Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Rassismus / Neonazismus 10 Jahre nach dem Massaker von Utøya

Mit einem der Überlebenden des Anschlags sprechen wir über rechten Terrorismus damals und heute.

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Bjørn Ihler überlebte den Terroranschlag von 2011 und gründete danach das Khalifa Ihler Institute, eine globale Organisation zur Friedensförderung, die sich dem Aufbau und der Stärkung von blühenden und inklusiven Gemeinschaften widmet.

77 Menschen fielen vor zehn Jahren am 22. Juli 2011 in Norwegen einem rechten Attentäter zum Opfer. Zahlreiche Nachahmer und Bewunderer des Mörders beziehen sich mit ihren rechten Terroranschlägen direkt oder indirekt auf den Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel, dem acht Menschen zum Opfer fielen, und das Massaker an 69 jungen Angehörigen der sozialdemokratischen Parteijugend auf der Ferieninsel Utøya zwei Stunden später. Die Triebfeder der Tat ist eine Ideologie weißer Überlegenheit, White Supremacy, die sich im Abwehrkampf gegen «Kulturmarxismus», Islam und «fremde Einflussnahme» sieht.  Mit dem Überlebenden des Anschlags auf Utøya, Bjørn Magnus Ihler, hat sich Friedrich Burschel, Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit, über die Tat und darüber unterhalten, was seither auf dem Gebiet rechten Terrorismus‘ geschehen ist und was eine Gesellschaft dagegen tun kann.

Wie blickst du als Überlebender des Terroranschlags von Utøya und Oslo zurück auf den 22. Juli vor zehn Jahren zurück?

Es ist wichtig, dass wir der Opfer des Terroranschlags von 2011 gedenken – nicht, weil es genau ein Jahrzehnt her ist, sondern, weil wir uns daran erinnern und daraus lernen müssen. Nur so können wir verhindern, dass solche Dinge immer wieder passieren. Die Leute sagen zwar «Nie wieder», leben ihr Leben dann aber weiter, als wäre nichts passiert. Für mich ist diese Gedenkfeier nicht nur wegen des Schmerzes, des Leids und der verlorenen Menschenleben am 22. Juli 2011 von Bedeutung. Sie steht auch für unser Versagen, den Anspruch des «Nie wieder» durchzusetzen. Wir haben es nicht geschafft, künftige Generationen darüber aufzuklären, was an diesem Tag geschah, um gemeinsam zu verstehen, wie der Hass von Breivik Wurzeln schlagen und in einen schrecklichen Terrorakt in Norwegen münden konnte. Wir haben keine Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiert. Und tatsächlich sind solche Ereignisse wieder passiert: Nur wenige Kilometer von Breiviks Wohnort entfernt tötete 2019 ein Mann seine adoptierte asiatische Stiefschwester und drang anschließend bewaffnet in die Moschee des Ortes ein, im Versuch gezielt Menschen zu töten. Wir haben versagt, als der Schütze von Christchurch, der Terrorist von Halle, der Schütze in El-Paso und andere an vielen weiteren Orten zu den Waffen griffen. Wir müssen uns daran erinnern, neue Wege finden, solche Anschläge in Zukunft zu verhindern und den Kampf gegen die extreme Rechte weltweit fortzusetzen – in Gedenken an den Tag, an die Opfer und die Überlebenden.

Bjørn Ihler ist geschäftsführender Direktor und Mitbegründer des Khalifa-Ihler-Instituts. Er ist ein international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Prävention einer Radikalisierung hin zu einem gewalttätigen Extremismus. Grundlage seiner Arbeit sind Maßnahmen zur Förderung gesünderer Gemeinschaften im Internet und darüber hinaus.

Jeder kennt den Namen des Täters, doch fast niemand außerhalb des engeren Kreises der Betroffenen und ihrer Familien, Verwandten und Freund*innen kennt den Namen auch nur eines einzigen Opfers. Verfügen wir überhaupt über Rituale, um der Opfer rassistischen Terrors auf würdige Weise zu gedenken? Selbst in Gerichtsprozessen stehen die Mörder im Vordergrund.

