Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Osteuropa - Umkämpftes Erinnern im Osten Das unheimliche Gespenst des Kommunismus

Ein Versuch, die Widersprüche osteuropäischer Erinnerungskulturen zu erklären

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Soldatenfriedhof Olšany, Prag Quelle ČTK, Autor Miloš Ruml

Diejenigen Länder Europas, die 1944 bzw. 1945 durch die Rote Armee von den deutschen Besatzern befreit wurden, sind bis heute von einer spezifischen Erinnerungskultur und entsprechenden Debatten geprägt, die im Wesentlichen um die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg kreisen bzw. dort ihren entscheidenden Ausgangspunkt nehmen. 

Joanna Gwiazdecka ist Leiterin des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Tschechien, Slowakei, Ungarn in Prag.

Seitdem diese sieben Länder – Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn – der Europäischen Union beigetreten sind, hat sich auch der erinnerungspolitische Diskurs in der europäischen Gemeinschaft gewandelt. Den zum Teil widersprüchlichen Fakten auf die Spur zu kommen, auf denen die jeweiligen nationalen Ausprägungen dieses Diskurses beruhen, ist sicherlich in erster Linie eine Aufgabe der Historiker*innen. Und dennoch sollte sich auch eine demokratische Öffentlichkeit mit geschichtspolitischen Fragen und Klitterungen beschäftigen. 

Insofern versteht sich der vorliegende Text als Reflexions- und Erklärungsversuch einiger mit der Erinnerungskultur und -politik in diesem politischen Raum verbundenen Streitpunkte und Kontroversen, die von Deutschland aus betrachtet nicht immer leicht nachzuvollziehen sind. So fällt zum Beispiel auf, dass die meisten der oben genannten Länder in den deutschen Medien unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung nach wie vor unisono unter Osteuropa firmieren, so als hätte sich seit 1989/90 so gut wie nichts getan. Obwohl sie seit 2004 offiziell zur EU gehören, scheint weiterhin umstritten, ob sie damit eher zum Westen gehören und wenn ja, was darunter zu verstehen ist. Wo beginnt und wo endet der Westen, wo fängt Osteuropa oder Mitteleuropa an? Zu einem Teil speist sich die festzustellende Differenz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung aus der Geschichte seit 1945, also aus den Jahrzehnten einer grundsätzlich anderen gesellschaftlichen und weltpolitischen Orientierung.

Im östlichen Teil der Europäischen Union ist die Erinnerungspolitik nahezu traditionell von einem starken Antikommunismus geprägt, wobei Tschechien und die Slowakei lange Zeit eine gewisse Ausnahme von der Regel bildeten. Selbst wenn der Antikommunismus dort etwas versteckter und subtiler daherkam, hat er mit dem generellen Verweis auf den erst jüngst «vergangenen Sozialismus», von dem man sich gründlich verabschieden müsse, immer noch ein treffliches Argument zur Hand.

In den erinnerungspolitischen Debatten wird viel über den Nationalsozialismus oder Nazismus gesprochen, der Begriff des Faschismus kommt kaum noch vor. Dabei wird häufig so getan, als sei der Nazismus nur Antwort auf den Kommunismus, mitunter versteigt man sich gar darin, ihn als eine Spielart des Kommunismus darzustellen. Die beiden Systeme und dahinterstehenden Ideologien werden meist in einem Atemzug genannt, sie scheinen untrennbar zusammengehören, können gar nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Ganz selbstverständlich bezieht sich die Rede vom «Jahrhundert der Totalitarismen» auf Erfahrungen mit faschistischer und kommunistischer Herrschaft.

Trotz dieser Gleichsetzung von Kommunismus und Nazismus gibt es einen wichtigen Unterschied bei der politischen Einschätzung. Der Nazismus gilt als etwas Abgeschlossenes, als etwas, das sich nicht wiederholen wird. Die Ablehnung der Menschen ihm gegenüber sei eindeutig und werde sich auch nicht mehr ändern. Weil alle von seiner Gefährlichkeit überzeugt seien, gehe von ihm auch keinerlei Bedrohung mehr aus. Anders sieht es mit dem Kommunismus aus. Hier ist die Geschichte nicht so einfach, weil sich offensichtlich immer wieder Menschen finden, die mit der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1989 nicht nur Böses und Negatives verbinden. Die treibt gewisse politische und gesellschaftliche Kreise in den oben genannten Ländern zu einer erhöhten Wachsamkeit an. Nach ihrem eigenen Selbstverständnis wollen sie verhindern, dass sich diese kommunistische Nostalgie, wie sie es gern bezeichnen, in etwas Gefährlicheres verwandelt.

