Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 standen die neu gebildeten Staaten vor der Herausforderung, die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und insbesondere das Martyrologium der Besatzungszeit neu zu interpretieren. Ihr Ausgangspunkt war dabei die Sowjetzeit, in der bestimmten Gruppen, darunter Jüdinnen und Juden sowie Rom*nja, das Recht auf einen Opferstatus verwehrt wurde.
Mikhail Tyaglyy ist Mitarbeiter des Ukrainischen Zentrums für Holocaust-Studien in Kiew und Herausgeber der Zeitschrift «Holocaust and Modernity. Studies in Ukraine and the World». Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte des Holocaust, der Genozid an den Rom*nja und das Gedenken daran.
Der folgende Beitrag befasst sich mit dem Gedenken an den Genozid an den Rom*nja und der Erinnerungskultur in den drei ostslawischen Ländern (wobei der Autor sich der Unschärfe dieses Begriffs bewusst ist), auf deren Territorium während der deutschen Besatzung über 30.000 Rom*nja ermordet wurden. Untersuchungen zeigen, dass die Erinnerung an das Schicksal der Rom*nja innerhalb der Gemeinschaft selbst mündlich vermittelt und weitergetragen wurde, denn bis in die späten Jahre der Sowjetunion gab es noch viele Überlebende des Genozids, die den folgenden Generationen davon berichteten. Ein solches kommunikatives Gedächtnis, um die Terminologie von Aleida und Jan Assmann zu verwenden, kann Abwandlungen und Verfälschungen unterliegen, im Laufe von drei oder vier Generationen kann es auch schwächer werden oder ganz verschwinden.
Die offizielle Erinnerungspolitik der Sowjetunion ließ keine Diskussionen über einzelne Gruppen zu, denen die deutsche Besatzungsmacht aus rassenideologischen Gründen mit Auslöschung gedroht hatte. Die Sowjetmacht wollte damit das kollektive Bewusstsein schaffen, dass der Nationalsozialismus für alle Ethnien der Sowjetunion gleichermaßen zerstörerisch war. So sollten die Massen im Widerstand gegen die Besatzer vereint werden. Der Romani-Schriftsteller Alexander German (Germano) verfasste bereits 1945 das umfassende, bis heute unveröffentlichte Manuskript «Der Faschismus und die Rom*nja im Großen Vaterländischen Krieg». Ende der 1960er Jahre widmete sich der sowjetische Schriftsteller jüdischer Herkunft Lew Ginsburg einem ähnlichen Vorhaben, das ebenfalls nicht vollendet wurde.
In öffentlichen Dokumenten, populärwissenschaftlicher Literatur, Memoiren und Belletristik wurden Rom*nja zwar nicht oft als Opfer der Vernichtungspolitik erwähnt, aber hin und wieder doch. Allerdings stellte man sie dabei vor allem als eine der Lokalbevölkerung fremde nomadische Gruppe dar, obwohl in über der Hälfte aller bekannten Fälle sesshafte, gut in ihr Umfeld integrierte Rom*nja ermordet wurden. Das passte zur kulturell verankerten Vorstellung von den Rom*nja als Nomaden, als ein geradezu asoziales und kriminelles Phänomen. Deswegen wurde die Verfolgung der Rom*nja meist als gerechtfertigt und selbstverschuldet angesehen. Mitgefühl oder Gedenken war nicht vorgesehen. Bekanntermaßen ist das zum Teil auch heute noch in allen postsowjetischen Gesellschaften der Fall und wirkt sich auf die Erinnerungskultur des Genozids an den Rom*nja aus.
Soziokultureller Raum und Geschichtspolitik in Belarus, Russland und der Ukraine
Nach der Unabhängigkeit wandten sich die Historiker*innen in Belarus der Geschichte ethnischer Gemeinschaften zu. Das brachte einige positive Veränderungen mit sich, die Erforschung des Genozids an den Rom*nja kam dadurch allerdings nicht voran, wie die Historiker Andrej Kotljarčuk und Filip Busau feststellen. Laut dem belarusischen Historiker Aleksej Bratotschkin ist das Gedenken an die nicht-belarusischen Opfer der deutschen Besatzung bis heute einzig in der Verantwortung ethno-kultureller Organisationen und ausländischer Institutionen geblieben.
