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Vom Soma-Massaker zur unabhängigen Gewerkschaft

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Tag des Massakers in Soma
13.5.2014, der Tag des Massakers in Soma, Bergarbeiter warten auf die Rettung ihrer eingeschlossenen Kollegen. Foto: Sultan Eylem Keleş

Am 13. Mai 2014 fand das größte Massaker an Arbeitern in der Geschichte der Republik Türkei statt. Während des Schichtwechsels im Braunkohlebergwerk der Soma Holding befanden sich 787 Arbeiter 400 Meter unter Tage, als ein Feuer ausbrach und giftiges Gas das Bergwerk füllte. Drei Tage brauchte das Rettungsteam, um alle Arbeiter aus der Mine zu holen. 301 von starben, 90 wurden verletzt.

Als der Gewerkschafter Başaran Aksu an jenem Tag durch die Nachrichten von dem Vorfall erfuhr, machte er sich sofort auf den Weg nach Soma. «Als ich dort ankam, herrschte in der Stadt eine chaotische Atmosphäre. Alle möglichen Amtsträger*innen, Journalist*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Anwält*innen strömten dorthin. Vor der Mine warteten die Angehörigen der eingeschlossenen Arbeiter. Die Menschen weinten und schrien gleichzeitig. Ich habe mich mit den Überlebenden unterhalten, drei Tage lang waren wir dort. Wir sahen, dass das Ausmaß der Ausbeutung weit über den Tod der 301 Arbeiter hinausging. Bereits zuvor hatten Tausende sich am Arbeitsplatz verletzt, Finger, Augen und Beine verloren.» [1]

Die Bergbauindustrie ist einer der gefährlichsten Arbeitssektoren in der Türkei, das Land ist der drittgrößte Kohleproduzent weltweit. Von der Neoliberalisierung, die ab den 1980er Jahren einsetzte, war auch der Kohlebergbau betroffen. Das staatliche Kohle-Unternehmen Türkiye Kömür İşletmeleri Kurumu begann, einen Großteil der Minen an private Unternehmer zu vermieten. Durch diese Form der Privatisierung wurde der Staat als einstiger Kohleproduzent zum größten Kunden bei den privaten Firmen. Hinzu kamen die Einführung eines informellen Leiharbeitersystems und die Zahlung von Prämien – je mehr Kohle abgebaut wird, desto höher ist der Lohn. Vor dem Massaker in Soma wurden in einer 8-Stunden-Schicht 3.100 Tonnen Kohle abgebaut. Um einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen, sparen die Minenbetreiber an den Standards für die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Gesundheit der Arbeiter. Für die Soma Holding lohnt sich dieses System. Wie der Firmenchef Alp Gürkan selbst sagte, liegen die Betriebskosten für den Abbau einer Tonne Kohle bei rund 20 Dollar, während sie unter der Leitung des staatlichen Unternehmens über 100 Dollar mehr betrugen.

Kundgebung für verstorbene Bergarbeiter aus Soma
Angehörige nehmen an einer Kundgebung für die verstorbenen Bergarbeiter teil. Foto: Sultan Eylem Keleş

Aksu, der die Minenarbeiter von Soma ausführlich über ihre Arbeitsbedingungen befragte, schildert die Auswirkungen der Privatisierung: «Das Bild, das uns die Arbeiter zeichneten, erinnerte mich an die Produktionsverhältnisse aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Sechs Tage die Woche schufteten sie dort und erhielten dafür gerade einmal den Mindestlohn. Das waren damals ungefähr 1100 Lira. Zu dem Profitdruck der Firma kommt außerdem der Druck des ‹dayı başı›, [2] den man sich wie einen Sklaventreiber vorstellen kann. Doch wie viel die Firma letztendlich produziert, spielt durch die hohe Nachfrage und die garantierte Abnahme durch den Staat kaum eine Rolle. Um noch mehr Profit herauszuholen, werden die Arbeitsgeräte völlig abgenutzt und es passieren solche Unfälle. Als das Feuer ausbrach, gab es nicht einmal einen Schutzraum, in den die Arbeiter hätten gehen können.»

