Nachricht | Bahr-Jendges: Von Grenzgängen einer feministischen Anwältin; Roßdorf 2020

Beeindruckende (Auto-)Biografie einer ›68erin‹ und Feministin

Information

Die Juristin Jutta Bahr-Jendges legt mit diesem Buch ihre Autobiografie vor, sie selbst nennt sie Romanautografie. Die 1943 geborene nennt sich im Buch Clara und schreibt von ihr/sich in der dritten Person. Das Leben Claras wird im übertragenen Sinne durch fünf Geburten abgegrenzt und strukturiert, die jeweils neue Lebensabschnitte markieren: Die biologische Geburt, den Beginn des Studiums bzw. den Eintritt in die wissenschaftliche und dann auch bald: linke Welt 1964 in Tübingen, drittens den Beginn der (Lohn-)Arbeit als politische Strafverteidigerin 1974 in Bremen, und das bald beginnende, starke Engagement in der Frauenbewegung; die vierte dann, als sie sich entschließt, nur noch mit und für Frauen juristisch im Familien- und Strafrecht tätig zu sein, sich beruflich etabliert, ein Haus kauft (und 1989 noch Notarin wird). Die fünfte schließlich als sie 2013 mit 70 Jahren die Altersgrenze für Notar*innen erreicht, und fünf Jahre später endgültig ihr Erwerbsleben beendet.

Diese Rahmendaten wirken erst einmal klassisch gesetzt, und sie sind es auch: linke Sozialisation in der Studentenrevolte, Strafverteidigerin für RAF-Gefangene, dann Frauenbewegung, 1983 Gründung der feministischen Rechtszeitschrift STREIT, wo sie 35 Jahre in der Redaktion bis 2018 mitarbeitet. Bahr-Jendges ist eine der ersten weiblichen Notar*innen, und eine überregional bekannte – und streitbare – Pionierin der feministischen Rechtstheorie und -praxis. Sie ist an der Gründung der ersten Frauenkanzlei und des ersten Frauenhauses in Bremen beteiligt, 1978 findet das erste Jurafrauentreffen statt, aus dem später der noch heute jährlich stattfindende Feministische Juristinnentag wird. Die Gleichstellungspolitik beginnt und auch die Sichtbarmachung und Bekämpfung ›häuslicher Gewalt‹.

Was das Buch besonders macht, ist die Verbindung und Verflechtung juristischer (und politischer) Betrachtungen, etwa zur Frage, ob «Richterinnen Kopftuch tragen dürfen?», die im Buch ausgeführt werden, mit der Tiefe der persönlichen Reflexionen – auch wenn diese sehr persönlichen ›Geschichten‹ manchmal seltsam (oder gewollt?) unscharf bleiben. So oder so hat Bahr-Jendges ein umfangreiches, lesenswertes, persönliches Buch geschrieben.

Zwei Bereiche seien näher herausgegriffen: Die Bedeutung der eigenen Herkunft, und damit für die Generation der Kriegskinder unmittelbar verwoben, die des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus.

Bahr-Jendges wächst mit einer geschiedenen Mutter unter auch sonst für sie im Rückblick sehr unklaren Familienverhältnissen am Niederrhein auf, ihr leiblicher Vater ist abwesend und vor 1945 und bis zu seinem Tod in den 1970er Jahren ein bekennender Nazi. Allein die räumliche Nähe zu den Niederlanden ist einer der vielen Grenzgänge, die Bahr-Jendges in den Titel ihres Buches aufnimmt, ihre unklare Klassenherkunft ein weiterer.

Sie ist also, wie viele 68er*innen erst im Nachhinein merken, ein Täterkind. Das Verhältnis zu ihrer eigenen, mit Absicht einen Tag nach Führers Geburtstag (irgendwann Ende der 1970er Jahre) geborenen Tochter ist ambivalent und schwierig. Diese lebt später selbst wiederum alleinerziehend mit ihrer Tochter und wendet sich – zumindest phasenweise – dem Islam zu. Der leibliche Vater von Bahr-Jendges Tochter begeht Suizid, Väter und Männer sind in dieser Familiengeschichte aus unterschiedlichen Gründen abwesend. Transgenerationelle Wiederholungen dieses Musters zeigen sich par excellence.

Diese Prägungen führen dazu, dass Bahr-Jendges, wie viele, wenn auch nicht alle, Kriegskinder immer wieder auch unter widrigen Bedingungen erstaunlich viel Kraft für Engagement und Motivationen dafür schöpfen kann. Sie geht zwar verschiedene Partnerschaften, zuerst mit Männern, dann mit Frauen ein, merkt aber bald, dass sie nicht für Paar-Sein geschaffen ist (S. 252). Für die eigene Tochter gab es wichtige soziale ›Ersatzmütter‹. Auch hier wieder reflektiert Bahr-Jendges die Parallelen zu ihrem eigenen Lebensverlauf. Sie selbst sei an mehreren Orten aufgewachsen, sie habe auch fürsorgliche Beziehungen außerhalb ihrer Familienkonstellation gesucht und gefunden; sodass ihre eigenen ›Ersatzmütter‘ nicht nur weiblichen Geschlechts waren, sondern teilweise auch männlich. Ein Grenzgang ist auch der nach zehn Jahren aus (der niederländischen Kolonie) Indonesien zurückkehrende Onkel, von dem das Kind lange denkt (oder sich es nur wünscht?) es sei der Vater.

Das Buch enthält aber nicht nur Familiengeschichte, sondern weist immer wieder auf gesellschaftliche, juristische, ethische/philosophische Fragestellungen hin. So ist am Ende ihres Buches auch Resignation zu spüren, etwa angesichts von Femiziden, oder der Gewalt und Allmacht des globalen Kapitalismus, der sprichwörtlich ›alles‹ zur Ware macht. Und das nach Jahrzehnten der Frauenbewegung und linken Kapitalismuskritik. So ist auch hier wieder besonders interessant, wie Bahr-Jendges beschreibt, wie sie als 68erin die nachfolgenden Generationen von Feministinnen erlebt, die die Kämpfe der 1970er und 1980er Jahre nur aus Erzählungen und Geschichtsbüchern kennen. Vieles ist und wird ihr fremd. Sie ist z.B. gegen das gerichtlich angeordnete Wechselmodell (gewesen), da dies zu Lasten der Frauen gehe und primär das Ziel habe, die alleinige Sorte der Frauen auszuhebeln. Eine Position, die umstritten sein dürfte. Vieles was die Pionierinnen des feministischen Rechtswesens gefordert und untersucht haben, hat aber bis heute Bestand. Sie und andere haben sich mit dem unterschiedlichen Strafmaß (also bei sog. Partnerschaftsdelikten) bei Mord (wenn es denn bei Männern überhaupt als Mord angesehen wurde) zwischen Männern und Frauen beschäftigt, Resultat: Frauen werden stärker bestraft, wenn sie ihren (Ex-)Partner töten, als umgekehrt.

Zusammengefasst eine beeindruckende Biografie einer ›68erin‹ und Feministin und ebenso ein Dokument über die Bedeutung von Geschichte und der von Familiengeschichte.

Jutta Bahr-Jendges: Von Grenzgängen einer feministischen Anwältin; Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf 2020, 440 Seiten, 30 EUR

Diese Rezension erschien zuerst in ARIADNE, Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, Heft 77, Kassel Mai 2021