Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - Nordafrika Algerien: Zwischen konterrevolutionärer Repression und Hoffnung auf einen neuen Funken

Massiver Wahlboykott und eskalierende Polizeigewalt überschatten die Parlamentswahl in Algerien 

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Foto aus dem Februar 2021: Die Hirak-Demonstrant*innen protestieren gegen die vorgezogenen Parlamentswahlen, für die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Freilassung der Hirak-Häftlinge. Foto: picture alliance / abaca | Ammi Louiza/ABACA

Die Repressionswellen der letzten Monate haben den Hirak fast vollständig von Algeriens Straßen vertrieben. Nur in der Kabylei wird weiter munter gegen das Regime demonstriert. Die Opposition steht unter enormem Druck und inzwischen gar mit dem Rücken zur Wand. Der Versuch des Regimes, durch die Neuwahl des Parlaments die Legitimität der formell regierenden politischen Führung im Land zu erneuern, schlug zwar fehl. Das Wahlergebnis zeigt aber: Die herrschende Klasse hält Konzessionen an die Opposition nicht mehr für nötig. Eine Eskalation der Repressalien zeichnet sich ab. Auch deshalb muss der Hirak dringend den öffentlichen Raum zurückerobern, will er nicht endgültig von der konterrevolutionären Politik der Generäle überrollt werden.

Polizeigewalt gegen Demonstrationen, hunderte Verhaftungen von Aktivist*innen, Journalist*innen und Demonstrant*innen, Drohgebärden und Einschüchterungen gegenüber der Zivilgesellschaft, Repressalien gegen in sozialen Medien geäußerte Regimekritik, Verbotsklagen gegen drei Oppositionsparteien und eine NGO und sogar Terrorismusvorwürfe gegen Medienschaffende und Aktivist*innen; Algeriens immer autokratischer auftretendes Regime macht seit Monaten keinen Hehl daraus, dass es der Protestbewegung – im Land meist «Hirak» (Arabisch für «Bewegung») genannt – endgültig den Garaus machen will. Im Vorfeld der umstrittenen Parlamentswahlen vom 12. Juni erhöhten die Behörden gar noch zusätzlich den Druck auf den Hirak und mit der Bewegung assoziierte Kräfte aus der Zivilgesellschaft.

Unmittelbar nachdem Staatspräsident Abdelmajid Tebboune im März das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen ließ, intensivierten die Sicherheits- und Justizbehörden ihr Vorgehen gegen die seit Februar wieder starken Zulauf erhaltenden Hirak-Proteste. Das Muster ist nicht neu, hatte das Regime doch schon im Vorfeld der von Manipulationsvorwürfen überschatteten Präsidentschaftswahl 2019 und des Verfassungsreferendums 2020 die Repressalien hochgefahren, um Demonstrant*innen einzuschüchtern, den Hirak aus der öffentlichen Sphäre zu vertreiben und somit die in Algerien fast schon traditionellen Störaktionen von Regimegegner*innen an Wahltagen zu verhindern. Im Gegensatz zu 2019 ließen die hinter den Kulissen die Fäden ziehenden Generäle den Polizeiapparat vor der Parlamentswahl jedoch frühzeitig von der Leine.

Sofian Philip Naceur ist Journalist und arbeitet als Projektmanager für das Nordafrikabüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis. Meist schreibt er über Entwicklungen in Ägypten, Tunesien und Algerien sowie EU-Grenzauslagerungspolitik in Nordafrika. Zwischen 2012 und 2018 lebte er in Kairo.

Hirak und Opposition riefen auch deshalb zum Boykott der Abstimmung auf. Hirak-Aktivist*innen versuchten wochenlang vergeblich, der zunehmenden Polizeigewalt standzuhalten und mittels Protesten den Druck auf das Regime aufrechtzuerhalten. Doch im Mai gelang es der Polizei erstmals seit Beginn des Massenaufstandes 2019, Hirak-Proteste gewaltsam aufzulösen und gar von Beginn an zu verhindern. Nachdem es die Einsatzpolizei Mitte Mai erstmals schaffte, die jeden Dienstag stattfindenden Studierendenproteste in Algier mit Gewalt auseinanderzutreiben, gingen die Hundertschaften nur Tage später mit einer bisher beispiellosen Rigorosität gegen die Freitagsmärsche in Algier vor und machten in der Innenstadt sprichwörtlich Jagd auf Protestierende. Seither werden die für den Hirak äußerst wichtigen Sternmärsche in Algier systematisch unterbunden, greift der Polizeiapparat doch schon an den Versammlungsorten der Proteste hart durch und verhindert somit das Einstehen von Demonstrationszügen im Keime. Nur in Béjaia, Tizi Ouzou und anderen Teilen in der mehrheitlich von Berber*innen bewohnten Provinz Kabylei, einer Hochburg der Opposition, finden weiterhin regelmäßig nennenswerte Proteste statt.

