Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Nordafrika Algerien: Ist der Hirak politisch gescheitert?

Prof. Dr. Rachid Ouaissa im Interview

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Demonstration in Algerien
Hirak-Demonstrant*innen gehen in Béjaïa in der algerischen Provinz Kabylei auf die Straße, Juni 2019. CC BY-SA 4.0, Foto: Wikimedia Commons

Wir sprachen mit Prof. Dr. Rachid Ouaissa über die aktuelle politische, wirtschaftliche und soziale Lage in Algerien, das Staatsversagen im Umgang mit der Corona-Pandemie, die Fehler und das Potential der Protestbewegung Hirak (Arabisch für «Bewegung»), die Rolle der Kabylei sowie die soziale und wirtschaftliche Schieflage. Diese sollte vom Hirak als Chance begriffen werden, um sich neu aufzustellen und eine Vision für ein sozial gerechteres Algerien zu entwerfen.

Algeriens Regime hat seit Wiederbeginn der Hirak-Proteste im Februar 2021 verstärkt auf Repressalien gegen die Opposition gesetzt. Das Regime versucht der Protestbewegung endgültig den Garaus zu machen. Derzeit erlebt das Land zudem die mit Abstand heftigste Corona-Welle seit Beginn der Pandemie. Welche Optionen hat der Hirak, nach der jüngsten Covid-19-Welle wieder Druck auf die Staatseliten auszuüben?

Das ist in der Tat offen und kommt auch darauf an, welche Spuren die Corona-Krise hinterlassen wird. Es handelt sich derzeit um die schwerste Corona-Welle, die das Land bisher erlebt hat. Das Staatsversagen im Umgang mit der Pandemie ist offensichtlich. Die Krankenhäuser sind überlastet und es mangelt vielerorts an Sauerstoff. Jetzt erkennt man die Spuren des Systems Bouteflika [Anm.: Algeriens Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika, im Amt zwischen 1999 und 2019] noch deutlicher. Daher ist es tatsächlich wahrscheinlich, dass der Hirak auf dieses Staatsversagen regieren wird. In fast jeder Familie hat man Verwandte sterben sehen. Dies kann zu einem größeren Protestpotential in Algeriens Gesellschaft beitragen. Daher erwarte ich, dass der Hirak künftig verstärkt ökonomische und sozioökonomische Elemente in den Vordergrund stellen wird. Gleichzeitig dürfte sich die finanzielle Lage des Staates bedingt erholen, da sich ein mittelfristiger Anstieg der Erdölpreise abzeichnet. Die Repressalien können allerdings auch dazu führen, dass die Menschen erfolgreich eingeschüchtert werden. Der Hirak wird auch aus diesen Gründen vermehrt regional auftreten und nicht mehr national. Die Region Kabylei wird auch weiterhin rebellieren. Eventuell werden die Menschen auch in den großen Städten weiter auf die Straße gehen. Aber ich glaube nicht, dass der Hirak wie noch 2019 landesweit erfolgreich mobilisieren wird, zumindest zu Beginn einer neuen, noch bevorstehenden Protestwelle.

Dr. Rachid Ouaissa ist Professor am Center for Near and Middle Eastern Studies (CNMS) an der Universität Marburg und seit 2020 Direktor des Merian Centers for Advanced Studies for the Maghreb (MECAM) in Tunis.

Das Interview führte Sofian Philip Naceur Ende Juli 2021.

Die Kabylei war die letzte Bastion des Hirak. Die Proteste gingen dort bis zu Beginn der aktuellen Corona-Welle unvermindert weiter. Wir sehen aber auch schon seit 2019, dass das Regime versucht den Hirak entlang ethnischer Zugehörigkeiten zu spalten und Araber*innen und Berber*innen gegeneinander auszuspielen. Während die Proteste mittels heftiger Repressionen fast landesweit zurückgedrängt wurden, lässt man die Menschen in der Kabylei weiter demonstrieren. Menschen werden immer wieder wegen des Tragens der Berber*innenfahne strafrechtlich verfolgt. Versucht das Regime mit sektiererischen Mitteln Land und Gesellschaft zu spalten und mittels einer gewalttätigen Eskalation des Konfliktes in der Kabylei die eigene Macht zu erhalten?