Sultan Eylem Keleş studierte Journalismus an der Ege Üniversitesi in Izmir. Nach einem Praktikum bei der Zeitung Agos arbeitet sie nun als Journalistin in Istanbul. Sie beschäftigt sich mit politischen Kämpfen nationaler Gruppen, die in der Türkei nicht zur dominierenden Nation gehören, sowie mit Themen der Arbeitswelt.

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

Neben Aksu machte sich damals auch der Anwalt Mürsel Ünder, Mitglied im Verein progressiver Jurist*innen (Çağdaş Hukukçular Derneği) auf den Weg nach Soma. Vor Ort errichtete er einen Krisenstab, protokollierte die Ereignisse und sprach mit den Angehörigen. Doch Vertreter*innen der AKP-Regierung wurde die Aufmerksamkeit, die der bis dahin kaum bekannte Ort Soma plötzlich auf sich zog, schnell unangenehm. Die Anreisenden wurden in den regierungsnahen Medien als «Provokateure» und «Gezi-Idioten» bezeichnet, die sich das Grubenunglück kurz vor dem ersten Jahrestag des Protests im Istanbuler Gezi-Park zunutze machen wollten. Örtliche Rechtsradikale und die Polizei fühlten sich dadurch motiviert, die angereisten Anwält*innen anzugreifen, sodass Ünder mit gebrochener Nase in Gewahrsam landete.

Die Bestrebungen der Regierung, jegliche Solidarität und Politisierung der Ereignisse zu unterbinden, hatte einen konkreten Grund: Die aufkommende Wut sollte sich nicht gegen den damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan richten, der kurz darauf seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten verkünden wollte. Die Reaktionen auf Erdoğans Besuch am 15. Mai zeigten jedoch, dass es dafür bereits zu spät war. Mit den Slogans «Ministerpräsident Rücktritt» und «Mörder Erdoğan» wurde er in Soma empfangen, kurzzeitig mussten er und seine Sicherheitskräfte sich in einem Supermarkt verschanzen, vor dem wütende Demonstrant*innen warteten. Der Berater Erdoğans, Yusuf Yerkel, wurde später dabei fotografiert, wie er auf einen protestierenden Bergarbeiter eintrat, der von Sicherheitskräften bereits auf den Boden gedrückt wurde. Der bis dahin bei einem Großteil der Bevölkerung beliebte Erdoğan sah sich das erste Mal direkt mit enttäuschten und wütenden AKP-Wähler*innen konfrontiert.

Später bezeichnete Erdoğan diesen «Arbeitsunfall» als gewöhnliches Risiko im Bergbau. In erster Linie war der Tod der Arbeiter jedoch das Ergebnis von Neoliberalisierung, Privatisierung und Auslagerung der Arbeit an Subunternehmen, wodurch die Organisation der Arbeit grundlegend verändert wurde. Für billige Arbeitskraft bei gleichzeitig hohen Profiten war der Staat ebenso verantwortlich wie die Unternehmer. Anwalt Ünder erinnert sich, dass die Firma, die die Mine zuvor betrieben hatte, ausdrücklich vor gesundheitlichen Risiken und sogar einem Feuer gewarnt und deshalb den Betrieb eingestellt hatte, bevor die Mine trotz der Risiken an die Soma Holding übergeben wurde. Er ist überzeugt, dass die Betreiber der Mine von Anfang an mit Lebensgefahr für die Arbeiter gerechnet hatten, dann jedoch von der hohen Zahl der Toten überrascht wurden. «Mit fünf bis zehn, maximal 20 oder 30 Toten haben sie gerechnet. Ihr Plan ging nicht auf, weil es plötzlich 301 Tote waren. Wenn einzelne Arbeiter sterben, ist das nicht mal eine Nachricht in der Zeitung wert.» [3]

