Nachricht | Gesellschaftliche Alternativen - Kapitalismusanalyse - Westeuropa - Griechenland Man muss schon richtig lesen können

James K. Galbraith zum Deal mit Griechenland

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Als am Freitag, den 20. Februar, die ersten Meldungen über die in Brüssel erzielte Einigung durchdrangen, erklärte sich Deutschland zum Sieger, und es überrascht nicht, dass der Großteil der Presse diese Behauptung übernahm. Ihre Quellen, auf die sich verlassen und die sie zitieren, sind vermeintliche Autoritäten. Auf diese Weise etwa berichtete die Tageszeitung The Independent aus London: «Eine Reihe von Analysten stimmt darin überein, dass die Ergebnisse der Verhandlungen eine demütigende Niederlage für Griechenland bedeuten.» Es folgten keinerlei weitere Angaben, die Analysten sowie ihre institutionelle Anbindung blieben ungenannt – obwohl weiter unten im Text zwei von ihnen zitiert werden. Und siehe da: Beide arbeiten für Banken. Man könnte, wenn man wollte, noch viele weitere solcher Beispiele von beiden Seiten des Atlantiks anführen.

Bei der US-amerikanischen Zeitschrift The New Yorker verhält es sich anders. Es handelt es sich hierbei um ein unabhängiges Magazin mit einem außergewöhnlichen Renommee, das sich an eine spezielle Zielgruppe richtet. Ihr Wirtschafts- und Finanzredakteur John Cassidy gilt als analytischer Geist. Die Leser tendieren dazu, das, was er schreibt, ernst zu nehmen, und wenn er mit etwas falsch liegt, dann ist das nicht ganz unwichtig. Cassidys Einschätzung der Verhandlungen erschien unter der Überschrift «Wie Griechenland ausmanövriert wurde», und sein Aufmacher enthält folgenden Satz: «Griechenlands neue Linksregierung unter der Führung von Syriza hat seit Wochen verkündet, sie werde keinen Antrag auf Verlängerung der laufenden Hilfsmaßnahmen stellen, sondern wolle ein neues Kreditabkommen, das ihnen Handlungsspielraum verleiht, wodurch der erzielte Deal als eine Kapitulation aufseiten von Syriza erscheint und als Sieg für Deutschland und den Rest des EU-Establishments.»

Tatsächlich hat niemals die Aussicht auf ein neues Kreditabkommen bestanden, zumindest nicht auf eins, das Griechenland völlig freie Hand gelassen hätte. Kreditverträge sind immer an Bedingungen geknüpft. Die einzige Alternative für die Griechen bestand daher zwischen einer Vereinbarung, verbunden mit Auflagen, oder keinerlei Vereinbarung. Und die Entscheidung hierfür musste vor dem 28. Februar fallen, dem Tag, an dem die Unterstützung der griechischen Banken durch die Europäische Zentralbank auslaufen sollte. Wenn es zu keinerlei Abmachung gekommen wäre, hätte das für Griechenland bedeutet: Einführung von Kapitalverkehrskontrollen oder Zusammenbruch der einheimischen Banken, Zahlungsunfähigkeit sowie ein frühzeitiges Ausscheiden aus der Eurozone. Syriza ist nicht angetreten und gewählt worden, um die Beziehung des Landes zu Europa zu kappen. Deswegen musste die Regierung, um ihrem Wahlversprechen gerecht zu werden, das Verhältnis zwischen Athen und Europa auf eine Art und Weise «verlängern», die für beide Seiten akzeptabel ist.