Im Hinblick auf das Gedenken haben wir deutlich versagt. Selbst das Vorhaben, in Norwegen eine nationale Gedenkstätte in der Nähe von Utøya zu errichten, steckt seit beinahe 10 Jahren in einem verfahrenen politischen Prozess fest. Und noch immer warten wir auf den ersten Spatenstich für das Projekt. Umfragen unter Lehrer*innen haben in den letzten Jahren ergeben, dass ihre Schüler*innen kaum etwas über den Angriff wissen. Das ist sehr beunruhigend, nicht nur, weil es von mangelndem Respekt gegenüber den Opfern zeugt, sondern auch, weil Allgemeinwissen und Bildung, die durch Gedenkstätten verschiedener Art vermittelt werden sollten, die Grundlage dafür sind, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Dass ein Mann 2019 seine asiatische Adoptivschwester ermordet und anschließend erfolglos versucht hat, einen Anschlag auf eine Moschee in der Nähe von Oslo zu verüben, zeigt, dass wir in dieser Hinsicht versagt haben. Immer wieder versäumen wir es, der Opfer solcher Anschläge zu gedenken und damit den Kontext der tatsächlichen Beweggründe für die Anschläge zu beleuchten und ein Verständnis für sie zu entwickeln. Denn ideologisch stehen die Täter oft nicht weit von einem politischen Mainstream, der immer weiter nach rechts abdriftet.

Hat das Massaker in Norwegen etwas verändert? Gibt es neue Ansätze im Umgang mit solchen Gräueltaten? Haben Sicherheitsinstitutionen ein neues Bewusstsein für diese Art von Terrorismus durch Faschist*innen, Nazis, Rassist*innen oder wie auch immer? Hat sich der gesellschaftliche Diskurs seitdem verändert?

2011 hätte ein Augenöffner sein können, aber viele fanden Trost in dem Glauben, dass es sich bei dem Täter um einen «einsamen Wolf» handelte. Viele waren überzeugt, dass Breivik ein Einzelgänger war, der nun keinen Schaden mehr anrichten konnte. Niemand betrachtete ihn im Kontext der internationalen extremistischen/terroristischen Szene. Nach dem Prozess hat Norwegen den Fokus schnell wieder auf den islamistischen Terror als die «wahre» Bedrohung gelegt. Dieser Fokus wurde durch die Taten des IS in Europa untermauert und hat natürlich auch den Diskurs zur sogenannten «Migrationskrise» mitbestimmt, in dem Migrant*innen oft verdächtigt wurden, mit jenen Terrorist*innen verbündet zu sein, vor denen sie flohen. All das hat die etablierten extrem rechte Narrative weiter befördert. Eine weitere Folge war, dass nur wenige Schritte unternommen wurden, um den Terrorismus als inhärentes innerstaatliches Problem anzugehen, das in Norwegen auch auf lokaler Ebene gesehen und angegangen werden musste. Das hat wiederum den Nährboden für den extrem rechten und islamistischen Terrorismus geschaffen, der sich in Norwegen entwickelte. Norwegen wurde so zu einem Nettoexporteur von Terrorist*innen (die sich dem IS, der neonazistischen Asow-Miliz und anderen Gruppierungen anschlossen). Aufgrund dieser Verschiebungen und der fehlenden Selbstreflexion hat sich der politische und gesellschaftliche Diskurs in Norwegen weiter maßgeblich nach rechts bewegt. Die Parteien in ganz Europa sind diesem Trend gefolgt, denn Islamophobie und eine Angst vor Migration, die der von Breivik und anderer Verschwörungstheorien wie dem «großen Austausch» entspricht, haben die Politik im letzten Jahrzehnt entscheidend mitbestimmt.