Kundgebung von Bergarbeitern aus Soma
Oktober 2019, die Bergarbeiter aus Soma machen sich auf den Weg nach Ankara, um für ihr Recht auf Abfindungszahlungen zu protestieren. Foto: Sultan Eylem Keleş

Doch für Aksu tragen nicht nur der Staat und die Unternehmer die Verantwortung für den Tod der Arbeiter, sondern auch die gelben Gewerkschaften [4], die ihrer Aufgabe, die Interessen der Arbeiter zu vertreten, nicht nachkamen. 2014 organisierte die Gewerkschaft Türkiye Maden İş einen Großteil der Arbeiter. Sie gehört zum größten Gewerkschaftsdachverband Türk İş, der für seine Loyalität gegenüber der Regierung und seinen arbeitgeberfreundlichen Kurs bekannt ist. Aksu berichtet, dass die Geschäftsführer der Soma Holding selbst dafür gesorgt hätten, dass nur diese Gewerkschaft in der Mine vertreten war: «Die Arbeitgeber sind direkt mit Türkiye Maden İş in Kontakt getreten und haben die Arbeiter in dieser Gewerkschaft angemeldet. Sowohl die Vertreter am Arbeitsplatz, als auch in der Gewerkschaftsführung wurden durch die Geschäftsführung bestimmt, die Arbeiter hatten überhaupt kein Mitspracherecht. Die Präsenz dieser Gewerkschaft in der Mine sorgte dafür, dass die Interessen der Arbeitgeber gesichert und die Arbeiter unter Kontrolle gehalten wurden.»

Anwalt Ünder kritisiert, dass der Gewerkschaftsvorsitzende, nach dem er die Nachricht von dem Feuer in Soma erhalten habe, als erstes den Betreiber der Mine, Can Gürkan, informiert habe. Bei der Gerichtsverhandlung, in der auch Gürkan angeklagt wurde, habe sich jedoch von Maden İş niemand blicken lassen, keinen einzigen Antrag habe die Gewerkschaft eingereicht.

Gerichtsprozess bringt keine Gerechtigkeit

Der Prozess begann knapp ein Jahr nach dem Massaker von Soma im April 2015. Insgesamt 51 Personen wurden angeklagt, die höchste Strafe stand auf den Anklagepunkt der «vorsätzlichen Tötung». Die Verhandlungen erfuhren zunächst eine große öffentliche Aufmerksamkeit, die im Laufe der folgenden Jahre jedoch abnahm. Die Angehörigen der Verstorbenen kritisierten, dass nur die Chefs, jedoch nicht die politischen Verantwortlichen wie der Ministerpräsident angeklagt wurden. Das Besondere an diesem Prozess war dennoch, dass nicht nur einzelne Funktionsträger aus der Firma, sondern auch die Geschäftsleitung selbst angeklagt wurde. Während der CEO der Soma Holding, Can Gürkan, einige Jahre in Haft verbringen musste, blieb der Inhaber der Firma, Alp Gürkan, auf freiem Fuß.

Ünder, der die Angehörigen der verstorbenen Arbeiter in diesem Prozess vertrat, resümiert den Prozess als einen der widerwärtigsten, den die Türkei bis dahin gesehen hatte. Er erinnert sich, dass man im Februar 2017 mit dem Ende des Prozesses rechnete, nachdem der Staatsanwalt sein abschließendes Plädoyer ankündigte. Doch nach einer fünfminütigen Toilettenpause hatte dieser seine Meinung geändert, für Ünder ein klarer Fall von Manipulation der Justiz. «Er kam wieder und sagte, seine Schlussbetrachtung sei noch nicht fertig, kurz darauf wurde er vom Prozess ausgeschlossen. Im Anschluss wurde noch zweimal die Staatsanwaltschaft ausgetauscht. Der Anwalt des CEOs Can Gürkan drohte im Gerichtssaal ganz offen, dass sich das Blatt nun gewendet habe. Der Präsident des Gerichts war Aytaç Ballı. Er kannte den Fall sehr gut und ist ein disziplinierter und gerechter Richter. Auch er wurde ausgetauscht und durch Salih Pehlivanoğlu ersetzt. Ihn kennt man aus einem Verfahren in der Region Elbistan, wo durch eine Explosion in einem Bergwerk zehn Menschen getötet wurden. Pehlivanoğlu hatte damals eine skandalös milde Geldstrafe gegen die Verantwortlichen verhängt. Er wurde absichtlich für den Soma Prozess bestimmt.»

