Zu den kaum untersuchten Abschnitten im publizistischen Wirken Rosa Luxemburgs zählt jene Periode von 1902 bis 1904, in der sie wesentlich für die Herausgabe und Redaktion der in Posen erscheinenden «Gazeta Ludowa» (Volkszeitung) verantwortlich zeichnete. Das Zeitungsprojekt ging auf eine Initiative von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches zurück, wurde aus SPD-Mitteln finanziert. Das Blatt richtete sich in polnischer Sprache an polnische Industrie-, Berg- und Landarbeiter*innen in Deutschland, vor allem an diejenigen in der Provinz Posen und in Oberschlesien.
Holger Politt ist Leiter des RLS-Regionalbüros Ostmitteleuropa in Warschau.
In ihrer besten Phase erschien «Gazeta Ludowa» zweimal wöchentlich, jede Ausgabe aufgemacht mit einem längeren Leitartikel zu einem aktuellen Thema, die übrigen Seiten angefüllt mit kleineren Beiträgen und Nachrichten, die vor allem Entwicklungen in der deutschen sozialdemokratischen Bewegung sowie überhaupt in der internationalen Arbeiterbewegung widerspiegelten. Ziel war es, die polnischen Arbeiter*innen und Landarbeiter*innen für die sozialdemokratische Bewegung zu interessieren und möglichst an diese zu binden. Die Zeitung stellte im Juni 1904 nach 114 Einzelausgaben ihr Erscheinen ein, weil Rosa Luxemburg vor dem Antritt ihrer dreimonatigen Gefängnisstrafe in Zwickau, die sie wegen Majestätsbeleidigung erhalten hatte, nun keine zeitliche Möglichkeit mehr sah, das aufwendige Vorhaben fortzusetzen.
Prozess gegen die «Vorwärts»
Im Januar 1904 berichtete Rosa Luxemburg in «Gazeta Ludowa» von einem Prozess, der in Berlin gegen das zentrale SPD-Organ «Vorwärts» geführt wurde. Anlass boten Vorfälle während des Reichstagswahlkampfs im Juni 1903 im oberschlesischen Laurahütte, wo es zu Ausschreitungen kam, bei denen ein Arbeiter nach dem Schusswaffengebrauch durch die Polizei ums Leben gekommen war. «Vorwärts» hatte wahrheitsgemäß berichtet, dass die Unruhen ausgebrochen waren, weil die klare Bevorzugung der deutsch-katholischen Zentrumspartei durch die Obrigkeit ein solch erschreckendes Ausmaß angenommen hatte, so dass geradezu von einer Ausgrenzung der Sozialdemokraten und der polnischen Oberschlesierpartei gesprochen werden konnte. Im «Vorwärts» stand schließlich zu lesen, dass die Polizei die Bevölkerung provoziert und somit die Ausschreitungen hervorgerufen habe. Gegen das Parteiorgan der SPD hatten deswegen Polizisten und Gendarmen aus Oberschlesien, obendrein der Amtsvorsteher aus Laurahütte geklagt. In dem Berliner Prozess wurden zwei «Vorwärts»-Redakteure schließlich zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt, obwohl die Verteidigung schlüssig und mit ausreichenden Fakten nachweisen konnte, wie sehr die Berichterstatter sich an das tatsächliche Geschehen gehalten hätten. Rosa Luxemburg teilte an dieser Stelle den polnischen Lesern mit, dass die Leitung der Verteidigung von Dr. Karl Liebknecht übernommen worden sei, dem Sohn Wilhelm Liebknechts.