«Keine Wahlen mit der Bande»

Trotz der heftigen Repressalien gegen Demonstrationen verlief die Abstimmung alles andere als ruhig und störungsfrei. Am Tag vor der Wahl kam es erstmals seit Wochen zu größeren Protesten außerhalb der Kabylei, unter anderem in Sétif und Mostaganem. In mehreren Kleinstädten in den Provinzen Bouira und Béjaia ließen sich Jugendlichen von nächtlichen Verhaftungen provozieren und lieferten sich am Wahltag Zusammenstöße mit der Polizei. Algeriens Bevölkerung quittierte den Urnengang dabei mit Gleichgültigkeit oder aktivem Boykott. In der Kabylei wurden dutzende Wahllokale von Demonstrant*innen gestürmt, Wahlurnen wurden entwendet und Wahlzettel auf der Straße verteilt oder angezündet. In Tizi Ouzou und Béjaia konnte der Wahlgang auch deshalb praktisch nicht stattfinden. Wie schon bei vergangenen Abstimmungen versammelten sich in mehreren Städten der Kabylei Wahlgegner*innen auf der Straße, reihten sich vor Abfalleimern auf und warfen selbstgemalte Wahlzettel symbolisch in den Müll.

Der formellen Restauration einer pseudodemokratischen Fassade im Land sind die Generäle mit der Parlamentswahl dennoch ein Stück näher gekommen. Legitimität genießt die neue Nationalversammlung in Algier jedoch nicht, war die Abstimmung doch weder frei noch transparent. Ganz im Sinne des seit Wochen auf Hirak-Protesten omnipräsenten Slogans «Makesh intikhabat maa el 3issabat» (Arabisch für «Keine Wahlen mit der Bande») blieb die Bevölkerung den Urnen weitgehend fern. Die Wahlbeteiligung erreichte nach offiziellen Angaben nur 23 Prozent und damit einen historischen Tiefstwert. Doch selbst diese Zahl dürfte noch geschönt worden sein, so der Vorwurf der Opposition gegenüber der Nationalen Wahlkommission (Autorité Nationale Indépendante des Elections, ANIE), die vom Staatschef ohne unabhängige Kontrolle und nach Gutdünken mit Gefolgsleuten besetzt wurde. Kein Wunder also, dass die Opposition von einer «Wahlfarce» spricht, die «die Kluft zwischen Volk und Regime» weiter vertiefe. «Wahlbetrug ist das bevorzugte Mittel des Regime, um dessen Klientel zu kooptieren und an der Macht zu erhalten», so die in der Kabylei verankerte linksliberale Oppositionspartei Sammlung für Kultur und Demokratie (Rassemblement pour la Culture et la Démocratie, RCD) in einer Stellungnahme.

Rückkehr einer «präsidentiellen Allianz»?

Der offenbar erneut systematische Wahlbetrug, die erfolgreichen Boykottkampagnen von Hirak und Opposition und die Repressalien, die seit Monaten auf Hirak-Aktivist*innen einprasseln, ließen die Endergebnisse des Urnengangs derweil fast zur Nebensache werden. Dabei sind diese durchaus eine Überraschung, schnitten doch die beiden im Land äußerst verhassten Regimeparteien Nationale Befreiungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) und Nationaldemokratische Sammlung (Rassemblement National Démocratique, RND) unerwartet gut ab. Die seit Algeriens Unabhängigkeit von Frankreich 1962 fast durchgängig regierende frühere Einheitspartei FLN zog mit 98 der insgesamt 407 zu vergebenden Mandaten gar als stärkste Kraft in die neue Nationalversammlung ein. Das RND gewann 58 Sitze. Das im Vorfeld des Urnengangs prognostizierte starke Abschneiden des vom Regime kooptierten islamistisch-konservativen Lagers blieb aber aus. Der Vorsitzende der islamistisch-konservativen Bewegung für die Gesellschaft und den Frieden (Mouvement de la Société de la Paix, MSP), Abderrezak Makri, hatte sich vor der Wahl zwar Hoffnungen auf den Wahlsieg und damit auch auf das Amt des Regierungschefs gemacht. Mit 65 Sitzen blieb die Partei, die zwischen 2002 und 2012 gemeinsam mit FLN und RND regiert hatte, aber weit hinter ihren Erwartungen zurück. Die MSP-Abspaltung El Bina gewann 39 Mandate, die nationalistische Front der Zukunft (El Mostaqbal) 48 und unabhängige Listen 84 Sitze.