Der Protestmarsch der entlassenen Bergarbeiter nach Ankara wird von der Polizei blockiert.
Der Protestmarsch der entlassenen Bergarbeiter nach Ankara wird von der Polizei blockiert. Foto: Sultan Eylem Keleş

Auch der Druck auf die Anwält*innen, die den Prozess begleiteten, wurde erhöht. Der Vorsitzende des Vereins progressiver Jurist*innen, Selçuk Kozağaçlı, kam unter dem Vorwand, Mitglied in einer terroristischen Vereinigung zu sein, in Untersuchungshaft. Bei seinem Verhör wurde er gefragt, mit welcher Motivation er den Soma-Prozess so genau verfolge. Für Ünder bedeutete das, der Staat versuchte, die Anwälte gezielt einzuschüchtern, indem ihnen die Teilnahme an einem Prozess als Straftat angehängt wurde.

Am 11. Juli 2018 sprach das Gericht 50 Monate nach dem eigentlichen Ereignis dann das Urteil. Can Gürkan und 14 weitere Angeklagte wurden wegen fahrlässiger, nicht vorsätzlicher Tötung verurteilt, während Alp Gürkan freigesprochen wurde. Da Can Gürkan sich während des Prozesses bereits in Untersuchungshaft befand, fielen der Tag seiner offiziellen Verurteilung und der seiner Haftentlassung zusammen. Im Februar 2021 wurde der Prozess wieder aufgenommen, Gürkan und zwei weitere Angeklagte stehen erneut vor Gericht und müssen sich erneut wegen fahrlässiger Tötung, jedoch mit bekanntem Risiko verantworten. Der nächste Verhandlungstag ist der 14. Juni.

Ünder beschreibt, wie der jahrelange Prozess die Familien der verstorbenen Arbeiter verändert hat: «Die Familien haben die Klasse des Kapitals kennengelernt. Sie haben gesehen, dass die Chefs für ihre Profitgier dazu bereit sind, ohne mit der Wimper zu zucken 301 Menschen zu töten. Sie haben gesehen, dass Chefs wie Can Gürkan kaltblütige Mörder sind. Und nicht nur das. Sie haben auch gesehen, was die Rolle der Polizei und der Gendarmerie im Gerichtssaal ist. Sie haben gesehen, dass der Staat und die Politiker Seite an Seite mit den Chefs stehen. Das, was wir als ‹Politik› bezeichnen, haben diese Familien am eigenen Leib erfahren müssen. Das Verhältnis zwischen Staat und Kapital, zwischen Staat und Justiz und zwischen Justiz und Kapital. Ihre Wut haben sie mit ihrem Widerstand bekämpft.»

Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft

Der Gerichtsprozess brachte keine Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen und signalisierte den Arbeitern, die weiterhin jeden Tag ihr Leben in den Kohlebergwerken aufs Spiel setzten, dass der Profit der Minenbetreiber über der Gesundheit und dem Leben der Arbeiter steht. Doch Başaran Aksu, Anwalt Ünder und ihr Genosse Kamil Kartal, ebenfalls Gewerkschafter, hatten bereits nach dem Massaker in Soma beschlossen, diese Arbeitsverhältnisse nicht länger zu akzeptieren. In den folgenden Monaten blieben sie vor Ort und begannen, lokale Komitees mit den Arbeitern aufzubauen, zu denen sie Kontakt aufgenommen hatten. Neben Türkiye Maden İş organisierte auch die deutlich kleinere Gewerkschaft Dev-Maden Sen, die zum progressiven Gewerkschaftsdachverband Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu (DİSK) gehört, in diesem Sektor. Statt sich einer der bestehenden Gewerkschaften anzuschließen, beschlossen Aksu, Ünder und Kartal, zunächst die Bergarbeiter in den Stadtteilkomitees von der Notwendigkeit der Selbstorganisierung zu überzeugen. Im Gegensatz zu den anderen Gewerkschaften wollten sie keine bürokratische Struktur, die sich durch Mitgliedsbeiträge finanziert, sondern sie strebten eine politisch und ökonomisch unabhängige, klassenkämpferische Gewerkschaft an, die von den Arbeitern selbst geführt wird.

