Nachricht | «Zukunft kommt von selbst - Fortschritt nicht.»

Vor 50 Jahren, am 4. Juni 1971, starb in Budapest der Philosoph Georg Lukács.

Information

Autorin

Antonia Opitz,

Georg Lukács (Budapest,1945)

Der am 13. April 1885 geborene Bankierssohn studierte standesgemäß Jura und Nationalökonomie, fühlte sich aber wesentlich stärker von der Literatur angezogen. Er engagierte sich für modernes Theater und schrieb Essays, die ihm Ruhm als Schriftsteller einbrachten. Schließlich entschied er sich doch für eine akademische Laufbahn und übersiedelte nach Heidelberg, um dort an einer neukantianischen Ästhetik zu arbeiten. Der Erste Weltkrieg durchkreuzte diesen Lebensentwurf. Der junge Lukács, der diesen Krieg von Anfang an leidenschaftlich verurteilte, ging in die Politik, trat Ende 1918 in die Kommunistische Partei Ungarns ein und trug während der Ungarischen Räterepublik als Volkskommissar kurzzeitig Regierungsverantwortung. Nach dem Scheitern dieses revolutionären Versuchs musste er fliehen und durfte seine Heimat für fast fünfundzwanzig Jahre nicht wiedersehen.

Dr. phil. habil. Antonia Opitz (Leipzig - Budapest) ist Mitglied der Internationalen Georg-Lukacs-Gesellschaft und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der  Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen.

Das erste Jahrzehnt der Emigration verbrachte er hauptsächlich in Wien. Es waren Jahre der Parteiarbeit und der politischen Analyse, die Lukács später „die Lehrjahre des Marxismus“ nannte. Ihr Ertrag sind die Aufsätze, die er 1923 unter dem Titel Geschichte und Klassenbewusstsein veröffentlichte, ein Buch, das bis heute als klassisches Werk eines kritischen Marxismus gilt. Der zweite Abschnitt der Emigration war dagegen vorwiegend von theoretischen Fragestellungen geprägt. In dieser Zeit begann Lukács in Berlin seine Realismustheorie auszuarbeiten und später, schon in der Sowjetunion, entstand Der junge Hegel, eine Monographie. In Moskau war er auch mit dem Stalinismus konfrontiert, sein Nachdenken über ihn setzte zwar dort ein, bis zu dessen entschiedener, theoretisch fundierter Ablehnung brauchte er noch Jahre. 1945 entscheidet sich der Emigrant für die Rückkehr in seine Heimat.

Nach ersten von der Hoffnung auf die Entstehung einer neuen Gesellschaft geprägten Jahren gerät er in eklatanten Gegensatz zur stalinistischen Parteiführung, die jeden Gedanken an eine Reform des sowjetischen Vorbildes untersagte. Nachdem Lukåcs 1956 wegen seiner Beteiligung an oppositionellen Bestrebungen verhaftet und verurteilt wurde, zieht er sich vollkommen in die wissenschaftliche Arbeit zurück. Nun legt er der Reihe nach seine marxistischen Hauptwerke vor: die beiden Bände der Besonderheit des Ästhetischen und der Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die Vollendung einer geplanten Ethik des Marxismus, die Krönung seines philosophischen Systems, versagen ihm allerdings Krankheit und Tod.

Die 18 Bände der in Kürze abgeschlossenen deutschen Leseausgabe gestatten es, dieses opulente Lebenswerk erstmalig als Ganzes zu überblicken. Deutlich zeichnen sich so die Fragestellungen ab, die es durchziehen: Erstens die Ablehnung des Kapitalismus als eine dem Menschen grundsätzlich feindlichen Gesellschaftsform und die fortwährende Suche nach den Alternativen, zweitens das Bekenntnis zum Marxismus als Weltanschauung, die, vorausgesetzt, man denkt ihn kritisch weiter, Lösungen für die Lebensfragen der Menschheit bieten kann, und schließlich drittens ein unstillbares Interesse am Erkunden des Zusammenhangs zwischen Kunst und Wirklichkeit und lebenslange Versuche, die Vermittlungen zwischen ihnen immer genauer zu erfassen. Gegenwärtig ist dieser bedeutende Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts in seiner Heimat verfemt. Das Lukács Archiv, seit dem Tod des Philosophen Ort der Aufbewahrung des Nachlasses und zentrale Forschungsstätte, wurde vor Jahren geschlossen. Diesem rigiden Versuch einer Auslöschung steht ein deutliches Erstarken der Rezeption im letzten Jahrzehnt gegenüber, und diesmal nicht mehr nur im europäischen und englischsprachigen Raum, sondern auch in Lateinamerika (Brasilien) und Asien (China). Von einer inzwischen veränderten, der globalisierten Welt wird Lukácsʼ Lebenswerk neu befragt, und es zeigt sich, ihm wohnt die Kraft inne, sich auch dieser Perspektive zu öffnen.

Die Zeitschrift «Utopie kreativ» veröffentlichte im September 1991 (Heft 13) einen Schwerpunkt zu Georg Lukács. Dazu gehörte ein Brief Lukács` aus dem Jahr 1968 und das politische Vermächtnis, eine kurz vor seinem Tod aufgenommene Tonbandaufzeichnung. Die Dokumente wurden vom Lukács-Archiv und der Lukács-Stiftung in Budapast zur Verfügung gestellt und wurden erstmals in deutscher Übersetzung publiziert. Dazu erschien ein Beitrag des ungarischen Philosophen Ferenc Tőkei mit dem Titel «Demokratie und Sozialismus in der politischen Philosophie von Georg Lukács».