Bis zum Ausbruch des landesweiten Massenaufstandes gegen die herrschende Ordnung im Februar 2019 hätte ein solches Ergebnis kaum jemanden überrascht. Angesichts des inzwischen völlig ruinierten Rufes von FLN und RND ist das Wahlergebnis allerdings verblüffend – und besorgniserregend. Schließlich hält es das Regime offenbar nicht mehr für notwendig, politische Konzessionen anzubieten oder zumindest den Anschein einer kompromissorientierten Politik vorzugaukeln. Für die neue Exekutive heißt das zudem, dass nun exakt jene Parteien, gegen die sich der Massenaufstand explizit richtete, erneut mit der Regierungsbildung beauftragt werden könnten. Sogar eine Neuauflage der von Ex-Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika protegierten Koalition aus FLN, RND und MSP wird nicht ausgeschlossen.

Ob es wirklich soweit kommt, ist aber weiterhin unklar, bekommt Bouteflikas frühere Hausmacht doch Konkurrenz im neuen Parlament. Eine Woche nach der Abstimmung kündigte der Sprecher der «unabhängigen» und dem Militär nahe stehenden Liste Solider Wall (El-Hisn El-Matin), Yacine Merzougui, nach Gesprächen mit anderen Parteien und Abgeordneten bei einer Pressekonferenz in Algier an, eine  «parlamentarische Allianz» gründen zu wollen. Deren Ziel: «Die Umsetzung des Programms des Präsidenten zu beschleunigen». Die Liste habe 27 Sitze errungen, sei die Hauptkonkurrentin der FLN und eine «wirksame Kraft auf dem Weg zu echten Veränderungen». Merzougui wird schon seit Monaten in der algerischen Staatspresse eine Bühne gegeben während er aus seiner armeefreundlichen Position keinen Hehl macht. Noch ist unklar welcher Regimeflügel hinter der Liste steht und welche Ambitionen sie verfolgt, doch das Tauziehen um das Amt des Premierministers könnte früher oder später Erkenntnisse über die hinter den Kulissen ausgetragenen Machtkämpfe innerhalb der Staatselite zu Tage fördern.

Massenrevolte und konterrevolutionärer Gegenschlag

Unterdessen steckt das Land weiterhin in einer politischen Sackgasse fest. Die Parlamentswahl und der anhaltende Widerstand des Hirak gegen das zunehmend autoritär agierende Regime haben glasklar gezeigt: Algeriens politische Krise ist alles andere als vorbei. Ausgebrochen war die Krise im Februar 2019. Unmittelbar nachdem die damals regierende und von FLN und RND geführte «Präsidentenallianz» den seit 1999 regierenden Staatschef Bouteflika in grotesker Manier abermals für die Präsidentschaftswahl und damit für ein fünftes Mandat nominiert hatte, waren in der Kabylei und in Städten Ostalgeriens spontane Proteste gegen die abermalige Kandidatur des greisen und seit einem Schlaganfall 2013 an den Rollstuhl gefesselten Präsidenten ausgebrochen.

Diese mauserten sich rasch zu einer beeindruckenden Massenbewegung, die in nur wenigen Tagen das gesamte Land und fast sämtliche soziale Schichten erfasste. Jugendliche und Rentner*innen, Frauen und Männer, Arbeitslose und Besserverdienende, Konservative und Linke, Religiöse und Säkulare; Sie alle einte die Forderung nach dem sofortigen Rücktritt Bouteflikas und einem Ende des intransparenten und von Korruption und Vetternwirtschaft zerfressenen alten Systems. «Makesh el khamsa ya Bouteflika» (Arabisch für «Kein fünftes [Mandat], Bouteflika») hallte es damals lautstark und wochenlang durch Algeriens Straßen. Sechs Wochen nach Beginn der konsequent friedlichen Massenrevolte zog das Militär unter Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah die Reißleine und zwang Bouteflika zum Rücktritt. Doch die Proteste gingen weiter und richteten sich fortan gegen die Militärführung selbst. Der Hirak gab sich mit den von Gaïd Salah vorangetriebenen kosmetischen Personalwechseln an der Staatsspitze nicht zufrieden.  «Yetnahaw Ga3» (Arabisch für «Ihr müsst alle gehen») wurde zum neuen zentralen Slogan des Hirak.