Başaran Aksu spricht zu den Bergarbeitern.
Başaran Aksu spricht zu den Bergarbeitern.
  Foto: Sultan Eylem Keleş

Bis September 2014 hatten Aksu und Kartal es geschafft, in der größten Mine in Soma, der İmbat Madencilik, in drei Schichten Komitees zu organisieren. In dieser kurzen Zeit erreichten sie die Erhöhung des Lohns um 100 Prozent sowie die Verringerung der Arbeitszeit von acht auf sechseinhalb Stunden. Als in dieser Mine ebenfalls ein Arbeiter durch einen Unfall verstarb, kam es erstmals in Soma zur spontanen Arbeitsniederlegung von 5.000 Bergarbeitern. Auch die DİSK-Gewerkschaft Dev-Maden Sen hatte ab dem Sommer 2014 eine größere Organisierungskampagne in Soma begonnen, sodass sich in der Stadt eine Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften um die Organisierung der Arbeiter entwickelte.

Aksu berichtet von gewaltsamen Angriffen auf ihn und Kartal, für die er die Vertreter der gelben Gewerkschaft Türkiye Maden İş verantwortlich macht. «Es war, als hätten wir in ein Wespennest gestochen. Ständig wurden wir bedroht, und als wir unser Beileid für den verstorbenen Arbeiter Metin Keskin ausdrücken wollten, wurden wir von 400 Leuten angegriffen.» Er betont jedoch auch, dass nicht dieser Angriff, sondern die spontane Arbeitsniederlegung nach dem Tod des Kollegen im kollektiven Gedächtnis bleiben solle.

2016 fand nach mehreren Terminverschiebungen der Kongress von Dev-Maden Sen statt. Aksu, der noch unter den Verletzungen litt, die er sich beim Angriff auf ihn zugezogen hatte, nahm gemeinsam mit den Arbeitern aus Soma, die sich in den Komitees organisiert hatten, an der Versammlung teil. Auf dem Kongress richtete Aksu seine Kritik gegen die hauptamtlichen Gewerkschaftsvertreter, von denen keiner selbst je in einer Mine gearbeitet habe und deren politische Haltung keinen Deut besser sei als die der gelben Gewerkschaft. Zuvor hatten Dev-Maden Sen-Vertreter ihre Mitglieder dazu aufgerufen, Mitglied in der gelben Gewerkschaft Türkiye Maden-İş zu werden, um von dem Tarifvertrag, den diese Gewerkschaft verhandelt hatte, profitieren zu können. Laut Aksu war der eigentliche Grund für den Aufruf zum Gewerkschaftsaustritt jedoch ein anderer: die Gewerkschaftsführung habe Angst bekommen, dass die neuen Mitglieder, die Arbeiter aus Soma, realistische Chancen auf die Übernahme der Gewerkschaftsführung hatten. Um ihr eigene Führungsposition zu sichern, nahmen sie einen Verlust der neuen Mitglieder in Kauf. Auf dem Kongress rief Aksu zum Podium: «Diese Gewerkschaft verrät die Arbeiter von Soma. Das soll DISK sein, ist das etwa der progressive Geist? Ehrlosigkeit ist das.»

