Nachricht | Libanon / Syrien / Irak Von der Hand in den Mund

Das Leiden der libanesischen Bevölkerung unter ihrer politischen Elite

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Ulla Taha,

Graffiti in Beirut
Für die wirtschaftliche und politische Krise des Landes machen viele Libanes*innen die politischen Eliten verantwortlich. Graffiti am Hafen von Beirut, der am 4. August 2020 durch eine Explosion zum Teil zerstört wurde. Foto: Ulla Taha

Die Wirtschaftskrise des Libanon spitzt sich weiter zu. Neben der dritthöchsten Staatsverschuldung der Welt in Höhe von circa 90 Milliarden US-Dollar, steht die Wirtschaft des Landes kurz vor dem Zusammenbruch. Der feste Wechselkurs zwischen libanesischem Pfund und US-Dollar (1 USD = 1.500 LBP) wurde erstmalig seit der Einführung 1997 gekippt und die nationale Währung befindet sich im freien Fall. So erhalten die Menschen für 1 USD nun 3.900 libanesische Pfund in offiziellen Wechselstuben. Noch bedrohlicher sieht es auf dem Schwarzmarkt aus, auf dem 1 USD für bis zu 13.000 LBP gehandelt werden. Die Lebenshaltungskosten sind für die breite Bevölkerung kaum noch zu bewältigen, die Preise haben sich vervielfacht. Der Preis für libanesisches Brot hat sich nahezu verdoppelt, 5 Liter Sonnenblumenöl kosten statt 35.000 LBP nun 120.000 LBP und ein Päckchen Butter kostet umgerechnet 10 Euro. Es gibt vereinzelt subventionierte Lebensmittel und Produkte, doch diese sind inzwischen mehr als doppelt so teuer wie vor der Krise und dem Staat geht das Geld aus. Parallel steigt die Zahl der Arbeitslosen im Land rapide. Schätzungen der Weltbank zufolge befinden sich bereits 45 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, Tendenz steigend.

Tiefere Einblicke verdeutlichen das Ausmaß dieser Krise: Eine Familie mit zwei Kindern und einem Einkommen von 800.000 LBP hat vor der wirtschaftlichen Misere ein gutes Leben führen können. Von dem Geld konnten der Kredit für die eigene Wohnung sowie alle weiteren Lebenshaltungskosten finanziert werden. Heute hat die Familie große Schwierigkeiten, den Monat zu überbrücken. Wieso steigen die Lebensmittelpreise exorbitant? Die libanesische Ökonomie fußt auf einer Dienstleistungswirtschaft und ist vor allem auf Banken und Tourismus spezialisiert. Im Land wird kaum etwas produziert, die meisten Produkte werden aus dem Ausland importiert. Die Importe sind viermal so hoch wie die Exporte und überstiegen das im Libanon erwirtschaftete Einkommen. Der feste Wechselkurs war nicht mehr aufrechtzuerhalten. Doch die Bindung der nationalen Währung an den US-Dollar machte die Banken zahlungsunfähig. Daraus resultierte eine massive Abwertung der nationalen Währung von bis zu 80 Prozent. Da nun fast alle Produkte importiert werden und die Importe aus dem Ausland in Dollar oder Euro bezahlt werden müssen, kommen die Händler*innen in Zahlungsschwierigkeiten. Denn für dieselbe Ware müssen sie nun wesentlich mehr libanesische Pfund aufbringen. So kommt es zu den extrem hohen Preisen und teilweise leeren Regalen.

Ulla Taha ist gebürtige Libanesin aus dem Süden des Landes. Sie lebt und arbeitet in Hamburg und studiert im Masterstudiengang Staatswissenschaften – Public Economics, Law and Politics in Lüneburg. Sie ist aktiv in der feministischen Mädchenarbeit und ist Mitglied der Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg.

