem erfüllenden Trost annehmen. Aber wichtig ist es für mich, zusammen zu agieren. In Hanau sind die Angehörigen sofort aktiv geworden sind. Als Ibrahim Arslan (Ibrahim Arslan wurde bei dem rechtsextremen Brandanschlag von Mölln 1992 schwer verletzt, Anm. d. Red.) einem rassistischen Anschlag ausgesetzt wurde, war er sieben Jahre alt. Heute geht er u.a. in die Schulen, um Seminare zu dem Thema zu halten. Er macht eine sehr wichtige Arbeit und erzählt über das Geschehene. Wir wollen das auch tun, aber noch mehr einen Schwerpunkt auf die Zukunft – mit engagierten jungen Menschen - legen. Es ist notwendig, sich über die eigenen Aktivitäten mehr auszutauschen und natürlich auch zu koordinieren. Wenn alle sich engagieren, können wir viel bewirken und verändern.

Efsun Kızılay: Kannst du mehr zu den notwendigen Veränderungen hinsichtlich der Politik dieses Landes sagen? Was forderst du von regierenden Politiker*innen?

Serpil Temiz Unvar: Ich gebe hierzu ein Beispiel. Der hessische Ministerpräsident Bouffier hat uns vor geraumer Zeit nach Wiesbaden eingeladen. Wir sollten die Möglichkeit bekommen, Antworten auf unsere Fragen zu erhalten. Es ist bekannt, dass wir sehr viele offene Fragen haben. Oft ist es so, dass uns eine Reihe von (auch öffentlichen) Einrichtungen zum Gespräch einladen, zuhören, uns aber keine Antworten und/oder konkrete Zusagen geben. Deshalb habe ich nach diesem Treffen in Wiesbaden nicht mehr an ähnlichen Treffen teilgenommen. Nun, in Wiesbaden haben wir im Gespräch mehrere Fragen gestellt. Bouffier hat zwei Aussagen getroffen, die ich inakzeptabel finde. So sagte er: „Ja, das ist sehr schlimm und sehr traurig. Aber ich habe noch schlimmere Fälle gesehen“. Zweifellos gibt es schlimmere Formen des Todes wie zum Beispiel das Verbrennen. Er bedauert angeblich den erlittenen Schmerz, aber relativiert ihn gleichzeitig. Für mich persönlich gibt es nichts Schlimmeres als den Tod von Ferhat. Die zweite problematische Aussage ist die Antwort auf Fragen von Etris (Said Etris Hashemi wurde beim Anschlag schwer verletzt; Anm. d. Red.), der die Fehler der Polizei thematisierte. Sie antworteten, als Polizei hätten sie keine ausreichende Erfahrung bei solchen Fällen und würden die Familien bei weiteren ähnlichen Fällen besser informieren. Wie kann es sein, dass die Polizist*innen unfähig sind, verantwortungsvoll bei rassistischen Anschlägen umzugehen? Diese Antwort sagt auch aus, dass sie nicht imstande sein werden oder wollen, weitere rassistische Anschläge zu verhindern. Hier wird ohne wirkliche Selbstkritik die eigene Polizei verteidigt. Um den wievielten rassistischen Anschlag handelt es sich? Um den 200sten? Da frage ich mich: Nach 200 Angriffen habt ihr nichts dazu gelernt, aber nach dem Anschlag von Hanau wollt ihr was hinzulernen? Wir fordern, dass rassistische Morde nie mehr passieren. Sie sagen aber nur, dass sie beim nächsten Anschlag besser reagieren werden. Das akzeptieren wir nicht. Die Politiker*innen müssen mit Menschen und Organisationen wie uns aktiv zusammenarbeiten. In einer der letzten Versammlungen mit den betroffenen Familien habe ich deshalb klar gesagt, dass sie mit uns zusammenarbeiten sollten. Die Aufklärung von rassistischen Morden wäre ihre Aufgabe und nicht unsere. Was wir zurzeit tun, müssten die Politiker*innen eigentlich selbst erledigen. Dann wäre dieses Land ein viel besseres.

Efsun Kızılay: Und was sollte die Zivilgesellschaft tun? Habt ihr ausreichend Solidarität erfahren? Was sind eure Erwartungen von der Gesellschaft?

Serpil Temiz Unvar: In Hanau beobachten wir eine nennenswerte Solidarität der Zivilgesellschaft. Aber auf Deutschlandebene gibt es unseren Beobachtungen zufolge Unzulänglichkeiten. Viele migrantische Kreise sagen uns: „Wir werden eben getötet, was können wir denn tun? Wir haben nicht genug Kraft.“ Auch ich war mal früher in dieser Position. Aber so dürfen wir nicht werden. Wir müssen uns unserer Kraft bewusst werden und sie vereinen. Angst darf nicht sein. Je mehr Angst du in dir trägst, desto mehr wirst du unterdrückt.

Efsun Kızılay: Sagt eure Erfahrung, dass wie früher auch die Mehrheit unserer Gesellschaft Migrant*innen und ihre Kinder als „fremd“ betrachtet und dementsprechend behandelt?