Daraufhin verließen die Arbeiter von Soma den Saal und beschlossen die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft: Bağımsız Maden İş. Bis zur offiziellen Gründung im April 2018 vergingen noch zwei Jahre. Ihre Zentrale befindet sich nicht in der Hauptstadt Ankara oder in Istanbul, sondern in Soma. Die gesamte Gewerkschaftsführung besteht aus Bergarbeitern. Im wahrsten Sinne des Wortes kamen sie aus der Erde hervor, geprägt von all den guten und schlechten Erfahrungen ihrer Arbeit. Der Gewerkschaftsvorsitzende ist der Minenarbeiter Tahir Çetin, der kein Geld von der Gewerkschaft bekommt. Er arbeitet 400 Meter unter Tage und organisiert seine Kollegen.

Im Januar 2021 registrierte die Gewerkschaft 650 Mitglieder, doppelt so viele wie Dev-Maden Sen, nicht nur in Soma, sondern auch in anderen Bergwerken wie in Zonguldak, Adana und Trakya. Für diese kurze Zeit ihres Bestehens ist dies ein Erfolg der Gewerkschaft, deren Mitgliedschaft in den Komitees aktiv ist und Arbeitskämpfe führt – trotz des massiven Drucks durch die Minenbetreiber, den Staat und seine bewaffneten Einheiten.

Größere Aufmerksamkeit erreichte Bağımsız Maden-İş erstmals im Oktober 2019, als die Gewerkschaft nach der Entlassung von fast 4.000 Arbeitern einen Protestmarsch von Soma nach Ankara startete, um das Recht auf Abfindungszahlungen durchzusetzen. Direkt zu Beginn versuchte die Gendarmerie die Protestierenden aufzuhalten, doch schnell entwickelte sich öffentliche Solidarität. Nach Tagen des Widerstandes wurde im Parlament beschlossen, den Forderungen der Arbeiter nachzugeben und Bağımsız Maden-İş ging als «gesetzgebende Gewerkschaft» in die Geschichte ein.

Diese Form des Protests, der Marsch nach Ankara, hat eine lange historische Tradition in der Türkei. Sie ist nicht nur ein Ausdruck dafür, dass die lokalen Protestformen als scheinbar wirkungslos betrachtet werden, sondern zeigt, dass die Verantwortlichen für Konflikte am Arbeitsplatz in Ankara, dem Sitz der Regierung, verortet werden. Aksu sagt: «Die Arbeiter sehen, dass ihre Chefs immer protegiert werden. Selbst wenn sie einen Gerichtsprozess gewinnen, hilft ihnen das am Ende nicht. Sie sehen, dass der eigentliche Verantwortliche dafür in Ankara sitzt und die einzige Lösung darin besteht, zur Parteizentrale der AKP, dem Palast von Erdoğan und dem Parlament zu gehen.»

Doch lange nicht alle Arbeiter, die bei Bağımsız Maden İş organisiert sind, sind auch Gegner der Regierungspartei, Soma galt lange als AKP-Hochburg. Doch für Aksu ist das ein Widerspruch, der nicht nur auf die Türkei zutrifft: «Überall auf der Welt stehen die Arbeiter*innen unter einem starken Einfluss von konservativen, nationalistischen Strömungen. Sie wählen Parteien, die diese Werte vertreten. In der Türkei richtet die säkulare Mittelschicht ihren Unmut nicht gegen die herrschende, sondern die beherrschte Klasse. ‹Na das habt ihr jetzt davon›, sagen sie. Doch wenn diese Mittelschicht wirklich gegen die AKP ist, sollte sie folgendes erkennen: Spätestens ab 2008 richteten sich im ganzen Land immer wieder Arbeiter*innenproteste gegen die AKP, dadurch wurde der Gesellschaft erst deutlich, dass die Partei ein Feind der Arbeiter*innen und der Gewerkschaften ist. Heute ist der Rückhalt der AKP unter den Arbeiter*innen längst nicht mehr so groß, sie lassen sich nicht mehr so einfach manipulieren. Die Spannungen, die die AKP momentan erlebt, kommen größtenteils aus der arbeitenden Bevölkerung, deshalb hat ihr Widerstand eine große Bedeutung. Statt also von außen einfach zu sagen, ‹das sind AKP-Anhänger›, geht es darum, diesen Widerstand zu stärken.»