Mit einem Blick auf die Ursachen für diese äußerst bedrohliche Entwicklung und Komplexität der wirtschaftlichen Lage wird schnell deutlich: Der Kern des Problems findet sich in der machthabenden Klasse. Der Aufbau der libanesischen Gesellschaft gleicht einer Pyramide: Oben befinden sich einige wenige, die sehr reich sind. Darunter gibt es eine kleine, eher schwache Mittelschicht. Und dann gibt es die immens breite Unterschicht, die von der Hand in den Mund lebt. Die einigen wenigen sehr Reichen bilden zeitgleich die politische Elite, der die gleichen Personen angehören, die seit Ende des (zwischen den Konfessionen geführten) Bürgerkrieges vor 30 Jahren alle wichtigen staatlichen Strukturen unter sich aufgeteilt haben. Diese symbolisieren zugleich die Grundpfeiler des konfessionellen Systems des extrem heterogenen Landes, welches eingeführt wurde, um den größten von insgesamt 18 Konfessionen eine Stimme und politische Repräsentanz zu verleihen. So behauptet jede*r Akteur*in, für die Interessen der eigenen religiösen Gruppe einzustehen und diese gegen die anderen zu verteidigen. Durch machtpolitische und neoliberale Interessen geleitet, gehen diese jedoch keineswegs auf die Forderungen der Bevölkerung ein. So kam es im Oktober 2019 zu konfessionsübergreifenden Massenprotesten, die eine Aufhebung dieses Systems forderten. Denn dieser starke Konfessionalismus führe seinerseits viel mehr zu einer gespaltenen Gesellschaft als zu dem erklärten Ziel des Friedens innerhalb der Bevölkerung. Die Wut der Protestierenden richtete sich auch gegen die Pläne, neue Steuern zu erheben (wie beispielsweise auf WhatsApp-Telefonate), die ein weiterer Versuch waren, die Folgen der Misswirtschaft auf die einfache Bevölkerung abzuwälzen. Protestierende sagten, sie wollen nicht weiter Steuern bezahlen, die direkt in die privaten Taschen der politisch Verantwortlichen wandern.

Der Zustand des Landes verschlimmerte sich durch starke Waldbrände, denen eine mittellose Feuerwehr gegenüberstand und der Explosion am Hafen im August 2020. Eine derartige Explosion, der 200 Menschen zum Opfer fielen, die Tausende von Verletzten und einen Schaden von 15 Milliarden Dollar verursachte, hätte jeden Staat vor große Herausforderungen gestellt. Im ohnehin geschwächten Libanon hat die Explosion die soziale Lage, die durch eine langanhaltende Rezession und hohe Arbeitslosigkeit äußerst bedrohlich war, dramatisch verschlechtert. Hinzu kommt der Ausfall öffentlicher Leistungen, der zu einem riesigen Problem mit der Stromversorgung sowie der Müllentsorgung führt. Letzteres führt zu extremen Gesundheitsrisiken, da sich der Müll primär auf den Straßen sammelt. Die Energiepreise sind sehr hoch, wodurch die Kosten der Produktion sowohl bei kleinen als auch großen Betrieben gleichermaßen steigen. Privatpersonen schafften sich eigene Generatoren an, um die Stromausfälle zu überbrücken. Auch diese seit Jahren bestehenden Probleme zählten zu den Gründen, die die Libanes*innen zu Zehntausenden auf die Straßen trieben.

Die fehlenden staatlichen Sozialleistungen jeglicher Art und in allen wichtigen Bereichen des Landes sollten von privaten Unternehmen ausgefüllt werden, welche selbst in den schlimmsten Krisen weiter profitorientiert arbeiteten. Dazu kommt eine neoliberale Wirtschaftsordnung, die niemandem zugutekommt, außer denen, die die Macht in den Händen halten. Und diese sind nicht bereit, Probleme anzugehen, wenn die Lösung dieser Probleme sie nicht bereichert oder eine Schwächung ihrer Machtposition bedeutet. So nehmen sie schwache staatliche Strukturen und eine verzweifelte Bevölkerung in Kauf, die nicht mehr weiß, wie sie ihren Hunger stillen soll.