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Die afghanische Tragödie und das Versagen der deutschen Politik. Von Thomas Rudhof-Seibert

Evakuierung am Flughafen Kabul
Flughabel Kabul, Afghanistan am 23.08.2021 Foto: picture alliance / ANSA | FARNESINA PRESS OFFICE

Seit Tagen dieselben Bilder, alle wenigstens mit diesen Beiworten zu belegen: erschütternd, empörend, beschämend. Seit dem 15. August, als die Taliban Kabul eingenommen haben, machen sich jeden Morgen um 6 Uhr, gleich nach Ende der Ausgangssperre, abertausende Afghan*innen zum Flughafen auf. Jeden Tag gehen seitdem die Bilder um die Welt, wie ungezählte von ihnen an den immer zahlreicheren Checkpoints der Taliban scheitern. Sie werden dort beschimpft, geschlagen, verprügelt, ausgepeitscht, ins Ungewisse weggeführt oder einfach in die dichten Reihen derer zurückgestoßen, die sich hinter jedem zusammenballen. Inzwischen gab es auch schon etliche Tote.

Die Menge

Das erste Hindernis ist die Menge, zu der alle gehören und in der doch jede*r für sich allein vorankommen muss. Wer durch die Reihen kommt, wird selbst zum Hindernis für den Nächsten, auf den er stößt, der ihn anstößt, den er selbst wegstößt. Um in die Lücke zu schlüpfen, die einen zwanzig Zentimeter weiterbringt. Auch da werden Schläge ausgeteilt, müssen Schläge ausgeteilt werden, will man sich auf den Beinen halten, um weiter-, um fort- und um mit allem Glück dieser Welt rauszukommen. Weiter-, fort- und rauszukommen zum ersten Schutzwall der Ordnung, die Ordnung schafft, die deshalb ausnahmslos alle hemmt, aufhält, bannt, ins Unheil zurückzwingt – oder eben durchlässt, rauslässt.

Thomas Rudhof-Seibert arbeitet für Medico International, die auch eine frühere Fassung dieses Textes veröffentlicht haben.

Diesen ersten Schutzwall der Ordnung bilden Uniformierte der afghanischen «02-Unit», einer Abteilung der Sicherheitspolizei, immer schon und auch jetzt unter amerikanischen Kommando. Oft genug, meistens sogar, schlagen die Uniformierten auch von sich aus zu, um sich den Anderen, den Nächsten, um sich die ganze tausendköpfige Menge vom eigenen Leib fernzuhalten. Die Uniformierten haben neben ihren Fäusten und Stiefeln Tränengas, Pistolen und Gewehre. Das Gas und die Kugeln der Pistolen und Gewehre sollen über die Köpfe der Menge hinweg in die Luft geschossen werden. Geschossen wird aber immer auch direkt in die Menge, in der dann immer welche umfallen, zum Hindernis werden, das am Boden liegt.

An der Schleuse

Die Reihe der Uniformierten kann passieren, wer in seinem afghanischen Pass ein Visum oder eine Greencard hat. Oder wer in seinem Handy das Foto eines provisorischen Visums hat: «Present this visa to security checkpoints and Consular Officers to access flights departing to the United States.» An einem der letzten Tage gelang es Mitarbeiter*innen von Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO) und der Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation (AMASO) irgendwann, zum Nordtor des Flughafens vorzudringen. Durch die 02-Reihen hindurch zu den Reihen der US-Soldat*innen an der Schleuse, durch die es ins Innere des Flughafens geht, zu den dort eingerichteten «Evacuation Centers.» Zu irgendwelchen departing flights, ziemlich egal wohin.