In der heutigen Russischen Föderation wirkt die Geschichtspolitik, vor allem im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg, wie eine Rückkehr zum «sowjetischen» Modell der Erinnerungskultur und zeigt Tendenzen eines «neo-sowjetischen» Modells. Der „Große Vaterländische Krieg“ wird als zentrales Ereignis der sowjetischen Geschichte dargestellt, während man unter dem Deckmantel des Patriotismus zu imperialistischen, nationalistischen Werten zurückkehrt und ein Gefühl von Einheit, von Selbstaufopferung für den Staat kultiviert. Vom Schicksal der Minderheiten darf nur die Rede sein, wenn ihre heldenhaften Beiträge zum Sieg des gesamten Volks über die Besatzer im Mittelpunkt stehen, also in Lebensgeschichten von Rotarmist*innen, Partisan*innen und Widerstandskämpfer*innen, nicht in Zeugnissen von gewöhnlichen Vertreter*innen der Zivilbevölkerung.
Allerdings ist eine entscheidende Nuance zum «sowjetischen» Modell der Erinnerungskultur im heutigen Russland hinzugekommen. Die staatlichen Behörden verschweigen nicht mehr die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in Bezug auf Jüdinnen und Juden oder Rom*nja, sondern betonen, dass diese Minderheiten der Roten Armee, und damit auch der sowjetischen und der heutigen russischen Regierung, für die Rettung vor der Vernichtung dankbar sein müssten. Dabei war das nicht das vorrangige Ziel der Roten Armee gewesen. Diese Entwicklung lässt sich unter anderem anhand der Streitigkeiten um die Teilnahme der Russischen Föderation an den Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung des Lagers von Auschwitz 2020 im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau und der Gedenkstätte Yad Vashem veranschaulichen.
In der ukrainischen Gesellschaft entstand nach der Unabhängigkeit ein Konflikt zwischen proeuropäischen, nationalistischen und prosowjetischen (in gewisser Hinsicht damit prorussischen) Stimmungen. Dieser Wettstreit verschiedener Erinnerungsmodelle ließ der Erinnerung an die Rom*nja wenig Raum. Sowohl das prosowjetische als auch das nationalistische Modell trugen zur weiteren Marginalisierung dieser Erinnerung bei. Anders als in Belarus und Russland lassen sich allerdings positive Entwicklungen beobachten, die vor allem durch vier Faktoren begünstigt wurden: Erstens ein größeres zivilgesellschaftliches Engagement, zweitens die «Humanisierung» der Erinnerung an den Krieg und damit die Berücksichtigung des Leids «einfacher Menschen», drittens der Einfluss «regionaler» Erinnerungsnarrative und der zunehmenden Pluralismus in der Kriegsaufarbeitung sowie viertens die proeuropäischen Integrationsbestrebungen, die jede Regierung seit der Unabhängigkeit deklariert hat. Infolgedessen entwickelt sich zunehmend ein inklusives Erinnerungsmodell, das verschiedenen Gesellschaftsgruppen die Möglichkeit bietet, ihre Erfahrung im Martyrologium des Krieges zu verewigen. Jedoch finden die rom*njafeindliche Rhetorik und Gewalt rechtsradikaler Gruppierungen, deren bisher schlimmster Angriff 2018 zu Todesopfern führte, ebenfalls Anklang in der Gesellschaft und beeinträchtigen indirekt die Erinnerungskultur des Genozids an den Rom*nja.
Erinnerungspolitik und offizielle Gedenktage
In Russland wurde 2004 der Versuch unternommen, den 2. August zum «Gedenktag für die Opfer des Genozids an den Rom*nja» zu erklären. Der Autor begründete diesen Gesetzesentwurf in der Staatsduma zwar in verkürzter Form, aber insgesamt angemessen. Doch die Sachverständigen in den zuständigen Ausschüssen lehnten die Initiative ab. Weitere Versuche, einen Gedenktag für die Vernichtung der Rom*nja einzuführen, gab es in der Russischen Föderation nicht.