Aber was genau sollte verlängert werden? Es gab diesbezüglich zwei Formulierungen, die in den Verhandlungen eine Rolle spielten (die vage Forderung nach einer «Verlängerung der Hilfsmaßnahmen» gehörte nicht dazu). In den Troika-Dokumenten war von «einer Verlängerung des laufenden Programms» die Rede, was die Akzeptanz der bestehenden Auflagen und Bedingungen beinhaltete. Für die neue griechische Regierung kam dies nicht infrage. Demgegenüber war für sie die in technischer Hinsicht treffendere Formulierung «Verlängerung des Kreditabkommens» weniger problematisch. Das Abschlussdokument verlängert nun das «Master Financial Assistance Facility Agreement» (MFFA), was für sie sogar noch besser ist. Das MFFA «geht einher mit einer Reihe von Verpflichtungen», die formal betrachtet aber von diesem getrennt sind. Kurzum: Man hat sich auf eine Verlängerung des MFFA geeinigt, aber über die damit verbundenen Auflagen wird neu beraten.

Zudem hatte das griechische Verhandlungsteam in einem Kommuniqué-Entwurf des Eurogruppenchefs Jeroen Dijsselbloem am Montagnachmittag das herrliche Wort «Arrangement» entdeckt, das von nun an hemmungslos zur Anwendung kam. Das Dokument vom Freitag ist in dieser Hinsicht ein Meisterwerk: «Der Zweck der Verlängerung ist es, die Überprüfung auf der Grundlage der im gegenwärtigen Arrangement geltenden Bedingungen erfolgreich abschließen zu können, wobei die vorhandene Flexibilität in enger Abstimmung mit den griechischen Regierungsvertretern und Institutionen optimal zu nutzen ist. Diese Verlängerung soll zudem der Überbrückung dienen und Zeit schaffen für Diskussionen über mögliche Folgearrangements zwischen der Eurogruppe, den Institutionen und Griechenland. Die griechischen Regierungsvertreter werden bis Montag, den 23. Februar, auf der Grundlage des gegenwärtig gültigen Arrangements eine erste Liste mit geplanten Reformen vorlegen. Die Institutionen werden diese in einem ersten Schritt dahin gehend bewerten, ob diese hinreichend sind, um als Ausgangspunkt für einen erfolgreichen Abschluss der Überprüfung zu dienen.»

Keine Spur von einem kompromisslosen Festhalten an den Auflagen des «laufenden Programms». Wer in dieser Rhetorik nach den entsprechenden Begriffen und Bedingungen sucht, wird nicht fündig werden. Es ist also nicht so, dass die Troika nach Athen reisen und sich über die Wiedereinstellung der vom Finanzministerium zuvor entlassenen Putzfrauen beschweren kann.

Was wirklich zwischen Griechenland und Europa auf dem Spiel steht, ergibt sich erst dann, wenn man sich etwas genauer mit dem berüchtigten «Memorandum of Understanding» befasst, das von den Vorläuferregierungen Griechenlands unterzeichnet worden ist. Zunächst einmal: Nicht alles in diesem Papier ist unvernünftig oder unzumutbar. Vieles entspricht EU-Gesetzen und -Richtlinien. Maßnahmen, die auf eine Eindämmung von Steuerhinterziehung und Korruption abzielen oder auf eine Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, sind im Großen und Ganzen politisch sinnvoll und werden von Syriza deswegen auch befürwortet. Es fiel der neuen griechischen Regierung daher auch nicht schwer, die Einhaltung von «70 Prozent» der Auflagen des Memorandums zuzusichern.

Die restlichen «30 Prozent» fallen fast alle unter die folgenden drei Kategorien: haushaltspolitische Zielvereinbarungen, Notverkäufe/kurzfristige Privatisierungen und Änderungen des Arbeitsrechts. Die Vorgabe an die griechische Regierung, einen «Primärüberschuss» von 4,5 Prozent zu erzielen, ist vollkommen unrealistisch, wie alle inzwischen hinter vorgehaltener Hand zugeben würden. Die neue Regierung ist auch nicht per se gegen Privatisierungen, sondern gegen solche, die zu privaten Monopolen und unlauteren Preisabsprachen führen. Und sie richtet sich gegen erzwungene Ausverkäufe, die dem Staat kaum Geld einbringen. In Bezug auf arbeitsrechtliche Fragen gibt es dagegen einen grundsätzlicheren Dissens. Während die Position der griechischen Regierung sich in Einklang befindet mit Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), verstoßen die Auflagen des letzten «Hilfsprogramms» gegen deren Arbeits- und Sozialstandards. Diese Differenzen stehen nun zur Diskussion. Dagegen hält wohl niemand mehr an den alten haushaltspolitischen Zielvorgaben fest, und die griechische Seite hat sich bereit erklärt, in den nächsten vier Monaten, in denen sie eine Einigung über ein neues Kreditabkommen anstrebt, von «einseitigen» Maßnahmen abzusehen.

