Nachricht | Von der KPD zu den Post-Autonomen. Orientierungen im Feld der radikalen Linken; Göttingen 2021

Linksradikalismus als Forschungsgegenstand

Information

Dieser von AutorInnen aus der Bundesfachstelle «Linke Militanz»am Göttinger Institut für Demokratieforschungzusammengestellte Band ist als Resultat der ersten Förderperiode dieser Einrichtung und einer Auftakttagung im November 2017 entstanden. Er enthält nach der Einleitung 15 Artikel zum bisher immer noch wenig akademisch erforschten Feld eines «Linksradikalismus» und der autonomen Linken. Die Hälfte davon ist lesenswert, zwei bis drei so peinlich, dass über sie hier besser der Mantel des Schweigens gedeckt werden soll.

Vom Ansatz her will die Bundesfachstelle, die mit den Sicherheitsbehörden kooperiert und diese direkt oder zumindest indirekt berät, zu einer «Versachlichung» des politisch aufgeladenen Themas «Militanz» und «linke Gewalt» beitragen und «sicherheitspolitische und affirmativ-sympathisierende Kurzschlüsse» vermeiden. Aufgeschlossenen, wenn auch minoritären Strömungen in den Sicherheitsapparaten ist klar, dass mit einer grobschlächtigen Extremismustheorie à la Jesse und Backes heute nicht mehr ausreichend gearbeitet werden kann.

Die Leserin findet einen fundierten Beitrag zur radikalen Linken in der Weimarer Republik (vom Historiker Marcel Bois) und fünf lesenswerte Lokalstudien zu den spezifischen Szenen in Hamburg, Göttingen und Leipzig bzw. zu den besetzten Häusern in der Mainzer Straße in Ostberlin 1990 und einen mit einem etwas größeren Zuschnitt zu (Antifa in) Ostdeutschland (von Michael Lühmann). Drei Aufsätze behandeln Szenen in anderen Ländern: Schweiz, Schweden und das weitverbreitete Phänomen der centri sociali in Italien.

Abgeschlossen wird der Band mit einem qualifizierten Artikel zur Postautonomie, also der politischen Strömung bzw. den Organisierungsansätzen wie der Interventionistischen Linken und dem kommunistischen «Ums Ganze»-Bündnis, die seit über zehn Jahren, ja seit Heiligendamm 2007, das öffentliche Bild bei geplanten Aktionen der linksradikalen Szene prägen dürften. Die an vielen Orten sehr real und noch mehr als «extremistisch» diskriminiertes Medienphänomen existierende Antifa (und die damit zusammenhängenden) «Autonomen» sind in vielen Beiträgen präsent. Gewalt, nach gängigen Vorstellungen, nicht denen der Polizei, gibt es im politischen Kontext real von links sehr wenig. Meist sind es Beschädigungen von Wahlplakaten, dann Delikte im Zusammenhang mit Demonstrationen als Meinungskundgebungen, die von interessierter Seite als «Gewalt» tituliert werden. Als Mittel angewendet wird, auch und gerade von Postautonomen, siehe z. B. Ende Gelände, hingegen ziviler Ungehorsam. Politische Fragen und umstrittene Inhalte werden im Buch systematisch ausgeblendet, das Vorrecht der Polizei von ihr als Straftaten definierte Vorgänge zu verfolgen, nicht in Frage gestellt. Das Interesse der Polizei und anderer Behörden ist die Zerschlagung linker Strukturen, zum anderen Prävention. Hier kommt die sich linksliberal definierende «Protestforschung» ins Spiel, die – ob beabsichtigt oder nicht – Wissen für das zweite, wenn nicht beide Ziele liefert. Die Revolte, die immer mehr in Form eines nicht von organisierten oder gar «linken» AkteurInnen geprägten Riots (Hamburg 2017, Stuttgart Juni 2020) stattfindet, muss regiert werden. Das ist der Anspruch des Staates.

Wer und welche sich einigermaßen auskennt, wird in dem Band kaum Neues erfahren. Für andere, also z. B. die Interessierten, die aus Distanz oder arbeitsökonomischen Gründen keine Bücher aus einschlägigen Verlagen oder dementsprechende Zeitschriften zum Thema lesen können oder wollen, wird ein passabler Einblick geschaffen. Zu finden ist auch, vor allem in der Einleitung, viel sozialwissenschaftliches Wortgeklingel.

Extremismusforschung kann nicht erklären, warum sich Menschen politisieren, Protestforschung hingegen kann das besser, und vor allem damit beruhigen, dass die durchschnittliche Verweildauer in der radikalen Linken doch kurz ist (im Buch wird sie für Schweden mit nur zwei Jahren angegeben!) und einer späteren Karriere und Familiengründung dann nicht im Weg steht.

Alexander Deycke / Jens Gmeiner / Julian Schenke / Matthias Micus (Hrsg.): Von der KPD zu den Post-Autonomen. Orientierungen im Feld der radikalen Linken, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, 407 Seiten, 45 EUR

Diese Rezension erschien zuerst in Ausgabe 2/2021von Forum Wissenschaft.