Im Dezember 2019 ließ die Armeeführung trotz andauernder landesweiter Massenproteste gegen die Staatsführung Präsidentschaftswahlen durchführen. Trotz niedriger Wahlbeteiligung und offensichtlicher Wahlfälschung installierte das Militär den Gaïd Salah-Vertrauten und früheren Premierminister Abdelmajid Tebboune im höchsten Staatsamt. Die Proteste gingen jedoch auch 2020 unvermindert weiter und wurden erst durch die Covid-19-Pandemie jäh gestoppt. Nachdem der Hirak als Reaktion auf die Gesundheitskrise seine allwöchentlichen Proteste im März 2020 eingestellt hatte, intensivierten Polizei und Justiz erneut ihre Repressalien. Trotz elfmonatiger Corona-Zwangspause und mehrerer Verhaftungswellen gegen Hirak-Aktivist*innen schaffte es die Bewegung am zweiten Jahrestag des Aufstandes im Februar 2021 abermals erfolgreich in Algeriens Straßen zu mobilisieren und eine neue Protestwelle loszutreten.

Tebboune kündigte jedoch kurz darauf vorgezogene Parlamentswahlen an und ließ den Polizei- und Justizapparat erneut auf Hirak und Opposition los. Boykottaufrufe und Proteste gegen den als pseudodemokratisches Manöver entlarvten Wahlgang prallten jedoch weitgehend an der Staats- und Militärführung ab. Tebboune war dennoch bemüht, den Widerstand des Hirak gegen die Abstimmung herunterzuspielen und erklärte in der französischen Tageszeitung Le Point, der Hirak habe seine Legitimität verloren. Nur eine Minderheit im Land lehne die Wahl ab, so der Staatschef. Neu ist diese Rhetorik keinesfalls. Schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2019 hatte das Regime Polizeikräfte auf Protestierende einknüppeln lassen während Regimevertreter*innen von einer schweigenden, die Regierung unterstützenden Mehrheit schwadronierten. Im Gegensatz zu heute fanden damals jedoch nennenswerte Proteste in weiten Teilen Algeriens statt. Heute nutzt das Regime die schwache Zugkraft des Hirak eiskalt aus, um der revolutionären Restdynamik im Land endgültig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Systematisches Durchgreifen gegen den zivilen Widerstand

Angesichts dieser bis heute anhaltenden Repressionswelle wird das Eis für den Hirak tatsächlich dünner. Nachdem die zuletzt eher geringe Mobilisierungskraft des Hirak seine Achillesferse erneut offengelegt hat, lässt das Regime seit Monaten keinen Zweifel daran, dass es diese Schwäche um jeden Preis auszunutzen gedenkt. Die Repressalien werden heftiger und zielen mittlerweile auch auf etablierte Strukturen der Zivilgesellschaft ab. Während Protesten mit einer seit Beginn des Aufstandes beispiellosen Polizeipräsenz und Brutalität begegnet wird, häufen sich inzwischen gezielte Verhaftungen von Aktivist*innen, Journalist*innen und Oppositionellen massiv. Auch in mehreren Kollektiven organisiere Anwält*innen, die Rechtsbeistand für politische Häftlinge leisten, sind mittlerweile ins Visier der Behörden geraten.

Seit März ist die Anzahl der politischen Gefangenen im Land von wenigen Dutzend auf ganze 261 angestiegen (Stand: 22. Juni 2021), so das Aktivist*innenkollektiv Nationales Komitee zur Befreiung der Gefangenen (Comité National pour la Libération des Detenus, CNLD). Auch das CNLD selbst ist zur Zielscheibe staatlicher Repressalien geworden, ließen die Behörden doch kurz nach der Parlamentswahl mehrere CNLD-Mitglieder vorläufig verhaften. Seit Jahresbeginn häufen sich zudem die Hungerstreiks politischer Häftlinge. Anfang Juni traten im berüchtigten El Harrach-Gefängnis in Algier gleich 80 politische Gefangene in einen kollektiven Hungerstreik. Die Behörden nutzen das Mittel der Untersuchungshaft dabei zunehmend als Instrument der Repression, um Aktivist*innen kurz- oder mittelfristig aus dem Weg zu räumen.