Welche Rolle spielt das Internet bei der aktuellen Eskalation des Rechtsterrorismus?

Das Internet schafft Verbindungen – auch innerhalb der extremen Rechten. Diese nutzt es als Inspirationsquelle, als «Lernressource» und als Werkzeug, genau wie viele andere auch. Das «Problem» des Internets ist nicht unbedingt das Internet selbst, sondern die Art und Weise, wie es inhärent und durch seine beabsichtigte Funktionsweise einige der schlimmsten Aspekte menschlichen Verhaltens verstärkt und sich zunutze macht. Social-Media-Plattformen kämpfen um unsere Aufmerksamkeit (in erster Linie, um Dinge mittels Werbung zu verkaufen) und sind so konzipiert, dass sie süchtig machen. Wir sollen aktiv und engagiert bleiben. Wir bekommen daher selten Informationen zu sehen, die nicht aus unserer eigenen «Blase» stammen. Das führt zu einer Reihe von Problemen, da wir größtenteils mit homogenen Weltanschauungen und Informationen in Kontakt kommen. Dies verstärkt Glaubenssysteme wie Verschwörungstheorien und rechtsextreme Ideologien, denn diese erfahren keinen Widerspruch. Gleichzeitig vermitteln solche einseitigen Informationen den falschen Eindruck, dass «jede*r» dasselbe glaubt, fühlt und weiß – ein wiederkehrendes Muster bei Extremist*innen weltweit. Die Plattformen buhlen außerdem um unsere Aufmerksamkeit, indem sie skandalöses Verhalten fördern, da geteilte Inhalte, die «Reaktionen» erhalten, regelmäßig an andere Nutzer*innen weitergeleitet werden. Als Menschen reagieren wir von Natur aus auf Dinge, die unserer Meinung nach die Grenzen des Anstands überschreiten, und so führt dieses Merkmal bestimmter Online-Plattformen zu dem, was man als «Kultur des Infamen» bezeichnen kann: Infame Inhalte werden zur Norm und es entsteht ein toxisches Umfeld. Darüber hinaus ermöglicht uns das Internet, extrem wählerisch zu sein, mit wem wir interagieren. Wir Menschen sind so beschaffen, dass wir uns mit Gleichgesinnten wohlfühlen, mit Menschen, die so aussehen und denken wie wir. Das Internet hat diese Form der Selbstisolation möglich gemacht (die durch das Corona-Virus noch verstärkt wird), was die allgemeine Isolation weiter verschärft. Dies führt auch dazu, dass einige Nutzer*innen ihre «Gemeinschaft» in Online-Subkulturen wie den Chan-Foren (8chan/4chan usw.) finden, wo Hass, getarnt als «Ironie», die Norm ist. Die Nutzer*innen gewinnen hier an Status, indem nicht nur ihre geteilten Inhalte in den Foren infam sind, sondern auch ihr Offline-Verhalten. Toxische Männlichkeitsbilder und selbst Massenmörder und Terroristen wie Breivik werden für ihre Taten als Helden gefeiert.

Beileidsbekundungen am Ufer des Tyrifjord nach dem Attentat. CC BY-SA 3.0, Foto: Paal Sørensen

Die meisten Täter*innen werden, wie im Norwegischen Fall, als «einsame Wölfe» oder «Einzeltäter» bezeichnet. Manche treten dieser Sichtweise entgegen, vor allem mit Verweis auf das Internet … Wie siehst du das?