In der Ukraine erklärte das Parlament, die Werchowna Rada, 2004 in einem gesonderten Beschluss den 2. August zum «Internationalen Tag des Holocaust [sic!] an den Roma». In der Präambel dieses Rechtsakts heißt es: «In den Jahren des Zweiten Weltkriegs wurden durch die Hitlerfaschisten und ihre Handlanger bei der Umsetzung der rassistischen Politik des Ethnozids etwa 500.000 Roma aus den besetzten Gebieten deportiert und in Konzentrationslagern vernichtet». Mit dieser historischen Kontextualisierung hatte man den Genozid «ausgelagert», denn die Tausenden Rom*nja, die in der Nähe ukrainischer Städte und Dörfer erschossen worden waren, fanden keine Erwähnung. Auch wenn der Beschluss bisher bei Weitem nicht im vollen Umfang umgesetzt wird, besteht seine entscheidende Bedeutung darin, einen rechtlichen Handlungsrahmen und Möglichkeiten der Einflussnahme auf staatliche Behörden durch «Gedächtnisagent*innen» des Genozids geschaffen zu haben.
Vergleichbare staatliche Initiativen sind in Belarus bisher nicht bekannt.
Denkmäler und Erinnerungsstätten
In Belarus gibt es drei Denkmäler, die komplett oder teilweise der Tragödie belarusischer Rom*nja gewidmet sind. Das erste wurde 1993 im ehemaligen Pinsker Ghetto errichtet, das zweite 2004 am Ort von Massenerschießungen der Rom*nja aus dem Ghetto von Gorodischtsche und das dritte wurde 2007 allen Opfern des Todeslagers von Kolditschewo gewidmet. Dabei wird die ethnische Zugehörigkeit explizit angegeben, bis heute einzigartig in Belarus. Busau merkt jedoch an, dass diese Denkmäler sich alle in der Oblast Brest befinden. Sie stehen also nicht für eine allgegenwärtige, landesweite Erinnerungspolitik, zumal die für 2010 geplante Gedenkstätte für den Genozid an den Rom*nja in Minsk immer noch nicht Realität ist. Alle drei Denkmäler wurden von Nichtregierungsorganisationen, die sich unter anderem aus Rom*nja zusammensetzen, initiiert.
In Russland, wo selbst bei einem oberflächlichen Blick in die Archive und die öffentlich zugängliche Literatur mehrere Dutzend Schauplätze der Massenvernichtung von Rom*nja auszumachen sind, gibt es nur zwei Denkmäler: im Dorf Aleksandrowka in der Oblast Smolensk und auf einem einstigen Schlachtfeld in der Nähe von Brjansk. Die Idee zum Denkmal von Aleksandrowka entstand bereits 1968. Die Initiative hatten Vertreter*innen der lokalen Rom*nja-Gemeinde ergriffen und erhielt Spenden von Rom*nja und vom Moskauer Theater «Romen». Der Gedenkstein wurde 1982 eingeweiht, aber die Behörden genehmigten nur die folgende Aufschrift: «Hier liegen 176 friedliche Bürger des Dorfes Aleksandrowka begraben, die am 24. April 1942 von nazideutschen Besatzern erschossen wurden». Erst vor Kurzem, im September 2019, wurde neben dem alten Gedenkstein ein neues Denkmal eingeweiht, auf dem steht: «Hier liegen 176 friedliche Bürger des Dorfes Aleksandrowka begraben, die am 24. April 1942 von nazideutschen Besatzern erschossen wurden, weil sie Roma waren». Auch in diesem Fall ermöglichte eine Nichtregierungsorganisation, der Russische Jüdische Kongress, die Gedenkstätte.
In der Ukraine gab es nachweislich an 140 Orten Massenvernichtungen von Rom*nja. Elf Denkmäler erinnern explizit an Rom*nja als die Opfer oder als eine der Opfergruppen, wenn es dort Massenmorde an verschiedenen Bevölkerungsgruppen gab, etwa in Babyn Jar in Kiew.