Das Regime greift immer wieder zu den gleichen Mitteln und folgt altbekannten Mustern. Es versucht mit autoritären Mitteln zu spalten. Die Kabylei wird als Sonderfall dargestellt, während der Hirak auf eine Art nationales Bewusstsein – Algerien wird als Ganzes betrachtet – setzt und sich gegen diese regionale Spaltung zur Wehr zu setzen versucht. Ich glaube nicht, dass der Hirak und Algeriens Bevölkerung darauf hereinfallen. Ich halte den Hirak jedoch für politisch gescheitert. Trotzdem hat die Bewegung dafür gesorgt, dass das Selbstbewusstsein der Menschen gewachsen ist. Allen ist heute klar, dass das Regime das Problem ist und nicht die Kabylei.

Wieso glauben Sie, der Hirak sei gescheitert?

Wenn es nach dem jüngsten Corona-Notstand zu einer neuen Protestwelle kommt, hoffe ich, dass die Bewegung aus ihren Fehlern gelernt hat. Der Hirak ist gescheitert, weil er leider alle ernsthaften ideologisch-politischen Fragen ausgeklammert hat. Der Hauptgrund für sein Scheitern sind die Islamisten. Die Rachad-Bewegung [Anm.: meist im europäischem Ausland aktive islamistische Bewegung, die aus der Trümmern der Islamischen Heilsfront entstanden ist] hat den Hirak kaputt gemacht, da man auf dessen Druck alle wichtigen Fragen über die Zukunft Algeriens ausgeklammert hat. Das Problem wurde immer auf das Regime zentriert, aber nicht auf das System. Die Systemfrage wurde nie gestellt. Das Problem ist nicht nur die Elite, es liegt viel tiefer. Wollen wir ein Algerien wo wir einfach die Eliten auswechseln oder wollen wir ein Algerien, in dem wir auch das Bildungs- und Wirtschaftssystem in Frage stellen und verändern? Die Islamisten haben die neoliberalen Strukturen der algerischen Volkswirtschaft nie in Frage gestellt. Sie haben das marode Bildungssystem, das als hochgradig islamisiert gilt, nie in Frage gestellt. Und sie haben darauf beharrt, dass alle Fragen, die den Hirak teilen könnten, zunächst nicht gestellt werden. Das gleiche Schema ist in Algerien bereits während des Unabhängigkeitskrieges zwischen 1954 und 1962 angewendet worden: Unser Feind ist Frankreich und erst nach dem Sieg gegen das Kolonialregime schauen wir, in welche Richtung sich das Land bewegen soll. Das hat damals nicht funktioniert und es funktioniert auch heute nicht. Wir müssen diese zentrale Frage jetzt stellen und diskutieren.

Ein zentraler Aspekt wurde allerdings durchaus konsequent vom Hirak angesprochen, nämlich die Herrschaft des Militärs bzw. die politische Rolle des Militärs. Die Forderung nach einem zivilen Staat ist heute gar eine der wichtigsten Forderungen der Bewegung.

Das ist richtig. Das ist eine zentrale Frage und sie wird vom Hirak als Priorität betrachtet. Aber die laizistischen Köpfe der Bewegung sagen auch: das Militär und die Religion dürfen keine Rolle im Staatsapparat spielen. Während jedoch die Frage des Militärs diskutiert wurde, wurde die Rolle der Religion in einem neue Algerien nicht diskutiert. Das funktioniert aber nicht. Es kann zudem keine echte Revolution geben, wenn ökonomische Akteure nicht für eine solche gewonnen werden. Die ökonomischen Akteure haben Angst. Sie haben Angst, dass es nach einer echten Revolution Regeln geben könnte, die noch schlimmer sind als jene Regeln unter dem Militär. Für ökonomische Akteure ist es sicherer mit dem Militär an der Macht, hier kennt man die Regeln sehr genau.