In Cassidys Artikel wird auf einige dieser Punkte eingegangen, aber er spielt die Errungenschaften der Einigung damit herunter, dass er behauptet, «sie würde keynesianische Konjunkturprogramme im größeren Stile ausschließen». Aber in welchem Dokument wurden solche Programme jemals zugesagt? Der griechische Staat hat kein Geld, die Regierung ist pleite. Eine umfassende Wirtschaftspolitik à la Keynes stand niemals auf der Agenda, denn das hätte den Austritt aus dem Euro zur Voraussetzung. Nur mit einer neuen Währung wäre ein solcher auf steigende Nachfrage und Wachstum setzender Kurs denkbar, mit all den bekannten Gefahren. Will man jedoch Teil der Eurozone bleiben, muss das benötigte Geld für Investitionen aus größeren Anstrengungen bei der Steuereintreibung kommen oder von außen, einschließlich privater Investoren und der Europäischen Investitionsbank. Cassidys Vorwurf scheint daher vollkommen aus der Luft gegriffen.

Ein anderes realitätsfernes Hirngespinst ist die Vorstellung, das Team von Syriza sei von dem politischen Erfolg, der «praktisch aus dem Nichts kam», noch ganz «trunken». Vielmehr konnte die Partei sich schon seit Monaten sicher sein, dass – wenn es ihr gelänge, im Dezember Neuwahlen durchzusetzen – Syriza diese gewinnen würde. Ich war dabei, als Ministerpräsident Alexis Tsipras am Sonntag, den 8. Februar, mit seiner Rede zur Lage der Nation die Sitzung des griechischen Parlaments eröffnete. Tsipras ist alles andere als ein machtrunkener Politiker. Und als mich Yanis Varoufakis im Finanzministerium empfing, kurz bevor wir uns zusammen ins Parlament aufmachten, um Tsipras Regierungserklärung anzuhören, waren seine ersten Worte: «Herzlich willkommen zur Überreichung des Schierlingsbechers.»

Cassidys Schlussfolgerung hinsichtlich der diplomatischen Anstrengungen von Tsipras und Varoufakis lautet, die beiden hätten «ihr Blatt überreizt». Als ein Beobachter vor Ort hätte er jedoch feststellen können, dass die griechische Regierung Geschlossenheit zeigte und alle anfänglichen Versuche, Varoufakis zu isolieren, nicht verfingen. Im Laufe der Verhandlungen dann begaben sich Jean-Claude Juncker, Präsident der EU-Kommission, und Währungskommissar Pierre Moscovici aus der Deckung und boten ihre Hilfe an. Am Montag legten sie einen ersten konstruktiven Entwurf für eine Vereinbarung vor. Daraufhin rückten andere Regierungsvertreter von ihrer harten Linie ab. In der Schlussphase war es dann bemerkenswerterweise die deutsche Regierung, die sich in aller Öffentlichkeit gespalten zeigte: Vizekanzler Sigmar Gabriel ließ verlautbaren, er sähe den Brief aus Griechenland als Grundlage für weitere Verhandlungen an, nachdem Finanzminister Wolfgang Schäuble zuvor das Gegenteil behauptet hatte. Dies veranlasste Kanzlerin Angela Merkel zu ihrem Telefongespräch mit Alexis Tsipras, das zu einem Stimmungswechsel führte. Vielleicht war das Ganze auch nur eine Inszenierung, aber am Ende war es Schäuble, der einen Rückzieher machen musste. All diese Fakten scheinen Cassidys Aufmerksamkeit entgangen zu sein.