Der Begriff «einsamer Wolf» ist antiquiert und schädlich, da keine der damit beschriebenen Personen «einsam» oder ein «Wolf» ist – sie sind Terrorist*innen. Ein Schwerpunktbereich meiner Arbeit war, die Verflechtungen der extremen Rechten weltweit aufzuzeigen. Es mögen zwar Einzelpersonen sein, die handeln, doch tun sie dies mit der Unterstützung Tausender Menschen in bestehenden Netzwerken. Die Tatsache, dass diese Netzwerke in erster Linie online existieren und bis zu einem gewissen Grad über die ganze Welt verteilt sind, ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um Tausende von Menschen aus Fleisch und Blut handelt, die den Terrorismus unterstützen, bewundern und verstärken sowie terroristische Handlungen planen, vorbereiten und ausführen. Es handelt sich in der Tat um internationale terroristische Organisationen. Bezeichnen wir Terrorist*innen jedoch als «einsame Wölfe», können wir, die Sicherheitsdienste und die Gesellschaft sie nicht als Terrorist*innen erkennen. Dies hat Auswirkungen auf das Justizsystem, wo sich das Strafmaß für «inländischen Terrorismus» oft von dem des «internationalen Terrorismus» unterscheidet. Das heißt, innerhalb der Staatsgrenzen werden mildere Strafen verhängt und weniger strenge Sicherheitsmaßnahmen gegen Terrorist*innen durchgesetzt, die ihre Taten mit der Ideologie der faschistischen extremen Rechten begründen. Wölfe sind außerdem tolle Tiere und verdienen es nicht, zum Vergleich mit diesen Terrorist*innen herangezogen zu werden.

Wir können beobachten, wie diese Attentäter auf internationaler Ebene aufeinander Bezug nehmen. Der Täter aus Norwegen schrieb einen Brief an die Angeklagte im NSU-Prozess in München; der Mann, der 2016 neun Menschen im Olympia-Einkaufszentrum in München tötete, bekundete seine Bewunderung für den Täter aus Norwegen; der antisemitische Angreifer in Halle orientierte sich an dem Christchurch-Attentäter und filmte seine Tat mit einer Helmkamera. Eine Gruppe von Rassisten aus Deutschland, die Anschläge auf muslimische Gebetsräume planten, um einen Bürgerkrieg in Deutschland anzuzetteln, hatten Teile des mit Helmkamera gefilmten Videos der Tat des Halle-Attentäters auf ihrem Motherboard: Was vereint diese Fanatiker*innen, was lässt sie glauben, dass ihre Zeit gekommen ist und dass die Gesellschaft ihnen für ihren «Kampf» danken könnte?

Die Terrorist*innen orientieren sich bei ihren Taten aneinander und bestärken sich gegenseitig. In bestimmten Gemeinschaften werden sie als Held*innen verehrt. Die meisten von ihnen sind Menschen, denen es außerhalb solcher Umgebungen nicht gelungen ist, ein Gefühl der Wertschätzung zu erfahren. Für den Griff zur Waffe ist daher die Suche nach Anerkennung innerhalb ihrer Gemeinschaften eine zentrale Motivation. In solchen Gruppen werden Terrorist*innen als «Ritter», als «Kämpfer» und zuweilen auch als «Märtyrer» für ihre Vision eines kommenden Krieges angesehen. Das Ganze geht mit den unterschiedlichsten Facetten einher, sowohl bezogen auf die Kreuzritter-Erzählung eines Breivik, als auch auf die Narrative, die als Brandbeschleuniger auf dem Weg zu einem «neuen Bürgerkrieg» wirken sollen, wie sie verstärkt von jenen verbreitet werden, die engere Verbindungen zur US-amerikanischen Rechten pflegen. Fundamental für manche dieser Erzählungen ist die Verschwörungstheorie eines zukünftigen «Eurabiens», bei dem Muslim*innen Europa erobern wollen, das dann unter islamischer Herrschaft stehen soll. Eine Variante davon ist die Theorie des «großen Austauschs», wonach nicht-weiße Menschen eine existenzielle Bedrohung für weiße Menschen weltweit darstellen – passend zur klassischen rassistischen Vorstellung, die eine Rettung der «weißen Rasse» vorsieht. Es sind diese Verknüpfungen und Ähnlichkeiten, weshalb ich in meiner Arbeit diese Akte der Gewalt als eine Form des «rassistischen Rechtsterrorismus» bezeichne, ob sie nun dezidiert auf rassistischer Ideologie gründen oder eher vage Vorstellungen einer «weißen Kultur» propagieren, wie etwa die Idee, «Europa vor dem Islam zu retten». Denn in beiden Fällen basieren solche Konzepte auf einer jahrhundertealten rassistischen Diskriminierung sowie auf euro- bzw. Weißen-zentrischen Formen von Hass und Angst – aus der eigenen Stellung als «Herrscher der Welt» verdrängt zu werden, die alle aus der verheerenden Zeit der großen Imperien und Kolonialreiche stammen, in denen Europäer*innen den Rest der Welt des Profits wegen versklavten.