Verhaftete Protestler*innen werden in Polizeigewahrsam derweil offenbar zunehmend systematisch bedroht, eingeschüchtert und sogar gefoltert. Gab es 2019 und 2020 zunächst nur einige wenige Fälle, in denen inhaftierte Aktivist*innen von Misshandlungen in Polizeiwachen berichteten, häufen sich entsprechende Berichte inzwischen massiv. Einer der prominentesten davon ist jener von Walid Nekiche. Der Ende 2019 verhaftete Student hatte Anfang 2021 von sexuellen Übergriffen in einer Polizeistation berichtet. Auch vor prominenteren Aktivist*innen machen die Behörden keinen Halt mehr. Der mehrfach im westalgerischen Oran verhaftete Journalist Saïd Boudour hatte nach seiner Inhaftierung im April ebenfalls zu Protokoll gegeben, in Polizeigewahrsam geschlagen, bedroht und misshandelt worden zu sein. Bei Algeriens Zivilgesellschaft schrillen angesichts derlei Berichten seit Monaten die Alarmglocken, werden doch Erinnerungen an die während des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren von Algeriens Armee- und Polizeiapparat angewandten Foltermethoden wach.

Zeitgleich lassen die Behörden regimekritische Äußerungen in sozialen Netzwerken vermehrt strafrechtlich verfolgen und gehen gegen mit dem Hirak assoziierte Oppositionsparteien und NGOs vor. Nachdem Polizeibehörden die in einem Arbeiter*innenviertel in Algier ansässige Organisation SOS Culture Bab El Oued durchsuchen ließen und ihr nun «subversive Aktivitäten» und unerlaubte «ausländische Finanzierung» vorwerfen, reichte das Innenministerium einen Verbotsantrag gegen den im Rahmen des Hirak äußerst aktiven Jugendverband Sammlung für Jugendaktion (Rassemblement Actions Jeunesse, RAJ) ein. Zusätzlich droht drei mit dem Hirak assoziierten Oppositionsparteien ein Verbotsverfahren. Betroffen sind die in Béjaia verankerte trotzkistische Sozialistische Arbeiterpartei (Parti Socialists des Travailleurs, PST), die linke Demokratisch-Soziale Bewegung (Mouvement Démocratique et Social, MDS) von Fethi Ghares und die von der Anwältin Zoubida Assoul geführte liberale Union für Wandel und Fortschritt (Union pour le Changement et le Progrès, UCP).

«Legalisierte» Repression

Besorgniserregend ist jedoch nicht nur die massive Ausweitung der Repressalien gegen Opposition und Protestbewegung seitens der Polizei- und Justizbehörden, die verhaftete Demonstrant*innen und Oppositionelle weiterhin regelmäßig auf Grundlage vage formulierter Beschuldigungen vor Gericht zerren. Denn Algeriens Regierung ließ seit 2020 eine Reihe an Gesetzesnovellen durch die Parlamente peitschen, mit denen jedwede Form der Opposition und Regimekritik auch langfristig unterdrückt werden könnte. Algeriens Staatsführung verschärft offenbar systematisch ausgewählte Gesetze, um anhaltende und potentiell noch bevorstehende Repressalien gegen Opposition und Hirak den Anschein der Rechtmäßigkeit zu verleihen und neue Instrumente für das Vorgehen gegen Regimekritiker*innen zu schaffen.

Kurz nach Ausbruch der Pandemie verabschiedete die Regierung zwei Gesetzesnovellen, die den Behörden zusätzliche Mittel in die Hand geben, um künftig noch restriktiver gegen Regimekritik im Internet vorgehen zu können. Das vage formulierte Gesetzt gegen Diskriminierung und «Hassreden» könnte auch gegen regierungskritische Internetmedien eingesetzt werden, sieht es doch Haftstrafen von bis zu zehn Jahren für mittels «elektronischer Seiten oder Konten» verbreiteter Diskriminierung vor. Die Revision des Strafgesetzbuches kriminalisiert derweil Äußerungen, die «die öffentliche Ordnung und Sicherheit untergraben» oder die «Sicherheit des Staates oder die nationale Einheit» gefährden. Das Gesetz sieht bei entsprechenden Vergehen bis zu drei Jahre Haft vor, kriminalisiert jedoch auch die Annahme von Geldmitteln aus dem Ausland, wenn diese «die Sicherheit des Staates», «die nationale Einheit» oder «die fundamentalen Interessen Algeriens» untergraben. Vor allem die Novellierung der Strafgesetzordnung wird als erheblicher Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit gewertet. Die NGO Reporter ohne Grenzen (Reporters sans Frontières, RSF) kritisierte das «vage formulierte und drakonische Gesetz» scharf. Es sei dafür konzipiert worden, Medien und Internetnutzer «zu zensieren und einzuschüchtern» und der Presse einen Maulkorb zu verpassen, so RSF in einer Erklärung.