Wirtschaftliche und soziale Fragen sind vom Hirak aber ebenfalls diskutiert worden. Es gab immer wieder Wortmeldungen, in denen konkret soziale Gerechtigkeit gefordert wurde – wobei meist eine Vision fehlte, wie man das denn erreichen kann. Auch die Rentenabhängigkeit des Staates wurde im Rahmen des Hirak regelmäßig debattiert. Der Hirak hat also durchaus versucht, sozioökonomische und wirtschaftliche Aspekte hervorzuheben und Teile der Bewegung haben immer wieder versucht, entsprechende Debatten zu stimulieren. Diese führten aber bisher nur in eine Sackgasse.

Genau. Diese Diskussion wurde immer wieder blockiert. Ich habe selber Debatten erlebt, in denen Frauenrechte eingefordert wurden und dann gesagt wurde, die Frauenrechtsfrage sei ideologischer Natur und man müsse ideologische Debatten zunächst aufschieben. Ein solcher Ansatz überzeugt aber die Menschen nicht, die Vision des Hirak war zu vage. Wenn man auf dem Weg einer Revolution ist, dann will man schon wissen wohin sich das Land bewegt. Man braucht eine konkretere Vorstellung über die Zukunft Algeriens, das aber konnte der Hirak nicht anbieten.

Durch Corona könnten im Rahmen des Hirak soziale Aspekte in den Vordergrund rücken. Aber was heißt das konkret? Die soziale Schieflage ist ja nicht nur angesichts das heruntergewirtschafteten Gesundheitssystems derzeit extrem angespannt. In Südalgerien gab es zuletzt immer wieder sozialökonomisch motivierte Proteste, unter anderem in Ouargla. Diese könnten dem Hirak neuen Zulauf bescheren. Könnte das auch die Friedfertigkeit des Hirak in Frage stellen, da wir es plötzlich mit Menschen auf der Straße zu tun haben, die schlicht Hunger haben und nicht nur aus politischen Gründen demonstrieren gehen?

Die Gefahr ist da. Bisher scheiterte die Bewegung aber vor allem daran, dass sie ein Zusammenschluss von Mittelschichten war. Diese Mittelschichten sind sowohl islamistisch als auch laizistisch orientiert. Deren gesellschaftliche Visionen unterscheiden sich zwar, in Sachen Wirtschaftspolitik haben sie aber ähnliche Vorstellungen. Die sozioökonomisch marginalisierten Teile der Gesellschaft wurden bisher wenig beachtet. Wenn sich aber diese Teile der Gesellschaft als neue Akteur*innen dem Hirak anschließen, muss ein Pakt zwischen ihnen und der Mittelschicht geschlossen werden. Wirtschaftsfragen und sozioökonomische Aspekte müssen als zentrale Punkte aufgewertet werden.

Es darf nicht mehr nur um die Frage eines Regimewechsels gehen, es muss stattdessen eine Debatte über einen Systemwechsel in den Vordergrund rücken.

Erst eine Kooperation der ideologisch gespaltenen Mittelschicht und einkommensschwacher Schichten kann den Hirak in eine echte Revolution münden lassen.

Seit über einem Jahr wird der Hirak vor allem mit NGOs, Oppositionsparteien und Persönlichkeiten wie bekannten Anwälten oder Menschenrechtler*innen assoziiert, nicht jedoch mit Gewerkschaften. 2019 zogen unabhängige Gewerkschaften noch Seite an Seite mit der politischen Opposition durch die Straßen. Heute spielen sie keine Rolle mehr. Woran liegt das?

Für eine echte Revolution müssen wir wirtschaftliche Akteure miteinbeziehen – seien es jene mit Geld oder jene ohne Geld. Jene mit Geld müssen beruhigt werden, damit sie wieder investieren. Gleichzeitig muss man jenen ohne Mittel – also den Mittellosen – die Hoffnung geben, dass sich später auch etwas für sie ändert und sie etwas von diesem Aufstand haben. Diese beiden Akteure – die Arbeitgeber*innen und die Arbeitnehmer*innen, vor allem repräsentiert durch die Gewerkschaften – müssen überzeugt und aktiv in den Hirak eingebunden werden. Wenn sich der Staat aufgrund der steigenden Erdölpreise mittelfristig erholt, dürften sich Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen ebenfalls beruhigen. Kommt es zu einem solchen Szenario, hat der Hirak auf jeden Fall verloren.