Der Täter von Halle schrieb in seinem Manifest, dass die Emanzipation der Frau und der Feminismus in weißen Gesellschaften für die niedrigen Geburtenraten verantwortlich seien. Und das sei auch der Grund, warum «fremde» Bevölkerungsgruppen herangeführt würden, um die schrumpfende weiße Bevölkerung auszutauschen. Hinter diesem Plan stecke letztendlich «der Jude». Welche Rolle spielt Misogynie in dieser rassistischen Ideologie?

Misogynie spielt bei allen Formen von Extremismus eine zentrale Rolle, die sich durch eine gewaltsame Ablehnung von Diversität definieren, da Frauen (korrekterweise) als essenziell für die Fortpflanzung angesehen werden. Dies spiegelt sich auch in ideologischen Aspekten des klassischen Nazismus wider, wo die Rolle von Frauen hauptsächlich auf das Gebären und Aufziehen von Kindern reduziert wurde. Frauen hätten diese Verantwortung für die eigene «Rasse» zu tragen. Dies gilt insbesondere in jenen Varianten der Theorie des «großen Austauschs», die – wie im Fall des Täters von Halle und anderen – häufig mit einer antisemitischen Komponente einhergehen. Incels sind stärker auf Fragen der sexuellen Frustration fokussiert denn auf «rassische Reinheit», obgleich es durchaus Schnittmengen zwischen beiden gibt. Incels glauben ebenfalls, dass Frauen als «Besitz» angesehen werden und keine Rechte über ihren eigenen Körper und ihr reproduktives System haben sollten. Des Weiteren glauben sie an die «traditionelle Rolle von Frauen» – vornehmlich die Rolle als Hausfrau/Dienerin für Männer – während Männer als das dominante Geschlecht gelten. Auch hier geht es um eine Philosophie, die sich um die Vorherrschaft einer Gruppe dreht: die eines bestimmten Geschlechts. Die verweigerte Diversität bezieht sich in diesem Fall auf Frauen, auf Menschen mit abweichenden Geschlechtsidentitäten oder sexueller Orientierung sowie auf Feministinnen, die häufig als der Hauptfeind angesehen werden. Obgleich es sich bei Incels/Antifeministen und Rassist*innen um zwei verschiedene Phänomene handelt, gibt es immer wieder Überschneidungen. Tatsächlich sind es zwei sich keineswegs ausschließende Varianten einer Vorherrschaftsideologie, wie auch aus zahlreichen Beispielen hervorgeht, in denen Verfechter*innen einer weißen Vorherrschaft Ansichten vertreten, die mit denen von Incels übereinstimmen.

Mit eurem Khalifa-Ihler-Institut führt ihr auch eine weltweite Bestandsaufnahme des rassistischen Terrorismus durch: Was ist das Ziel dieses Projekts?