Serpil Temiz Unvar: Ja, seit 30 Jahren hat sich eigentlich nichts Essentielles verändert. Die Form hat sich dabei vielleicht geändert. Heute wird das Internet zum Hass genutzt und Waffenscheine erworben, mit denen die rassistischen Anschläge durchgeführt werden. Die rassistischen Anschläge haben auf jeden Fall in den letzten Jahren zugenommen. Mit jedem aus rassistischen Motiven ermordeten Menschen nimmt die Energie unter rassistischen Menschen zu. Infolge von rassistischen Anschlägen kommen antirassistische Menschen mehr zusammen und engagieren sich, aber auch die Gegenseite wird motiviert. Dem müssen wir aktiv entgegenwirken, sonst könnten weitere schlimme Ereignisse in dieser Gesellschaft passieren. Wir müssen der jungen Generation klar sagen, dass rassistisches Verhalten und Ausgrenzung gegenüber uns nicht normal ist, dies auch unser Land ist und wir daher den Rassismus nicht akzeptieren müssen. Wer kann denn entscheiden, was die/der andere ist? Der Hass breitet sich in Haushalten, aber auch in Schulen aus. Der Hass ist der Anfang alles Schlechtem. Wenn wir den Hass zerschlagen, könnten wir es schaffen. Hasserfüllte Erwachsene können wir nur schwierig im positiven Sinne beeinflussen, weshalb wir vor allem bei der jungen Generation ansetzen sollten, um Erfolg zu haben.

Efsun Kızılay: Relativ viele junge Menschen haben vom neunfachen Mord in Hanau gehört und zeigen Sensibilität. Erkennt ihr auch eine steigende Sensibilität und Aktivität hinsichtlich des Antirassismus unter jungen Menschen?

Serpil Temiz Unvar: Viele Jugendliche sagen: „Anstelle von Ferhat hätten wir sein können. Warum? Was haben wir getan? Was haben wir wem weggenommen?“ und bringen ihre Kritik zum Ausdruck. Es gibt eine Aussage von Cavit, einem Freund von Ferhat, welche mich traurig gestimmt hat: „Wir sind keine Jugendlichen in hohen Positionen oder haben niemandem das Brot in Frage gestellt. Wir lebten vor uns hin. Warum haben sie uns voller Hass das Leben weggenommen? Was haben diese Jugendlichen denn wem angetan?“

Wie kann meine Haarfarbe zum Hass auf mich führen? Wenn wir uns die wahren Gründe ansehen, stellen wir fest, dass der Neid und eigene Misserfolg ganz vorne mit dabei ist. Sie projizieren ihren Frust auf andere, die sie anhand von äußeren Merkmalen auswählen.

Ercan Ayboğa: Was muss eintreten, damit die Aktivist*innen der Bildungsinitiative und insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte „Dieses Land ist auch meines; ich bin Teil dieser Gesellschaft“ sagen können?

Serpil Temiz Unvar: Mit einem antirassistischen Engagement in diesem Land treten sie auch für ihre Rechte ein. Niemand sollte ihnen ihre Rechte wegnehmen können und alle Versuche in diese Richtung sollten als inakzeptabel bezeichnet werden. Nur in Folge eines starken Eintretens werden ihre Rechte anerkannt. Da dieses Land auch das Land der hierher Migrierten und ihrer Nachfahren ist, geht mir der Satz „Die Getöteten sind keine Fremden“ gegen den Strich. Warum betrachten viele das Thema aber so? Auch stört mich, dass gesagt wird, dass alle Getöteten Hanauer*innen gewesen seien. Wenn sie nicht Hanauer*innen gewesen wären, könnte dann das Morden berechtigt sein? Wir sollten alle Menschen als gleichberechtige Menschen anerkennen. Wir leben im 21. Jahrhundert und zwischen einigen Staaten sind Grenzen gefallen. Es kann nicht sein, dass ein Mensch ermordet wird, weil er migriert ist oder woanders herstammt. Die Politiker*innen sollten sich ernsthaft hinsetzen und selbstkritisch nach einer Lösung suchen.

Efsun Kızılay: Zuletzt möchte ich dich fragen, was dir in dieser schwierigen Zeit Kraft gibt.

Serpil Temiz Unvar: Wenn ich in letzter Zeit nicht gegen den Rassismus angekämpft hätte, weiß ich nicht, was mit mir passiert wäre. Ich muss leben und darf nicht sterben, denn ich habe Kinder. Da ich lebe, muss ich kämpfen. Ferhat war so ein Mensch, dass sein Kampf nicht mit seinem Tod enden darf. Im Gegenteil, mit seinem Tod muss sein Kampf stärker werden. Sein vor geraumer Zeit geschriebener Satz „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“ ist die Basis für mein Wirken. Breiter betrachtet, möchte ich betonen, dass Jugendliche und der Wunsch, sie antirassistisch zu motivieren der größte Motor für mein Engagement sind.

Das Interview ist auch in kurdischer und türkischer Sprache verfügbar: