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Internationale Modernisierungsnarrative, Gesetzesreformen und innere Widersprüche in Saudi-Arabien

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NEOM: Saudi-Arabien plant den Bau einer neuen futuristischen Megastadt am Roten Meer und dem Golf von Akaba im Nordwesten des Landes. Kashwa via Wikimapia.org, Creative Commons

Die Vision 2030 als Weg zur Mäßigung

Seit 2014 sieht sich das Königreich Saudi-Arabien mit den enormen wirtschaftlichen Folgen eines beispiellosen Verfalls der Weltmarktpreise für Erdöl konfrontiert. Die fortschreitende Finanzkrise bedroht den saudischen Sozialstaat und Wohlstand. Sie könnte die Lebensbedingungen Tausender Familien verschlechtern. Um Abhilfe zu schaffen, stellen König Salman bin Abdulaziz Al Saud und sein Sohn Kronprinz Mohammed bin Salman Al Saud ambitionierte Wirtschafts- und Sozialreformen in Aussicht. Unter dem erstmals 2016 verkündeten Titel Vision 2030 werden Gesetzesreformen und andere Neuregelungen in Wirtschaft, öffentlichem Sektor und Sozialwesen zusammengefasst. Das Programm, das ursprünglich aus 2015 geäußerten Vorschlägen der Unternehmensberatung McKinsey Global Institute hervorging, soll die saudi-arabische Wirtschaft diversifizieren und die Abhängigkeit vom Öl schrittweise reduzieren. Die Vision gilt auch als richtungweisend für die Modernisierung Saudi-Arabiens zum Ideal eines gemäßigten islamischen Staats.

Die Vision beruht auf drei Säulen: Gesellschaft, Wirtschaft und Nation. Die folgenden 13 Umsetzungsprogramme betreffen ökonomische, soziale und religiöse Handlungsfelder: das Lebensqualitätsprogramm, das Programm zur Entwicklung des Finanzsektors, das Wohnbauprogramm, das Haushaltsbilanzprogramm, das nationale Transformationsprogramm, das Programm eines staatlichen Investmentfonds, das Privatisierungsprogramm, das Förderprogramm für nationale Unternehmen, das Programm für nationale industrielle Entwicklung und Logistik, das Programm für strategische Partnerschaften, das Doyof-Al-Rahman-Programm zur Förderung der islamischen Praxis von Hadsch und Umra, das Programm zur Entwicklung des Humankapitals und das Programm zur Bereicherung des Nationalcharakters. Zum Projekt gehören auch Megaevents in den Bereichen Unterhaltung und Sport. Die Freizeitmöglichkeiten im Königreich sollen diversifiziert und ausgebaut werden, und bereits vor der Pandemie fanden in Saudi-Arabien die Rallye Dakar, der spanische und der italienische Supercup und einige riesige Konzerte mit Popstars wie Mariah Carey, David Guetta und Enrique Iglesias in Riad statt. Der G20-Gipfel 2020 sollte in Saudi-Arabien abgehalten werden, aber aufgrund der Covid-19-Krise fand er virtuell statt – zur großen Enttäuschung der saudischen Machthaber.

Aliki Kosyfologou hat in Politikwissenschaft und Soziologie promoviert. Ihre interdisziplinären Forschungsinteressen umfassen Politikanalyse, Gesellschaftstheorie, Gendertheorie, Feminismus und Kultur. Sie hat zahlreiche Studien zu den sozialen und genderspezifischen Auswirkungen der Austeritätspolitik in Europa und insbesondere Griechenland verfasst, unter anderem die folgenden Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung: «The gendered aspects of the austerity regime in Greece: 2010-2017» [Die geschlechtsspezifische Dimension des Austeritätsregimes in Griechenland: 2010-2017], «Women’s status in a struggling Greek economy: The terrifying fall of a society’s progress» [Der Status der Frau in der um Aufschwung kämpfenden griechischen Wirtschaft: Der erschreckende Untergang des Fortschritts einer Gesellschaft] und «Über die Fragilität der Gleichheit in Zeiten der Pandemie». Sie hat in der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) gelebt und dort Feldstudien durchgeführt. Aktuell arbeitet sie als freie Wissenschaftlerin und sozialpolitische Beraterin.