Das Khalifa-Ihler-Institut ist eine kleine Organisation, deren Arbeit darauf ausgerichtet ist, gesündere und friedvollere Gemeinschaften aufzubauen. Wir glauben, dass Diversität zur Stärkung von Gemeinschaften beiträgt. Gleichheit vor dem Gesetz ebenso wie die Achtung der Menschenrechte spielen dabei eine zentrale Rolle. Bei diesem Bestreben stellt sich das Khalifa-Ihler-Institut der Gewalt und dem Terrorismus von Rassist*innen und Rechtsextremen entgegen, sowohl indem wir Abwehrstrategien entwerfen und Gemeinschaften beim Ergreifen präventiver Maßnahmen gegen eine Radikalisierung unterstützen, als auch durch das Mapping und Monitoring von rechtsextremen Aktivitäten weltweit. Ziel dieser Bestandsaufnahme ist es, das tatsächliche Ausmaß an Gewalt und Gewaltandrohungen, die von der extremen Rechten ausgehen, zu belegen sowie die internationalen Netzwerke und Verknüpfungen aufzuzeigen, die hinter diesen Terrorakten stehen. Wir haben die Hoffnung, dass dieses Wissen dazu beiträgt, dass Entscheidungsträger*innen, Gesetzgeber*innen und andere Gruppen ein besseres Verständnis des Kontextes der extremen Rechten erlangen, um das Ausmaß und die globale Natur des Problems realistisch einschätzen zu können.

Was können Gesellschaften und Zivilgesellschaften tun, um sich einer solch inhumanen und mörderischen Theorie und Praxis entgegen zu stellen? Wie können wir faschistische und rassistische Einstellungen und Organisierungsbemühungen in Europa, aber auch weltweit bekämpft? Was müssen wir tun?

Wenn es etwas gibt, das wir in den letzten zwei Jahren gelernt haben, dann, dass vorbeugende Maßnahmen in Form von Impfungen die einzige Methode zur Bekämpfung einer Pandemie sind. Rassismus und Faschismus müssen wir ebenfalls auf systemischer Ebene bekämpfen und aus den Strukturen herausdrängen, die für unsere Gesellschaften bestimmend sind. Darüber hinaus gilt es aber auch, von Grund auf gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die inhärent antirassistisch und antifaschistisch sind. Das tun wir, indem wir nicht nur «Toleranz» predigen, sondern Gemeinschaften aufbauen, in denen Menschen ermutigt werden, sich Intoleranz und Hass entgegenzustellen, in denen Menschen das nötige Selbstvertrauen haben, um sich nicht durch die Identitäten anderer bedroht zu fühlen, in denen Diversität nicht als Beigabe begriffen wird, sondern als bereichernder Wert, der inhärenter Bestandteil unserer Gemeinschaften sein sollte und es uns ermöglicht, unser Blickfeld zu erweitern, inspiriert zu sein, anders zu denken und zu wachsen. Dafür müssen wir mit allen Mitgliedern der Gesellschaft zusammenarbeiten. Ich persönlich habe viel mit Schulen gearbeitet, aber es würde mich auch faszinieren, mit städtischen Angestellten zu kooperieren, mit Menschen aus der Zivilgesellschaft sowie mit anderen, die in ihren jeweiligen Gemeinschaften über Glaubwürdigkeit und Reichweite verfügen, um gemeinsam Strategien zur Verbreitung dieser Werte zu erarbeiten. Auf der politischen Ebene lässt sich konstatieren, dass Parteien, die vormals im Mitte-Links-Spektrum zu verorten waren, ihr Fähnchen nach rechts gewendet haben. Aus Angst, Stimmen zu verlieren, verzichten sie darauf, gangbare Alternativen aufzuzeigen, und beziehen ihre Inspiration verstärkt aus einer populistischen, rassistischen und anti-migrantischen Agenda. Im letzten Jahrzehnt ist dies ein durchgängiges Problem für die Linke gewesen. Unsere Alternative für das kommende Jahrzehnt sollte jedoch klar sein: das Eintreten für den Aufbau gesunder, friedvoller und diverser Gemeinschaften auf Grundlage von Gleichheit, Freiheit und Pluralität für alle.