Tahir Çetin
Tahir Çetin, Vorsitzender der Gewerkschaft Bağımsız Maden İş (rechts).
  Foto: Sultan Eylem Keleş

Die Bergarbeiter kämpfen nicht nur für ihre eigenen Anliegen. Als im Oktober 2020 ein Erdbeben der Stärke 6,6 die Stadt Izmir erschütterte, waren es die Bergleute, die sich sofort mit ihren Arbeitswerkzeugen auf den Weg machten, um die unter den Trümmern eingeschlossenen Menschen zu bergen. Einige der Verschütteten, deren Lebensumstände über die sozialen Medien verbreitet wurden, hatten sich selbst mit den Arbeitskämpfen ihrer Retter solidarisiert, und so entstand trotz des Unglücks ein Gefühl von grenzenloser Solidarität.

Doch nicht nur Arbeitskämpfe nehmen in der Türkei zu. Auch der Widerstand gegen die Ausbeutung der Natur und gegen den Klimawandel bringen immer mehr und vor allem junge Menschen zusammen. Für die Kohlekraftwerke, gegen deren Bau protestiert wird, wird genau jene Kohle benötigt, die die Bergarbeiter täglich abbauen. Wäre ein Stopp des Kohleabbaus überhaupt in ihrem Interesse? Für Gewerkschafter Aksu steht fest:

Wo auch immer jemand die Natur oder sein Dorf verteidigt, wir stehen an seiner Seite. Der Bergbau hat einen massiven Einfluss auf die Gesundheit der Menschen, auf die Umwelt und auf die Landwirtschaft. Dagegen kämpfen wir und das versuchen wir auch den Arbeitern und der lokalen Bevölkerung zu erklären. Aber wenn irgendwo eine neue Mine eröffnet wird und dort die Ausbeutung der Arbeitskraft beginnt, dann beginnen wir mit der gewerkschaftlichen Organisierung. Ja, es ist ein Gegensatz, aber wir versuchen beide Kämpfe zu verbinden. Wir kämpfen sowohl für die Organisierung der Bergarbeiter, als auch gegen die Eröffnung neuer Minen.

«Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt», schrieb Karl Marx im ersten Band des Kapitals. Bağımsız Maden İş entstand im Herzen des Vampirs, in Soma. Die Gewerkschaft entstand an einem Ort eines kollektiven Mords, organisiert von Staat und Kapital, geduldet durch die gelben Gewerkschaften. Sie kämpft dagegen, dass weitere Minenarbeiter in den Bergwerken begraben werden, indem sie die Lebenden organisiert, und erfährt dafür gesellschaftliche Solidarität. Sie finanziert sich durch freiwillige Spenden ihrer Mitglieder und lebt durch deren aktive Teilnahme an der Gewerkschaftsarbeit. Es gibt keine Bürokraten, sondern die Gewerkschaftsführer sind allesamt Minenarbeiter. «Das einzige Kapital, das wir haben, ist unsere Solidarität», sagt Aksu, und meint damit nicht nur die Türkei.


[1] Dieses Zitat wie auch alle folgenden von Başaran Aksu stammen – soweit nicht anders angegeben – aus einem Interview, das Sultan Eylem Keleş Ende April/Anfang Mai mit ihm geführt hat.

[2] «Dayı başı» lässt sich als «Onkel» übersetzen und bezeichnet die Funktion eines Arbeitsvermittlers, der Kommission für die Vermittlung von Arbeitskräften erhält.

[3] Dieses Zitat von Mürsel Ünder und alle folgenden stammen aus einem Interview, das Sultan Eylem Keleş am 3.5.2021 mit ihm führte.

[4] Als «gelbe Gewerkschaften» bezeichnet man unternehmerfreundliche und anti-sozialistische Gewerkschaften, die manchmal auch unmittelbar von Unternehmerorganisationen gegründet wurden.