Nachricht | Städel Museum (Hrsg.): Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre; Bielefeld 2021

Fundiertes Katalogbuch erschienen

Information

Ungewöhnliche Perspektiven und Motive, Untersichten sowie Detailaufnahmen. Fotografie (und Film) waren das neue Medium der Weimarer Republik der 1920 und 1930er Jahre. Sie prägten v.a. über Werbung und Illustrierte die visuelle Wahrnehmung, versprachen ein scheinbar authentisches Abbild der Wirklichkeit zu liefern. Dementsprechend sind etliche Fotografien bis heute im kollektiven Gedächtnis verankert. Fotografie ist - damals - aber in erster Linie Gebrauchskunst - und Fotografieausstellungen sind eher Messen als Kunstausstellungen im heutigen Sinne. Ausbildungen sind bereits möglich, unter anderem am bauhaus in Dessau, an der Folkwang-Schule in Essen, an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle oder beim Lette-Verein in Berlin.

Der hier angezeigte Katalog erscheint aus Anlass einer Ausstellung, die noch bis 24. Oktober 2021 im Städel Museum in Frankfurt am Main zu sehen ist. Er ist in eine Einleitung und dann sieben Kapitel unterteilt, in ihnen werden zentrale Aspekte der künstlerischen Beschäftigung mit Fotografie und deren Einsatz in verschiedenen Gebrauchskontexten in diesen Jahren vorgestellt: Ausbildung, Presse, Formen, Bildnis, Werbung, Industrie und Propaganda. Die Kapitel bestehen jeweils aus einem kurzen Text und dann circa einem Dutzend Bildern aus der Ausstellung. Im Katalog sind 107 großformatige Abbildungen enthalten, die in der Regel aus der Fotosammlung des Städel selbst stammen.

Es ist nicht so, und das zeigt auch dieser Band wieder, dass die «Neue Fotografie» oder das «Neue Sehen» immun gegen den Nationalsozialismus waren. Die NS-Ästhetik und -Propaganda konnte sehr wohl an diese «moderne» Form der Fotografie anknüpfen und tat dies auch (S. 147). Etliche Fotograf_innen arbeitet im NS weiter, während diejenigen jüdischer Herkunft emigrierten.

Kurze Biografien aller in der Ausstellung vorkommenden FotografInnen, darunter relativ viele Frauen, beschließen den lesenswerten Band. Seine Lektüre lädt dazu ein, über die Ambivalenz der Moderne nachzudenken. Walter Benjamin bewies großes und gutes Gespür. Er schreibt rückblickend 1934, in Kenntnis der Machtübertragung an den Nationalsozialismus über das 1928 erstmals erschienene, und heute sehr bekannte Buch Die Welt ist schön von Albert Renger-Patzsch (1897-1966): «Sie [die Fotografie] wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, dass sie keine Mietskaserne, keinen Misthaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären [...) es ist ihr nämlich gelungen, auch noch das Elend, in dem sie es auf modisch-perfektionierte Weise auffasste, zum Gegenstand des Genusses zu machen» (zit. nach S. 144).

Kristina Lemke, Städel Museum (Hrsg.): Neu Sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre; Kerber Verlag, Bielefeld 2021, 256 Seiten, 5 farbige und 148 s/w Abbildungen, 49,90 EUR