Folgenreich dürften derweil die jüngsten Versuche der Staatsführung sein, den Hirak und mit ihm assoziierte Organisationen und Individuen unter Terrorismusverdacht zu stellen. Schon seit 2020 rückten Regimevertreter*innen im Hirak aktive Gruppen immer wieder in die Nähe terroristischer Organisationen – zunächst aber nur rhetorisch. Im April 2021 jedoch erhob die Staatsanwaltschaft in Oran Anklage gegen die Journalisten Saïd Boudour und Jamila Loukil, den Menschenrechtler und Gewerkschaftler Kaddour Chouicha und neun weitere inhaftierte Aktivist*innen. Ihnen wird Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. Im Juni drückte das Regime eine weitere Änderung der Strafgesetzordnung durch, weitete dabei die Definition des Terrorismusbegriffs stark aus und legte die Grundlage für die Erstellung einer «nationalen Liste an Personen und Entitäten», die vom Staat künftig als «terroristisch» einzustufen sind.

Kurz zuvor hatte die Regierung die vor allem im europäischen Ausland aktive islamistische Rashad-Bewegung und die 2001 gegründete und angeblich von algerischen Geheimdiensten unterwanderte Bewegung für die Selbstbestimmung der Kabylei (Mouvement pour l‘Autodétermination de la Kabylie, MAK) als «terroristische Organisation» eingestuft. Während der Terrorismusvorwurf gegen islamistische Gruppen ein eher strategisches Manöver zu sein scheint, richtet sich der Vorstoß des Regimes vor allem gegen die Kabylei und die hier weiterhin wirkungsmächtige Rebellion gegen die herrschende Klasse. Die Staats- und Militärführung setzt auch deshalb schon seit 2019 auf eine zunehmend explizit formulierte sektiererische Rhetorik, will damit Hirak und Opposition entlang ethnischer Zugehörigkeiten spalten und Berber*innen und Araber*innen gegeneinander ausspielen. Das Regime spielt hier offenbar bewusst mit dem Feuer, will die kabylische Opposition provozieren und radikalisieren und kopiert hier ungeniert Methoden, die schon die französische Kolonialmacht in Algerien angewandt hat.

Regimeinterne Machtkämpfe gehen weiter

Während sich das zunehmend vom Militär dominierte Regime offenbar einheitlich gegen den Hirak wendet, gehen die heftigen Macht- und Flügelkämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen der intransparenten und fragmentierten Staatsklasse unvermindert weiter. Unklar bleibt aber, inwiefern sich die herrschende Elite seit dem überraschenden Tod von Armeechef Gaïd Salah im Dezember 2019 reorganisiert hat. Dessen Fraktion im Machtapparat hatte sich zu Beginn des Massenaufstandes Anfang 2019 rasch an die Spitze des Regimes gestellt und im Windschatten der Rebellion um politischen Einfluss und wirtschaftliche Privilegien konkurrierende Clans im Machtgefüge sukzessive ausgeschaltet. Gaïd Salah gilt als treibende Kraft hinter der Entscheidung der Armeeführung, Bouteflika und seine Gefolgschaft aus der Machtelite zu entfernen und mittels unzähliger Verhaftungen und Korruptionsanklagen unschädlich zu machen. Die Justiz ging damals ebenso zielstrebig gegen das Netzwerk des zuvor als allmächtig geltenden Ex-Chefs des algerischen Militärgeheimdienstes (Département du renseignement et de la Sécurité, DRS), Mohamed «Tewfik» Mediène, vor und ließ diesen und einige seiner Schlüsselvertrauten vor Gericht zerren.