In Babyn Jar wurden 1941-1943 nicht nur massenhaft Jüdinnen und Juden hingerichtet, sondern auch Rom*nja, sowjetische Kriegsgefangene, ukrainische Nationalist*innen, orthodoxe Priester, sowjetische und nationalistische Untergrundkämpfer*innen, Patient*innen psychiatrischer Anstalten, Geiseln und alle, die von der Besatzungsmacht als «Verdächtige» und «feindliche Elemente» eingestuft wurden. Bereits 1995 entwarf die Rom*nja-Organisation «Romanipe» aus Kiew in Zusammenarbeit mit dem Architekten und Bildhauer Anatoli Ignaschtschenko das Denkmal «Romawagen», dessen Aufstellung die Stadtverwaltung überraschend untersagte. Mehrere Jahre später wurde die Skulptur im Vorort von Kamjanez-Podilskyj errichtet. Bei der Eröffnung des Nationalparks von Babyn Jar im Jahr 2006 unternahm die Verwaltung nichts, um das Denkmal zurückzuholen. 2009 wurde auf Kosten der Rom*nja-Gemeinde im Nationalpark eine kleine Tafel aufgestellt, die 2011 geschändet wurde, woraufhin die Rom*nja-Gemeinde eine noch kleinere Gedenktafel aufstellte. Erst 2016, zum 75. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar, konnte der «Romawagen» mit Unterstützung des Kulturministeriums nach Kiew zurückgebracht und am 23. September 2016 feierlich eingeweiht werden.
Das Verhältnis der Gedächtnisagent*innen zum Staat
Die Initiativen zur Erinnerung an die Rom*nja-Opfer gehen auf individuelle und kollektive Akteur*innen zurück, die man sinnvollerweise als Gedächtnisagent*innen bezeichnen kann.
Die größte Vielfalt bietet die Ukraine. Gedächtnisagent*innen lassen sich in drei Gruppen unterteilen:
(1) Rom*nja-Nichtregierungsorganisationen, die eigenständig oder in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen außerhalb der Rom*nja-Gemeinschaft Projekte auf eigene Kosten oder mit Unterstützung internationaler oder ausländischer Stiftungen umsetzen, wie zum Beispiel das gemeinnützige Zentrum für die Rechte der Rom*nja, die Stiftung Roma Women Fund «Chiricli», das Bündnis von Rom*nja-Nichtregierungsorganisationen und zahlreiche regionale Organisationen.
(2) Ukrainische Akteur*innen ohne Romani-Wurzeln, die Forschungs- und Bildungsprojekte durchführen, in deren Rahmen sie mit Vertreter*innen der Rom*nja-Gemeinschaft zusammenarbeiten und von internationalen oder ausländischen Stiftungen finanziell unterstützt werden, wie das nichtstaatliche Ukrainische Zentrum für Holocaust-Studien in Kiew, das ukrainische Institut für Holocaustforschung «Tkuma» in Dnipro, der nationale Verband der Lehrkräfte für Geschichte und Gesellschaftskunde «Nowa Doba» in Lwiw oder die gemeinnützige Organisation «Mart» in Tschernihiw.
(3) Ausländische Institute oder lokale Büros internationaler Organisationen, deren Bildungsinitiativen sich dem Genozid an den Rom*nja widmen, wie zum Beispiel das Rom*nja-Programm der International Renaissance Foundation in Kiew, eine Reihe von Forschungs- und Aufklärungsprojekten zum Genozid an den Rom*nja, unterstützt von der Friedrich-Ebert-Stiftung, der deutschen Botschaft in der Ukraine, der Stiftung «Erinnerung, Verantwortung und Zukunft» sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der Ukraine.
In Belarus und in der Russischen Föderation sind Gedächtnisagent*innen in erster Linie ethnokulturelle Organisationen. Hier bestehen keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, mit internationalen oder ausländischen Organisationen zu kooperieren, was die Unabhängigkeit von staatlichen Förderstrukturen erschwert. Die statistischen Erhebungen in allen drei Ländern zeigen eine große Zahl ethnokultureller Organisationen für Rom*nja. Aber durch die vergleichbaren Größenverhältnisse lassen sich grundlegende Unterschiede in ihrer Organisation, ihren Arbeitsbereichen, den Beziehungen zum öffentlichen Sektor und dem Verständnis der eigenen Ziele und Aufgaben feststellen. Elena Marushiakova und Veselin Popov stellen fest, dass im heutigen Russland «kaum von einem Dritten Sektor für Roma die Rede sein kann. […] Roma-Aktivisten haben große Schwierigkeiten, sich damit abzufinden, dass ihre Organisationen eigenständig handeln und in mancherlei Hinsicht sogar Widerstand gegen den Staat leisten müssen. […] [Sie] sind sehr zurückhaltend, wenn Projekte von ausländischen Geldgebern finanziert werden, da sie damit riskieren, ihren Rechtsstatus zu verlieren und auf die Liste der ‹ausländischen Agenten› zu kommen.» Ein ähnliches Bild bietet sich bei den nichtstaatlichen Rom*nja-Organisationen in Belarus. Busau stellt fest, dass die «Aktivitäten lokaler und überregionaler Roma-Organisationen in Belarus darauf abzielen, Sprache und Traditionen» zu bewahren. Sie ziehen es vor, sich aus politischen Fragen herauszuhalten. «Die Beteiligung von Roma-Gemeinden am öffentlichen Leben beschränkt sich vornehmlich auf Auftritte bei Kulturfestivals».