Aus diesem Grund ist das öffentliche Gedenken an die Befreiung durch die Rote Armee von 1945 inzwischen so umstritten. Der 9. Mai, der in einigen dieser Länder über Jahrzehnte Staatsfeiertag war, ist mittlerweile schamhaft und still aus etlichen Kalendern entfernt worden. Für viele kann der 9. Mai kein offizieller Feiertag mehr sein, weil es inzwischen unterschiedliche historische Interpretationen gibt: Gedenkt man an diesem Tag wie früher der Befreiung von der deutschen Besatzung oder steht er vielmehr für die Ablösung eines totalitären Regimes durch ein anderes – nämlich des Faschismus durch den Kommunismus?

Wenn man sich das Vokabular in den Narrativen genauer ansieht, mit denen heute die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt und gedeutet wird, kommt man aus dem Staunen kaum heraus, was hier alles zusammen abgehandelt wird: Hier tauchen neben Kommunismus, Stalinismus, Sozialismus, Marxismus plötzlich weitere «Übel» wie die Frauengleichstellung oder die sogenannte Genderideologie auf. Diese Begriffe scheinen alle synonym für die «dunkle Vergangenheit» zu stehen, die durch gemeinsame demokratische Anstrengungen überwunden worden sei. Eine List der ewig Gestrigen und Anhänger der eigentlich untergegangenen kommunistischen Ideologie bestehe darin, mit ihrem Genderdiktat ihr gegen die christlichen Fundamente der Zivilisation gerichtetes zerstörerisches Werk mit anderen Mitteln fortzusetzen. Die sei ein Angriff auf traditionelle Werte und gesellschaftliche Strukturen, die es mit Entschlossenheit zu verteidigen gelte. Genderpolitik, so heißt es beispielsweise in solchen Kreisen immer wieder, sei Neomarxismus und eine Variante des Kommunismus.

Nach 1989 wurden in ehemaligen staatssozialistischen Ländern zahlreiche Denkmale geschliffen und Straßen unbenannt, dieser Prozess sollte im öffentlichen Raum Geschichte «geraderücken» und der Bevölkerung eine klare Orientierung geben. Nach einer gewissen Zeit nahm dieses Verfahren karikaturenhafte Züge an. Um den von Straßenumbenennung betroffenen Bewohner*innen Kosten zu ersparen (zum Beispiel für die Änderung ihrer Adresse in Ausweisen oder auf Visitenkarten), ist man an manchen Orten inzwischen dazu übergegangen, nach Persönlichkeiten zu suchen, die den gleichen Namen wie die der abgelehnten Kommunist*innen tragen. Gleichzeitig werden zahlreiche neue Denkmale, Erinnerungsorte oder Museen geschaffen, die sich mit der Vergangenheit von 1939 (oder von 1944) bis 1989 auseinandersetzen. Diese Einrichtungen tragen deutliche Bezeichnungen: Es sind Terror- oder Okkupationsmuseen, in denen zurecht die Grausamkeiten des Stalinismus angeprangert werden, allerdings mit dem übergeordneten Ziel, damit jeglichem Versuch, sich über die Möglichkeiten, einer anderen kommunistischen Theorie und Politik zu verständigen, einen «erinnerungspolitischen» Riegel vorzuschieben.

Die simple Verschmelzung von Nazismus und Kommunismus im Zuge der Totalitarismusdebatten birgt noch eine weitere große Gefahr in sich. Man deutet den Holocaust um. Der Holocaust wird zu einer typischen Erscheinung totalitärer Systeme, zu einem Verbrechen, das nur dort begangen werden konnte. Der Holocaust taucht zwar weiterhin in vielen offiziellen Dokumenten und Reden auf und wird dort auch als eine historische Warnung beschworen. Genauere Auseinandersetzungen damit scheinen jedoch weniger gewünscht. Denn dann würde deutlich werden, dass die Geschichte viel komplizierter ist, als die öffentlich anerkannte Auslegung es meistens nahelegt.