Unmittelbar nachdem Gaïd Salah Ende 2019 seinen Vertrauten Tebboune im Präsidentenpalast El Mouradia in Algier installieren konnte, verstarb der seit 2004 amtierende Armeechef. Tage später begann die Militärjustiz, gegen Regimefiguren aus Gaïd Salahs Umfeld vorzugehen. Der seit Bouteflikas Rücktritt immer mächtiger gewordene Generalstabschef hatte seinen Führungsanspruch innerhalb der Staatsklasse durch Tebbounes «Wahl» zwar unmissverständlich deutlich gemacht, sich damit aber nicht nur Freunde gemacht. Mehrere hochrangige und als Vertraute Gaïd Salahs geltende Militärs verließen kurz nach dessen Tod das Land, anderen wurde vor Militärgerichten der Prozess gemacht.

Welche Rolle der neue starke Mann des algerischen Militärestablishments – Generalstabschef Saïd Chengriha – heute spielt und welche Ambitionen er verfolgt ist derweil weiter unklar. Unter seiner Ägide gehen die Justizbehörden zwar weiter gegen ehemalige Bouteflika-Verbündete vor, ließen jedoch andere wieder auf freien Fuß. Mediènes Clan scheint derweil hinter den Kulissen zumindest partiell rehabilitiert worden zu sein. Chengriha hat damit durchaus Optionen, Tebboune trotz seiner formell führenden Position als Staatspräsident unter Druck zu setzen und die Interessen des Armee- und Geheimdienstapparates auch regimeintern sicherzustellen. Die Parlamentswahl und die bevorstehende Koalitionsbildung sind auch deshalb für das regimeinterne Tauziehen zentral, da sie als Instrument dienen könnten, innerhalb der Staatsklasse einem neuen Burgfrieden den Weg zu ebnen. Misslingt die regimeinterne Kompromissfindung zwischen Tebboune und Chengriha, wäre auch ein Eingreifen der Armee denkbar. Die Tatsache, dass Chengriha 2020 mehrfach in zivil vor algerische TV-Kameras trat während sich Tebboune monatelang in einem deutschen Krankenhaus behandeln ließ, könnte auch als Kampfansage verstanden werden.

Am Scheideweg: Militärdiktatur oder neuer Aufwind für den Hirak?

Noch ist die revolutionäre Dynamik in Algerien nicht erloschen. Doch Hirak und Opposition läuft angesichts der offenbar erfolgreich kanalisierten Fehden innerhalb der Machtelite langsam die Zeit davon. Die Parlamentswahlen haben glasklar gezeigt, dass das Regime trotz massivem Wahlboykott konsequent an seiner kompromisslosen Linie festhält und Konzessionen an Algeriens Opposition nicht mehr für nötig hält. Die anhaltende Schwäche des Hirak auf Algeriens Straßen lässt die Staatsklasse selbstbewusster auftreten und sich in Sicherheit wiegen. Die reorganisierte Staats- und Militärführung scheint fest entschlossen zu sein, die eigenen politischen und wirtschaftlichen Privilegien um jeden Preis zu verteidigen und für diesen Zweck selbst eine offene Konfrontation in der Kabylei in Kauf zu nehmen.

Aufstachelnde und provozierende Wortmeldungen seitens hochrangiger Vertreter*innen der Armee und ziviler Regimefraktionen gegenüber der traditionell rebellischen Region, die schon im Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich und im Bürgerkrieg der 1990er Jahre eine Schlüsselrolle spielte, sind demnach zwar gefährlich, werden aber offenbar gezielt lanciert und instrumentalisiert, um Hirak und Opposition zu spalten und damit zu schwächen und langfristig die Monopolisierung der Einnahmen aus dem Erdöl- und Erdgasexport in den Händen der Staatsklasse sicherzustellen. Für den Hirak bedeutet das zweifelsfrei: Die Bewegung muss um jeden Preis aus ihrer Lethargie erwachen und den öffentlichen Raum zurückerobern. Vor allem brauche der Hirak aber Strukturen, erklärt Prof. Dr. Rachid Ouissa von der Universität Marburg kurz nach den «Wahlen» in einem Interview und verweist auf die Debatte über die Formierung einer «provisorischen Regierung», deren Einrichtung nicht nur ein «gewaltiger Schritt», sondern eine «Kampfansage» an das Regime wäre.