Die Vier glaubten durch zu sein, bis ein Offizier auftauchte und sagte, dass das Dokument gefälscht sei, weil es die unterzeichnende Abteilung im State Department gar nicht gebe. Aus. Zurück. Alles umsonst. Obwohl der Offizier Unrecht hatte, das Visum echt war. Um vor Einbruch der Ausgangssperre zurück zu sein, gingen die vier Gescheiterten nach Hause, wie auch die Menge der Anderen. Nacht über Kabul. Aus. Morgen wieder. Morgen wieder?

Die Schuld. Die Schande

Einen Schritt zurück. Niemand hat geahnt, dass Armee und Polizei der Islamischen Republik Afghanistan, dass die ganze Republik binnen dreier Tage zusammenbricht. Auch die meisten lokalen NGOs nicht, die fieberhaft an der Organisation eines eigenständigen zivilen Widerstands gearbeitet haben. Aber dass die Islamische Republik abgewickelt, dass sie und mit ihr das ganze Land und alle seine Bewohner*innen an die Taliban ausgeliefert werden würden, das stand seit Monaten fest. Das wollte Trump, das wollte Biden, das hat die ganze Allianz so angenommen, auch die Bundesregierung. Nochmal: Das stand seit Monaten fest. Das war der Gegenstand der Verhandlungen, an denen die Taliban formell nie teilgenommen, zu denen sie aber immer gesagt haben: «Zieht die Truppen ab. Wir übernehmen.» Bis erst die USA und dann alle anderen die Truppen abgezogen und die Taliban übernommen haben. Wie angekündigt. Wie von allen gewusst. Seit Monaten.

Deshalb hätten alle, ausnahmslos alle, auch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, ihr Ministerium der Verteidigung und ihre Botschaft in Kabul Vorkehrungen treffen müssen. Einen Plan haben müssen. Alle ihre Kräfte auf die Umsetzung dieses Plans vorbereiten und verpflichten müssen. Alles tun müssen, das zu tun möglich war. Nichts davon ist geschehen.

Nichts. Keine Vorkehrung. Kein Plan. Deshalb und dann das Chaos, die Gewalt. Die Toten und das Leid. Man hat gesagt, dass der deutsche Minister des Auswärtigen dafür die Verantwortung trägt. «Bundesaußenminister Heiko Maas hat hier viel Schuld auf sich geladen. Wenn die Menschen, die noch in Kabul in den Schutzräumen warten, aber noch nicht auf dem Flughafen sind, nun (…) nicht mehr gerettet werden können, ist er dafür verantwortlich.» (Jürgen Trittin, 15.8.2021)

Die Zivilgesellschaft

Medico International arbeitet seit langen Jahren mit afghanischen Partner*innen. Länger schon mit AHRDO, einer Organisation mit knapp dreißig Mitarbeiter*innen, die sich mit den Mitteln des Theaters der Befreiung landesweit um Prozesse der Verständigung von unten und also um Prozesse der Demokratisierung bemüht, quer zu den ethnischen und religiösen Spaltungen. AHRDO arbeitet mit Opfern der Gewalt aller Parteien und Religionen. Die Organisation lehnt die Verwendung des neueren Begriffs «Überlebende der Gewalt» ab und besteht darauf, mit Opfern der Gewalt zu arbeiten. Weil sie selbst und die Leute, mit denen sie arbeiten, Opfer der Gewalt seien. Punkt. Opfer, auch Opfer der Gewalt der ausländischen Truppen, die das Land jetzt fluchtartig verlassen haben und deshalb verantwortlich dafür sind, dass es weitere Opfer gibt. Opfer der Gewalt in der Folge des fluchtartigen Rückzugs der ausländischen Truppen.

Vor einiger Zeit hat AHRDO in Kabul ein Museum eröffnet, das die Geschichten dieser Opfer dokumentiert. Teil dieses Museums war ein Archiv mit Tausenden von Dokumenten, in denen Gewaltverbrechen gegen das Menschenrecht festgehalten werden. Versehen mit ihrem Ort und ihrer Zeit, namentlich gezeichnet. Dieses Archiv darf den Taliban nicht in die Hände fallen. Es darf aber auch nicht verloren gehen. Weil niemand das Archiv aufnahm, haben sie die Kartons privat verteilt, mit der Maßgabe, sie wenn nötig zu verbrennen.