Der globale Trend hin zu illiberalen Formen von «Demokratie», hin zu rechtsgerichteten, populistischen und autoritären Regierungen begann etwa um die Zeit des Massakers in Norwegen Fahrt aufzunehmen. Seitdem haben wir einen ungeheuerlichen rechten Rollback erlebt: Was ist hier los? Ist das der Anbeginn eines neuen faschistischen Jahrhunderts?

Ich denke, dass wir es mit einem Zusammenspiel verschiedenster Phänomene zu tun haben. Aber noch können wir dafür sorgen, dass das 21. Jahrhundert kein weiteres faschistisches Jahrhundert wird.

Das globale Wachstum rechtsextremer Bewegungen in den 2010er Jahren steht stellvertretend für etwas, das ich einen perfekten Sturm nenne: Die Finanzkrise führte uns in dieses Jahrzehnt, angefacht durch ein weitverbreitetes Gefühls des Zurückgelassen-Werdens, insbesondere unter Teilen der weißen Mittelschicht im Westen. Dieses Gefühl wird durch den wachsenden Einfluss der sozialen Medien potenziert, die eine neue Form eines sich selbst verstärkenden Propagandakrieges durch Populist*innen befördert haben. Das Vakuum, das im Rahmen des «Frühlings der Würde» in Nordafrika und dem Nahen Osten und den darauffolgenden Bürgerkriegen entstand, war der Nährboden für das Wachstum des IS und veranlasste viele Menschen, die gefährliche Reise über den Ozean in Kauf zu nehmen, um ein Leben in Frieden in Europa aufzubauen. Im Nachgang des lange währenden «Krieges gegen den Terror» waren nativistische und anti-muslimische Stimmungen bereits sehr stark; aber in diesem perfekten Sturm wurden sie noch stärker. Das ganze Projekt der Globalisierung und der internationalen Zusammenarbeit, für die unter anderem die Europäische Union steht, war mit einem Mal in Frage gestellt und euroskeptische Kräfte konnten erstarken. Andere wiederum vernachlässigten ihre internationalen Verpflichtungen, wie etwa die Türkei und die Vereinigten Staaten. Angesichts eines Gefühls der Unsicherheit scheinen viele Menschen sich automatisch Faschismus und Autoritarismus zuzuwenden – als eine Art Sicherheitsanker. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine verlockende Falle, aufgestellt von «Führergestalten», die diese Unsicherheit für sich ausnutzen. In der Folge kommt es zu einer Diskursverschiebung, bei der Autoritäre selbst in demokratischen Gesellschaften immer mehr Raum bekommen. Diese Führergestalten greifen auf eine rechtsextreme Rhetorik zurück, um ihre Kampagnen in Richtung einer autoritären Herrschaft zu drängen, die auf einer sehr losen Bedeutung des Konzepts «Demokratie» basiert, nämlich verstanden im Sinne einer «Herrschaft des Mehrheitsmobs» statt eines Systems der wechselseitigen Kontrolle, mit dem alle Bürger*innen, einschließlich der Minderheiten, geschützt werden und die Regierenden zur Verantwortung gezogen werden können.

Die politische Landschaft verändert sich jedoch zurzeit, und wir sehen immer stärkeren Widerstand gegen solche autoritären Figuren. Wichtige Wahlen wie die in Israel oder den USA geben Anlass zur vorsichtigen Hoffnung. Bewegungen, wie jene für die Rechte Schwarzer US-Amerikaner*innen, für die Rechte von Frauen sowie für die Rechte von LGBTQI*-Menschen haben es satt und gewinnen gerade im Angesicht der Repression an Kraft. Ich hege die Hoffnung, dass wir bereit sind, diese Dynamik zu nutzen, um eine realistische, alternative linke politische Philosophie aufs Tapet zu bringen, statt einfach zuzulassen, dass die parlamentarische Linke, wie sie es zu lange getan hat, einfach den Pfaden der autoritären Rechten folgt.