Übersetzung von André Hansen und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective.

Hinzu kommt eine Reihe von Megaprojekten zur «Umgestaltung der Einzelhandelslandschaft in der Region». Dazu gehört die Entwicklung von Sonderwirtschaftszonen, die laut Investitionsministerium Ende 2021 starten soll. Zwei der bemerkenswertesten Projekte sind die Stadt NEOM an der Grenze zu Jordanien, ein techno-futuristischer urbaner Knotenpunkt, und das Rote-Meer-Projekt, ein riesiges Tourismusentwicklungsprojekt an der Küste des Roten Meers. Beide Projekte sollen das Wirtschaftsprofil des Landes verändern und diversifizieren.

Schlechter Zeitpunkt für das Modernisierungsnarrativ?

Diese Pläne sorgen allerdings auch für Kontroversen – sowohl international als auch im Inland –, denn die Regierung gibt sehr viel Geld aus, während den lokalen Bevölkerungsgruppen Zwangsumsiedlung droht. Auf einem Teilgebiet von NEOM ist etwa der alte arabische Stammesverband der Howeitat beheimatet, der wegen des Projekts seinen Siedlungsraum verliert und keine Alternativen geboten bekommt. Zudem stehen diese Projekte unter der Schirmherrschaft der neuen, dem Kronprinzen direkt unterstellten Allgemeinen Entwicklungsbehörden. Die Exklusivität sorgt bei vielen saudischen Amtsträger*innen für Verärgerung, weil sie sich übergangen fühlen und keine Informationen erhalten.

Die Umsetzung der Vision begann außerdem zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn die schockierende Ermordung und Verstümmelung Jamal Khashoggis im saudi-arabischen Konsulat in der Türkei, die Festnahme saudischer Geschäftsleute im Ritz Carlton in Riad[1] und die Fortsetzung der unpopulären Intervention in Jemen warfen Schatten auf das Vorhaben. Der seit 2015 anhaltende Jemenkrieg löste eine der schlimmsten humanitären Krisen weltweit aus und destabilisierte Saudi-Arabien auch von innen: Er belastet den Staatshaushalt enorm und wirkt sich sozial und ökonomisch negativ auf saudi-arabische Grenzregionen wie Najran aus, wo die Yam leben, eine der ältesten arabischen Bevölkerungsgruppen.

Auch die Verhaftungswellen, die saudische Aktivist*innen betrafen, etwa Mitglieder der Saudischen Vereinigung für bürgerliche und politische Rechte oder feministische Aktivist*innen, die 2018–19 an der Spitze der Kampagnen gegen das Vormundschaftsgesetz und das Fahrverbot für Frauen standen, beschädigten das Image des moderaten, weltoffenen und visionären jungen Monarchen, das der Kronprinz so beharrlich nach außen trug. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie brachte den Zeitplan für die Vision noch weiter durcheinander, schadete der Wirtschaft und verschärfte die bestehenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten. Die Pandemie stürzte die Ölmärkte in eine Krise. Saudi-Arabiens jährliche Öleinnahmen brachen deutlich ein. Saudische Öleinnahmen sanken um 35 Prozent pro Jahr auf 59,6 Milliarden Dollar im Zeitraum Januar–Juni. Das Haushaltsdefizit stieg in diesem Zeitraum auf 143,4 Milliarden Saudi-Riyal, während es ein Jahr zuvor noch bei 5,684 Milliarden Saudi-Riyal gelegen hatte.

Die Vision 2030 ist zweifellos die ehrgeizigste Imagekampagne in der Geschichte des saudischen Regimes. Auf der internationalen Bühne sollte Saudi-Arabien als progressiver und gemäßigt muslimischer Staat auftreten, als Anführer der muslimischen Welt und auf Augenhöhe mit westlichen Ländern. Die Reformen, darunter die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen 2018, die Lockerung des Vormundschaftsgesetzes und die Entmachtung der Mutawa – der Religionspolizei (Ehemals: Saudische Behörde zur Förderung der Tugend und Bekämpfung des Lasters.) –, gelten als Belege für den Einsatz des Regimes für Wandel und Modernisierung. Die Abschaffung der Mutawa wurde in der saudischen Presse als ein Schritt zu einer «glücklichen Ehe» von Religion und Modernisierung gefeiert.