Betrachtet man die Vergangenheit aus dieser Perspektive, so droht man irgendwann unweigerlich an den Punkt zu gelangen, an dem die deutschen Soldaten und Besatzer mit den sowjetischen Soldaten gleichgesetzt werden. Beide werden dann zu Vertretern einer totalitären Macht, die gewaltsam eine fremde Ordnung einführten. Die jungen Nationalstaaten, die erst nach dem Ersten Weltkrieg ihre staatliche Souveränität sichern konnten, sind im Zweiten Weltkrieg tatsächlich wieder zwischen die Fronten geraten. Auf ihrem Terrain brach der Zweite Weltkrieg los, sie waren Opfer sowohl der deutschen Seite, aber mitunter auch des sowjetischen Vorgehens. Sich es in dieser doppelten Opferrolle bequem zu machen und sich als Unschuldslamm darzustellen, mag verlockend sein, hilft aber wenig bei der Aufarbeitung der eigenen gesellschaftlichen Verfehlungen in Vergangenheit und Gegenwart.

Eine Sonderrolle in dieser Auseinandersetzung nehmen die Friedhöfe gefallener Sowjetsoldaten ein. Wenn man diese Orte besucht, bekommt man den Eindruck, als ob das alles zum Glück spurlos an ihnen vorbeigehe. Die historischen Streitereien enden vor der Eingangspforte, die undifferenzierten Argumente, politischen Unterstellungen und Verallgemeinerungen, die draußen kursieren und die aufgeregte öffentliche Debatte beherrschen, verlieren im unmittelbaren Angesicht von einzelnen Soldatenschicksalen an Bedeutung. Man begreift: In diesem Teil Europas wurden die deutschen Besatzungstruppen von der Roten Armee besiegt. Das ist ein Fakt. Die Rote Armee war kein abstraktes ideologisches Konstrukt. Wir erinnern uns auf diesen Friedhöfen an Menschen, die zwar für ein bestimmtes System wie das der Sowjetunion kämpften, aber trotzdem recht unterschiedlich waren. Wer diese menschliche Ebene ideologisieren will, der begibt sich auf einen gefährlichen Weg, auf dem keine sinnvolle Erinnerungspolitik und -kultur mehr möglich ist.

Eine latente Unsicherheit gegenüber der eigenen Geschichte besteht auch in Tschechien, übrigens das einzige Land im Mitteleuropa, in dem eine Kommunistische Partei im Parlament vertreten ist. Diese Partei wurde nicht verboten, selbst wenn es anfangs nach 1990 immer wieder solche Forderungen gegeben hatte. Dieser Unterschied zu der von konservativen oder nationalkonservativen Kräften bestimmten Geschichts- und Erinnerungspolitik in den Nachbarländern muss nicht unbedingt mit einem ausgeprägteren demokratischen Bewusstsein zusammenhängen. Er könnte auch als ein Ausdruck von Unentschiedenheit interpretiert werden. Denn die Erinnerungen und Vorstellungen, die in Tschechien mit dem Zweiten Weltkrieg und der Befreiung von 1945 verbunden waren, änderten sich mit den Ereignissen von 1968. Seit dieser Zeit wird vor allem die Rolle der Roten Armee anders wahrgenommen: Tschechien wurde zwar von den Nazis befreit, diesen Fakt stellt niemand infrage, aber das Land war danach nicht frei. Über die Dankbarkeit legte sich der Schatten der späteren Ereignisse, auch wenn sich dieser nicht gleich nach dem Zweiten Weltkrieg ausbreitete, sondern maßgeblich erst nach Zerschlagung des Prager Frühlings.

2019 wurde im Prager Stadtteil 6 das Denkmal von Marschall Konew entfernt. Dies hatte im Vorfeld zu heftigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit geführt. Befürworter*innen als auch Gegner*innen dieses geschichtspolitischen Akts protestierten vor Ort und vertraten mit Vehemenz die eigenen Argumente. Letztendlich wurde an der Stelle, an dem sich das Denkmal einst befunden hatte, eine temporäre Ausstellung mit dem aus dem Russischen übernommenen Titel «Nikogda ne zabudem!» (Wir vergessen nie!) eröffnet, die das zwiespältige Verhältnis in der tschechischen Gesellschaft zur Befreiung vom Faschismus und zu ihren Befreiern in der Nachkriegszeit thematisierte. Abgesehen von allen Kontroversen hatte diese Ausstellung eine positive Seite, denn man hat sich bemüht, die Geschichte tatsächlich nicht nur schwarz-weiß darzustellen. Die Rote Armee befreite unser Land von einer schlimmen Fremdherrschaft – das ist eine Tatsache, die man nie vergessen darf. Über vieles Weitere soll und darf diskutiert werden, auch und gerade in den nachwachsenden Generationen.