Stattdessen schreibt er, die griechische Seite habe im unmittelbaren Vorfeld der Verhandlungen erkannt, dass sie über keinerlei wirksame Druckmittel verfüge, woraufhin plötzlich alle Vorteile auf der Seite von Schäuble gelegen hätten, «als diesem bewusst wurde, dass Varoufakis nicht die Grexit-Karte spielen konnte». In Wahrheit hatte dieser aber nie die Absicht, zu pokern und seine Gegner zu bluffen, wie Varoufakis selbst in einem Beitrag in The New York Times ausgeführt hat und ich bereits zwei Tage nach der Wahl auf der Internetplattform Social Europe geschrieben habe:

«Welche Macht hat Griechenland? Ganz offensichtlich nicht sehr viel. Die schweren Geschütze stehen der Gegenseite zur Verfügung. Aber es gibt etwas, das nicht zu unterschätzen ist. Ministerpräsident Tsipras und sein Team können an die Vernunft appellieren und auf jegliche Drohungen verzichten. Die richtige und moralisch einwandfreie Antwort vonseiten der anderen würde darin bestehen, […] Griechenland fiskalischen Handlungsspielraum zu gewähren und damit eine gewisse finanzielle Stabilität, während die Gespräche weitergehen. Erst wenn dies passiert, können die eigentlichen Verhandlungen beginnen.»

Am Ende scheint genau dies eingetreten zu sein. Und der Hauptgrund hierfür ist genau der, den ich in meinem Essay genannt habe: Kanzlerin Merkel möchte nicht die führende politische Figur sein, die für das Auseinanderfallen Europas verantwortlich gemacht wird.

Als Alexis Tsipras vor Kurzem erklärte, Griechenland habe eine Schlacht gewonnen – vielleicht auch nur ein Scharmützel –, aber nicht den Krieg, hatte er recht. Aber der politische Dammbruch, den Syrizas Wahlsieg ausgelöst hat, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Psychologisch betrachtet haben sich in Griechenland schon enorme Veränderungen vollzogen. In Athen sind eine Aufbruchstimmung und eine Würde zu spüren, die es dort vor sechs Monaten noch nicht gab. Schon bald werden auch in Spanien neue politische Fronten und Machtverhältnisse entstehen, danach vielleicht auch in Irland oder in Portugal, alles Länder, in denen demnächst gewählt wird. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die griechische Regierung bei den anstehenden Verhandlungen einbrechen und gänzlich nachgeben wird, es wird aber noch eine Weile brauchen, bis sich erkennen lässt, wie groß der Handlungsspielraum wirklich ist, der im ersten Scharmützel erkämpft werden konnte. In einem Jahr könnte die politische Landschaft Europas jedenfalls schon ganz anders aussehen als die von heute.

Dieser Text erschien zuerst im Debattenmagazin socialeurope.eu, unter http://www.socialeurope.eu/2015/02/greek-deal. Deutsche Übersetzung: Britta Grell.

James K. Galbraith, Jahrgang 1952, ist einer der renommiertesten US-amerikanischen Ökonomen. Derzeit arbeitet er als Professor an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs in Texas. Er studierte in Harvard und Yale Wirtschaftswissenschaften und war später auch im US-Kongress tätig. Im Sommer 2013 war Galbraith zusammen mit dem griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis und dem früheren britischen Politiker Stuart Holland an der Neuauflage des «Bescheidenen Vorschlags zur Lösung der Eurokrise» beteiligt. 2010 erschien von ihm im Rotpunkt-Verlag Zürich «Der geplünderte Staat oder was gegen den freien Markt spricht».