In der Ukraine lassen sich Rom*nja-NGOs mit Marushiakova und Popov hingegen als «mitteleuropäisch» oder «südosteuropäisch» beschreiben. Sie sind wesentlich unabhängiger von staatlichen Strukturen, bestimmen ihre Arbeitsschwerpunkte in Eigeninitiative und vertreten ihre Ziele mit mehr Durchsetzungsvermögen. Natürlich ist das nicht zuletzt den Fördermöglichkeiten durch den in- und ausländischen nichtstaatlichen Sektor zu verdanken. Gedenkinitiativen finden nicht immer staatliche Unterstützung, da bisweilen Vertreter*innen rechter Parteien an den Schaltstellen sitzen.
Inhalt der Gedenkinitiativen
Aktuell dominiert in Russland das Narrativ von Heldentum, Patriotismus und Selbstaufopferung der Rom*nja an der Front im Namen des sowjetischen Vaterlandes, die von zeitgenössischen Gedächtnisagent*innen vermittelt werden. Die zahlreichen Heldentaten der Rom*nja in der Roten Armee und der sowjetischen Partisanenbewegung sollen hier mitnichten in Frage gestellt werden. Es geht nicht darum, ob die Rom*nja tatsächlich heldenhaft gekämpft haben, sondern darum, welches historische Material als relevant erscheint, um ein Bild der Gemeinschaft für diejenigen zu prägen, die keine eigene Erinnerung oder Vorstellungen davon haben. Nicht das Leid aufgrund von Verfolgung aus konkreten, nämlich rassenideologischen Gründen, von der die slawische Mehrheit nicht gleichermaßen betroffen war, wird erzählt und präsentiert, sondern eine Geschichte von Heldentum und Einheit durch Heldentum. Die russische Rom*nja-Gemeinschaft kommt in ihren Darstellungen der offiziellen Geschichtspolitik entgegen, was als eine strittige und fragwürdige Strategie erscheinen mag. Einige Forscher*innen und gesellschaftliche Akteure sehen es jedoch als eine positive Veränderung für eine Gemeinschaft, der es lange an rechtlicher und politischer Anerkennung gefehlt hat. Ihrer Ansicht nach stärkt der Diskurs über den aktiven Widerstand und den bewaffneten Kampf das Selbstbewusstsein der Gemeinschaft und liefert das Rüstzeug, um gegen die heutige Diskriminierung zu mobilisieren. Doch solche Hoffnungen sind nur bedingt berechtigt. Das Problem besteht darin, dass der Wunsch, die Gemeinschaft als Teil einer breiteren Gesellschaft darzustellen, mit einer Entpersonalisierung, Nivellierung und dem Verlust ihrer inhärenten Besonderheiten einhergehen kann und langfristig zur Verdrängung und zum Vergessen der eigentlichen Motive der nationalsozialistischen Verfolgung der Rom*nja führt. Wenn nur die Erfahrung derjenigen Mitglieder der Gemeinschaft, in diesem Fall der Rom*nja, die «zusammen mit allen anderen» in einer ideologisierten und künstlichen Vorzeit heldenhaften Widerstand geleistet haben, selektiv in das Bild des gesellschaftlichen Gedächtnisses eingefügt wird, dann wird sich die restliche Gesellschaft nur an die «Reiter», «Späher», «Pioniere», «Proletarier » etc. erinnern. Der Auftrag, des Genozids zu gedenken, also des Schicksals einer ganzen qua Geburt zur Auslöschung verurteilten Gemeinschaft, wird damit untergraben.