«Die Repression hat den Hirak daran gehindert, eine Zusammenarbeit mit dem Regime überhaupt in Erwägung zu ziehen», heißt es derweil in einer Analyse des Kairoer Instituts für Menschenrechtsstudien (Cairo Institute for Human Rights Studies, CIHRS). Das Zusammenwirken von Corona-Pandemie, eines «geschlossenen politischen Systems» und «Einschränkungen des bürgerlichen Raumes» hätten jedweden Versuch des Hirak, sich intern besser zu koordinieren und eine strukturierte Bewegung aufzubauen, verunmöglicht, so das CIHRS. Heute gelten lediglich die Kabylei und die äußerst aktive algerische Diaspora in Europa und Nordamerika als Aktivposten der Bewegung. Um Algeriens Staatsklasse aber wie schon Anfang 2019 unter ernstzunehmenden Druck zu setzen oder gar zu ins Wanken zu bringen, braucht es mehr.

Für die bevorstehenden Entwicklungen in dem in einer Sackgasse feststeckenden Land dürften zwei Faktoren von übergeordneter Bedeutung sein; Die Unterstützung europäischer Staaten für das Militärregime in Algier und die Art und Weise, in der sich die soziale und sozioökonomische Krise früher oder später in Streiks und Sozialprotesten entladen wird. Schafft es der Hirak, Streikbewegungen aktiv zu integrieren, könnte auch die Opposition wieder an Boden gewinnen und abermals wirkungsmächtige Dynamiken in den Straßen lostreten. Heftige sozial Proteste waren 2017 und 2018 dem Massenaufstand gegen Bouteflikas Regime vorausgegangen und verschärfen sich seit Ende 2020 erneut massiv. Die jüngst wieder aufgeflammten Proteste der Bewegung der Arbeitslosen im südalgerischen Ouargla im März oder die Demonstrationen von Angestellten der Feuerwehr, deren Protestmärsche in Algier im Mai von der Polizei gewaltsam auseinander getrieben wurden, zeigen unmissverständlich auf, dass der zivile Widerstand gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Regimes das Potential hat, die Machtelite erneut herauszufordern. Dass das Regime Sozialprotesten durchaus Bedeutung beimisst, zeigt ein im Mai in der Militärzeitung El Djeich erschienener Artikel, der die Streiks der Feuerwehrleute als «verdächtig» und als «Komplott» von dem Land «feindlich» gegenüberstehenden Kräften bezeichnete.

Doch auch Algeriens Staatsklasse hat sich auf ein weiteres Kräftemessen mit Hirak und Opposition vorbereitet und kann sich der bisher eher im stillen geäußerten Unterstützung europäischer Staaten sicher sein. Trotz Massenaufstand haben Algeriens Polizeibehörden seit 2019 fast ohne Unterbrechung in großem Stile afrikanische Einwanderer*innen und Flüchtlinge unter eklatanter Missachtung internationalen Menschen- und Flüchtlingsrechts nach Niger und Mali abgeschoben und sich damit als verlässlicher Partner Europas in Sachen europäischer Migrations- und Grenzauslagerungspolitik positioniert. Ganz nach dem Vorbild der Türkei und Ägyptens kann sich das Regime in Algier sicher sein, dass Menschenrechtsverstöße gegen die eigene Bevölkerung seitens europäischer Regierungen nur eingeschränkt skandalisiert werden dürften, sofern Algeriens Sicherheitsapparat an seiner illegalen Abschiebepraxis festhält.

Das Regime um Staatspräsident Tebboune und Generalstabschef Chengriha ließ im November 2020 zudem eine Verfassungsreform durchdrücken, mit der sich die Staatsklasse neue Handlungsoptionen schuf. Die Verfassungsrevision erlaubt es Algerien erstmals in seiner Geschichte, Soldat*innen ins Ausland zu schicken. Dieser Tabubruch eröffnet vor allem Frankreich und Deutschland die Option, eigene in der krisengeschüttelten Sahel-Region – vor allem in Niger und Mali – stationierte Truppen zurückzuziehen und durch algerische Einheiten ersetzen zu lassen. Kurz nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Ende der blutigen Barkhade-Operation in der Region verkündet hatte und fast zeitgleich mit den Parlamentswahlen in Algerien reiste Chengriha für Konsultationen über die Sicherheitslage in Mali nach Paris. Während sich Algeriens Verteidigungsministerium zwar empört über Berichte zeigte, die den Besuch als «Geheimmission» bezeichneten, ist der Zeitpunkt von Chenrihas Visite in Frankreich zumindest suspekt. Gerüchte über den angeblich von Frankreich bereits vorangetriebenen Bau einer Militärbasis in Mali für Algeriens Armee sind dabei Wasser auf den Mühlen entsprechender Spekulationen.