Die Machtbeschränkung der berüchtigten Religionspolizei wird als eine der wichtigsten Errungenschaften des Kronprinzen dargestellt. Arab News, eine der bekanntesten englischsprachigen regimefreundlichen Zeitungen des Landes, bezeichnete die Religionspolizei als «eine Organisation frommer Männer, die sich von Freunden zu Feinden der Gesellschaft entwickelten». Überschattet wird diese Entwicklung jedoch von den Menschenrechtsverletzungen, die sich unter Mohammed bin Salman ereignen, der dazu neigt, alle zu beseitigen, die es wagen, «sich seinem politischen Aufstieg in den Weg zu stellen». Seit 2017 wurden Hunderte saudi-arabische Bürger*innen gezielt festgenommen, darunter prominente Geistliche, Menschenrechtler*innen, einige der bekanntesten Frauenrechtler*innen des Landes und sogar potenzielle Regierungskritiker*innen. Zwar ist die Inhaftierung politischer Aktivist*innen in der saudischen Monarchie nichts Neues, die Verhaftungswelle nach 2017 ist aber bemerkenswert, weil ihr in kurzer Zeit erschreckend viele Personen zum Opfer fielen.

Vision 2030 als Plan für Sparmaßnahmen

Aus internationaler Sicht wird die saudische Modernisierung von der rauen Wirklichkeit konterkariert, die in Menschenrechtsverletzungen, Zensur, der Unterdrückung sozialer und politischer Gruppen sowie dem Fehlen von Pluralismus und Mitbestimmung besteht. Innenpolitisch beäugt man die Vision mit Argwohn und Misstrauen, weil sie den saudischen Lebensstil auf verschiedene Weise betrifft. Die ökonomische Diversifizierung durch die Vision 2030 geht mit einer Reihe von Maßnahmen einher, die den saudischen Alltag verändern werden, etwa Kürzungen im öffentlichen Sektor, dem größtem Arbeitgeber Saudi-Arabiens, Steigerungen der durchschnittlichen Wohnnebenkosten (Wasser- und Sanitärversorgung) und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, die sich unmittelbar auf den Konsum auswirken wird.

Darüber hinaus zwang die Covid-19-Pandemie die saudischen Behörden zu Sparmaßnahmen mit kurzfristigeren Effekten. Die Verdreifachung der Mehrwertsteuer, Kürzungen der Sozialleistungen und der Gehaltszulagen für Staatsbedienstete wurden in den Staatsmedien als Notmaßnahmen dargestellt, die der Doppelrezession aufgrund von Covid-19 und Ölpreis-Rekordtief begegnen sollten. Das Sparprogramm sah auch vor, dass Ausgaben für Programme der Vision 2030 gestrichen oder verschoben werden. Unter diesen Umständen musste das von Saudi-Arabien gestützte Konsortium, das den Fußballverein Newcastle United für 300 Millionen Pfund kaufen wollte, im Juli 2020 sein Angebot zurückziehen, angeblich weil das Bieterverfahren zu lange dauerte. Das Konsortium zog sein Angebot zurück, weil Befürchtungen laut wurden, es könnte die Voraussetzungen für die Eigentümerschaft eines Vereins in der Premier League nicht erfüllen.

Übergangszeit für das wichtigste Bündnis Saudi-Arabiens

Die Biden-Regierung beschloss zwar, den Kronprinzen für seine Beteiligung an Jamal Khashoggis brutaler Ermordung nicht strafrechtlich zu verfolgen, während sie die anderen Mitglieder der in den Mord verstrickten Organisation zur Verantwortung zog, doch die traditionell engen Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und den USA sind belastet. Die aktuelle US-Regierung veröffentlichte einen Geheimdienstbericht, der zu dem Schluss kam, dass der Kronprinz dem Team aus Sicherheitsleuten und Funktionären Khashoggis Tötung genehmigte. Außerdem wuchs bei den Bediensteten der US-Botschaft in Saudi-Arabien die Unzufriedenheit mit dem Umgang mit der Gesundheitskrise, was dazu führte, dass im April letzten Jahres «Personal und Familien, die nicht zum Notpersonal gehörten, freiwillig ausreisten». Hinzu kam, dass die Zeitschrift Foreign Policy eine Reihe von Artikeln veröffentlichte, die die saudischen Megaprojekte spöttisch kritisierten und als erfolglose Versuche des Kronprinzen bezeichneten, «mit Mord davonzukommen».