In jüngerer Zeit hat Medico International auch mit AMASO zusammengearbeitet, einer kleineren Organisation. Sie kümmert sich in Afghanistan um das Schicksal von Menschen, die aus Europa, aus Deutschland abgeschoben wurden oder «freiwillig» von dort zurückgekehrt sind. In die Gewalt, das Leid und in das Elend: Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt, zwei Drittel der Afghan*innen leben unter der Armutsgrenze. Einem AMASO-Mitarbeiter ist die Flucht aus Afghanistan gelungen, er war der einzige Afghane in dem deutschen Flugzeug, das sieben Menschen aus dem Land ausflog. Die anderen stehen jetzt, wie ihre Kolleg*innen von AHRDO, vor dem Flughafen von Kabul. Die Taliban fordern sie gerade auf, nach Hause zu gehen.

Die Politik

Ausnahmslos alle, die sich jetzt zu Afghanistan zu Wort melden, sprechen vom «Scheitern» der ganzen Intervention. Wie aus einem Munde tun das auch Vertreter*innen der Bundesregierung, die Kanzlerin eingeschlossen. Vergessen wir nicht, dass dieselben Minister, Staatssekretäre und Abgeordneten noch vor nicht einmal zwei Wochen weiter nach Afghanistan abschieben wollten. Im Brustton der Überzeugung, dass es richtig sei, zumindest «straffällig» gewordene Afghan*innen «auszuschaffen».

Die Rede vom «Scheitern» der Intervention ist wohlfeil. 2001 gehörte Medico International zu den Stimmen, die ihre Ablehnung mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit begründeten, Demokratie und Menschenrecht herbeizubomben. Mit Bombardements, die man über Jahre hinweg würde fortsetzen müssen, dann auch fortgesetzt hat – mit hunderten, tausenden Toten und Verletzten. Wohlfeil ist das Reden vom «Scheitern», weil es ab- und verdrängt, dass in den 20 Jahren der Besatzung wiederum tausende, zehntausende Menschen die unhaltbaren Versprechen der Besatzungsmächte zu ihrer eigenen Sache gemacht, in ihre eigenen Hände genommen haben. Menschen, die ihr ganzes Leben auf ihre ethische und politische Entscheidung gebaut haben, das ihnen Versprochene ernst zu nehmen: Demokratie, Menschenrecht, Gleichheit der Geschlechter. Die Lehrer*innen, Journalist*innen, Ärzt*innen, Abgeordnete oder Beamt*innen, Mitarbeiter*innen von NGOs und Vertreter*innen lokaler, zuletzt landesweiter sozialer Bewegungen wurden. Menschen, die noch ein, zwei Tage vor dem Kollaps der afghanischen Republik gegen ihre drohende Auslieferung an die Taliban demonstriert haben. Überall im Land. Auf Demonstrationen, an deren Spitze junge Frauen mit Maschinengewehren standen.

Auch wenn der Kollaps sie hinweggerissen und in die Flucht, vor den Flughafen getrieben hat, haben sie dem wohlfeil einbekannten «Scheitern» eine Grenze, ihre Grenze gesetzt. Die Grenze der wirklichen Bewegung der afghanischen Demokratie. Die gab es, noch vor wenigen Tagen. Der Westen und mit ihm die Bundesregierung haben mit der Auslieferung Afghanistans an die Taliban also nicht einfach die überfällige Konsequenz aus einem längst offensichtlichen «Scheitern» gezogen. Sie haben all die im Stich gelassen und der Gewalt ausgeliefert, die über Jahre hinweg ihr Leben eingesetzt haben, damit aus den hohlen Versprechungen des Westens Wirklichkeit wird.