Auch wenn sich der Staat durch den Anstieg der Erdölpreise mittelfristig erholen wird, steht das Wirtschaftssystem weiter unter enormem Druck. Der Verfall der Währungsreserven wird trotzdem weitergehen und ist nur eine Frage der Zeit, bis das Land pleite ist. Was wäre kurzfristig eine Möglichkeit wirtschafts- und sozialpolitisch zu intervenieren und wie kann die Rentenabhängigkeit des Staates langfristig aus den Angeln gehoben werden?

Ich glaube Algerien kommt nicht darum herum, mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu verhandeln. Das hat das Regime bereits 1994 gemacht, mitten im Bürgerkrieg. Die damalige innenpolitische Lage war eine gute Ablenkung und Tarnung, um hinten rum mit dem IWF zu verhandeln. Ein solches Szenario steht erneut bevor. Unter Druck der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise könnte es erneut zu Verhandlungen mit dem IWF kommen, die neue Liberalisierungsmaßnahmen nach sich ziehen. Dies wiederum dürfte neue Sozialproteste auslösen. Dabei müssen wir darauf hoffen, dass dies nicht zu einer gewaltsamen Eskalation führt.

Wir wissen aber auch, dass die IWF-Rezepte immer dieselben sind. Und sie funktionieren einfach nicht. Ohne zu behaupten, dass eine massiv abgeschottete Wirtschaft wie die algerische funktioniert – das algerische Modell ist gescheitert. Aber was für eine Alternative gäbe es zu dem abgeschotteten Wirtschaftssystem, in dem die Erdölrente von den Eliten monopolisiert wird, und den immer wieder scheiternden Deregulierungsstrategien des IWF?

Algerien ist eines der wenigen Länder der Welt, die eigentlich gute Konditionen mit dem IWF verhandeln könnten. Algerien ist kein armer Staat. Der IWF kann hier nicht sein übliches Diktat durchsetzen. Insofern kann ich mir vorstellen, dass der Sozialstaat mit derart vielen Renten reformierbar ist und dass die Renten in produktive Formen transferiert und transformiert werden können – vorausgesetzt, der politische Wille ist vorhanden. Renten sind nicht per se ein Hindernis für Entwicklung. Renten können auch so umgewandelt werden, dass sie als Anschub für eine produktive Ökonomie genutzt werden. Man könnte sie für den Konsum einsetzen, so dass algerische Unternehmer*innen nicht mehr auf die Generäle angewiesen sind, um zu wirtschaften. Verteilt man die Rente als Konsummittel in der Gesellschaft – z.B. in Form von Gehältern – , müssten bestimmte Produkte nicht mehr importiert werden, schließlich könnte es sich bei so einem Modell für lokale Unternehmer*innen endlich lohnen, in Algerien zu produzieren.

Es ist nur leider fast unmöglich, Renten derart einzusetzen und umzulenken. Es gibt kaum Beispiele auf der Welt, in denen es geschafft wurde, Rentenökonomien entsprechend zu reformieren.

Die ostasiatischen Modelle sind durchaus Beispiele dafür, wie Staaten es geschafft haben, Arbeit in der Gesellschaft aufzuwerten und zu verwerten, so dass diese kaufkräftiger wurden. China ist ein Beispiel dafür. Ein solches Szenario ist auch in Algerien möglich. Unternehmer müssen dazu gebracht werden, im Land zu investieren und zu produzieren und nicht mehr zu importieren. Dafür brauchen wir aber Kaufkraft in der Gesellschaft. Renten könnten dafür eingesetzt werden, Kaufkraft zu erzeugen. Die Frage ist aber in der Tat, wie so etwas konkret realisiert werden kann.

Die Aussagen des Interviewten entsprechen nicht unbedingt der Meinung der RLS.