Saudi-arabische Jugend als neue politische Kraft

Trotz der positiven sozialen Auswirkungen der jüngsten Reformen in Saudi-Arabien, etwa der «Auflösung» der Mutawa, der Fahrerlaubnis für Frauen, der schrittweisen Aufhebung des Vormundschaftsgesetzes und der Aufhebung der Geschlechtertrennung, scheint der gesellschaftliche und institutionelle Wandel noch oberflächlich und unbefriedigend zu verlaufen. Die saudische Jugend, die Social Media nutzt, über einen hohen Bildungsgrad und gute Englischkenntnisse verfügt, pocht auf sozialen Wandel und lehnt den Kompromiss früherer Generationen mit dem Regime zunehmend ab, insbesondere in einer Zeit, da das Regime keine «Kompensation» für die Vorenthaltung von politischen Rechten bieten kann.

Obwohl die saudische Monarchie 2011–12 schiitische Jugendproteste im Osten des Landes unterdrückte, tritt die Jugend als eine immer bedeutsamere politische Kraft auf. Forderungen nach Bürgerrechten, politischer Beteiligung, Frauenrechten sowie der Ärger über die saudische Vetternwirtschaft sind entscheidende Faktoren für die Mobilisierung der Jugend. Darüber hinaus spielt auch die Präsenz von zahlreichen in Saudi-Arabien lebenden Arbeitsmigrant*innen (etwa 11 Millionen im Jahr 2017) – Bauleute, Hausangestellte, Kellner*innen, Technik- und Fahrpersonal etc. – in die Dynamiken der saudischen Wirtschaft und Demografie hinein. Das lässt sich, vor allem in einer Wirtschaftskrise, nicht länger ignorieren. Aufgrund der internationalen Aufmerksamkeit durch die Misshandlung von ausländischen Arbeiter*innen und insbesondere Hausangestellten war Saudi-Arabien gezwungen, seine Migrationspolitik und das Kafala-System zu überdenken, das eine Abhängigkeit der Arbeitnehmer*innen von einer Bürgschaft festschreibt. Stattdessen wird ein Vertragssystem eingeführt, das es ausländischen Arbeiter*innen erlaubt, frei ein- und auszureisen.

Fazit

Die Vision 2030 markiert zweifelsohne einen Wendepunkt für den saudischen Staat, der zum ersten Mal seit den frühen 1970er Jahren gezwungen ist, seine Wirtschaft umzustrukturieren. Dieser Strukturwandel betrifft verschiedene Aspekte des sozialen Lebens, vor allem das bestehende Machtgleichgewicht, die Hierarchien von Klasse, Ethnie und Gender, die die saudische Gesellschaft ausmachen. In diesem Zusammenhang gerät die Umsetzung der Vision 2030 in Konflikt mit den herrschenden Ansichten und Werten der Gesellschaft und mit den Interessen mächtiger Netzwerke. Die Vision 2030 ist zwar ein Modernisierungsnarrativ, das dem Land auf internationaler Ebene ein neues Image verleihen soll, aber drängende soziale Fragen lässt sie unberücksichtigt. Das ehrgeizigste Projekt des Kronprinzen bleibt also vage und wird wahrscheinlich unter den Widersprüchen einer Haushaltskrise und eines nicht mehr tragfähigen sozialen Konsenses zusammenbrechen.


[1] Siehe Grand, Stephen/Wolff, Katherine (2020): «Assessing Saudi Vision 2030: A 2020 review», Atlantic Council: Rafik Hariri Center for the Middle East, June 2020, S. 2.