Die Gedenkinitiativen und -praktiken der ukrainischen Rom*nja sind anders ausgerichtet. Die Bemühungen des Staates, zwischen 2014 und 2019 in der Ukraine eine einheitliche Interpretation der eigenen Geschichte zu schaffen, blieben unvollständig. Der Pluralismus im öffentlichen Leben und insbesondere in der Erinnerungspolitik verschaffte den ukrainischen Rom*nja die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wie sie ihre Geschichte darstellen wollen. Trotz knapper öffentlicher Ressourcen und nahezu ohne staatliche Unterstützung gelingt die Umsetzung unterschiedlicher Projekte, unter anderem im Bereich des Gedenkens, mithilfe von nichtstaatlichen, ausländischen und internationalen Organisationen. Die Besatzungszeit bringen die ukrainischen Rom*nja eher mit der Verfolgung als mit heldenhaftem Widerstand in Verbindung. Das Rom*nja-Theater «Romans» in Kiew nahm 2018 ein Stück ins Repertoire auf, das von dem Leid eines Rom*nja-Lagers bis zur Vernichtung handelt. Moralische Fragen und menschliche Werte stehen dabei im Mittelpunkt. Die Jugendorganisation «ARCA» veranstaltete eine Ausstellung über Rom*nja-Kinder in der besetzten Ukraine. Der junge Romani-Filmemacher Petro Rusanenko drehte 2017 einen Kurzfilm über eine ukrainische Bäuerin, die versucht, einen Rom vor den Nazis zu retten. In diesen und anderen Initiativen wird die traumatische Erfahrung artikuliert und der Fokus auf das Leid, das Schicksal und die Gefühle der gewöhnlichen Zivilist*innen gelenkt, die Verfolgung ausgesetzt sind. Gleichzeitig wird die Besonderheit des Genozids an den Rom*nja historisch angemessen dargestellt, ohne die agitatorische Rhetorik von der Verteidigung kollektiver, staatlicher, nationaler Interessen.
In Belarus sind vergleichbare Projekte nicht bekannt, mit Ausnahme der 2020 in Minsk eröffneten Wanderausstellung zur Geschichte des Völkermords «Wer bist du, Roma-Volk?», die ausschließlich auf die Initiative des deutschen Bildungswerks für Friedensarbeit zurückgeht.
Perspektiven der verschiedenen Erinnerungskulturen
Aktuell wird in allen drei Staaten weitgehend an die Tragödie des Genozids an den Rom*nja weitgehend erinnert. Diese Erinnerung bildet allerdings nur einen Bruchteil des Leids dieser Gemeinschaft ab. Es gilt vor allem, die aus der sowjetischen Erinnerungskultur stammende Vorstellung von «Asozialität» als Grund für die Verfolgung der Rom*nja durch die Nationalsozialisten zu überwinden. Denn die breite Bevölkerung wird nicht darüber aufgeklärt, dass der Rassismus das Fundament der Nazipolitik war. In den letzten drei Jahrzehnten sind zudem weitere Einflussfaktoren hinzugekommen. In Belarus und Russland steht die dominante nationale Geschichtsauffassung, insbesondere in Bezug auf den «Großen Vaterländischen Krieg», der Einbindung des Genozids an den Rom*nja in die Erinnerungspolitik im Weg. In der Ukraine ändert sich die Situation dank einer pluralistischeren Sichtweise auf die historischen Ereignisse und der zunehmenden Etablierung eines inklusiven Erinnerungsmodells unter Einbeziehung der Stimmen von Rom*nja-Opfern im gesamten historischen Narrativ.
Auch die Beurteilung der Verfolgungsgründe durch die Nachkommen der Opfer selbst spielt eine Rolle. In jedem der hier betrachteten Länder setzt sich das Gedenken an den Völkermord an den Rom*nja durch die Interaktion zwischen Gesellschaft und Politik durch. Ob bewusst oder unbewusst, Vertreter*innen der Rom*nja-Gemeinschaften sind gezwungen, das kollektive Gedächtnis ihrer Gemeinschaften an die staatliche Erinnerungspolitik anzupassen. So überwiegt in Russland und Belarus die Tendenz, die traumatischen Erfahrungen des Genozids zu verherrlichen und zu entindividualisieren, während in der Ukraine die Tendenz zum Umdenken und zur Humanisierung besteht.
[Übersetzung von Irina Bondas & André Hansen für Gegensatz Translation Collective]
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