Karl Liebknecht der «Verteidiger der Revolutionäre aus Russland»
Ein anderer Vorgang wurde 1904 in «Gazeta Ludowa» regelmäßig verfolgt, der damals die Gemüter in der deutschen Öffentlichkeit außerordentlich beschäftigte. Mit dem Argument, es müsse der «Geheimbündelei» und der «Gefahr von Anarchismus» vorgebeugt werden, verfolgten die Behörden in Preußen russische Sozialist*innen, die sich hier aufhielten, selbst wenn sie volle Aufenthaltsrechte besaßen, wobei der Skandal umso größer wurde, weil alle als belastend geltenden Materialien und Dokumente ausschließlich von russischen Polizeispitzeln stammten, die in Deutschland ihr Unwesen trieben. Schließlich wurden auch deutsche Sozialdemokrat*innen verfolgt, was das Fass zum Überlaufen brachte. Ausführlich berichtete Rosa Luxemburg über die Reichstagssitzung am 19. Januar 1904, in der Hugo Haase und August Bebel im Namen der SPD scharf gegen das Vorgehen der Behörden in Preußen protestierten, Bebel von einer «Barbarei sondergleichen» sprach. «Kein einziger Russe, der nach Deutschland kommt», so Bebel weiter, «entgeht dem Verdacht, ein Anarchist zu sein». Rosa Luxemburg wies insbesondere darauf hin, dass die preußischen Behörden ohne Kenntnis der russischen Sprache und überhaupt in Unkenntnis der Verhältnisse in Russland zu einem blinden Werkzeug der Zarenpolizei geworden seien. Für Rosa Luxemburg war Rechtsanwalt Karl Liebknecht der bekannte und gewissenhafte «Verteidiger der Revolutionäre aus Russland in deren Verfahren mit der preußischen Polizei und vor Gericht, ein erfahrener Kenner der betreffenden Verhältnisse». Nachdem der von den preußischen Behörden in der fraglichen Sache angestrengte Prozess am 25. Juli 1904 in Königsberg mit dem Freispruch von neun Angeklagten endete, während lediglich drei Angeklagte wegen «Geheimbündelei» verurteilt werden konnten, schrieb Rosa Luxemburg begeistert an Luise Kautsky: «Vor allem wollen wir uns zu Königsberg gratulieren. Es ist ein wahres Freuden- und Siegesfest».
«Sohn des verstorbenen Anführers der deutschen Arbeiterbewegung»
Zu dieser Zeit führte Rosa Luxemburg Karl Liebknecht immer noch gerne als den «Sohn des verstorbenen Anführers der deutschen Arbeiterbewegung» ein. Wilhelm Liebknecht (1826–1900) stand, das sei hier kurz an-, wenn auch nicht ausgeführt, in der polnischen Frage bis zuletzt entschieden auf einer anderen Position als Rosa Luxemburg. Während Wilhelm Liebknecht, übrigens ganz wie Friedrich Engels, fest davon ausging, dass die edle Aufgabe polnischer Sozialisten selbstverständlich in dem Streben nach nationaler Unabhängigkeit und Wiederherstellung Polens bestehe, hatte Rosa Luxemburg konsequent ein anderes Konzept entwickelt, wonach Polens Sozialisten gegenwärtig fest an der Seite der Sozialisten in den jeweiligen Teilungsländern Polens zu stehen hätten – also in Deutschland, Russland und Österreich –, ohne an den bestehenden Grenzen zu rütteln, weil das unter anderem die momentane Kriegsgefahr in Europa erheblich erhöhen würde. Wilhelm Liebknecht stand indes immer auf den Positionen der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), die an der Idee der Wiederherstellung Polens festhielt und auch in Preußen organisiert war und wirkte, hier mit «Gazeta Robotnicza» (Arbeiterzeitung) eine eigene Zeitung herausgab, dabei immer nach finanzieller Unterstützung durch die SPD suchte. Die sozialdemokratische «Gazeta Ludowa» war Rosa Luxemburgs ernsthafter Versuch, mit publizistischen Mitteln jene Richtung unter polnischen Sozialisten in Preußen zu stärken, die sich auch deshalb fest an die SPD band, weil die programmatisch – so sah es jedenfalls Rosa Luxemburg – entschieden gegen jeglichen Separatismus und gegen Abspalterei ausgerichtet war. Wilhelm Liebknechts Sohn kam zu jener Zeit durch seine intensiven russischen Kontakte immer mehr zu Positionen, die in dieser Frage denen Rosa Luxemburgs ähnelten: Den Weg zum Sturz der Zarenherrschaft wird die kommende politische Revolution im Russischen Reich ebnen.