Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Parteien / Wahlanalysen - Nordafrika «Tunesiens Präsident wird die Forderungen des Volkes nicht erfüllen können»

Interview mit dem Sozialwissenschaftler Mohamed-Dhia Hammami

Information

Mohamed Dhia Hammami Foto: privat

Am 25. Juli 2021 entließ Tunesiens Staatspräsident Kaïs Saïed Premierminister Hichem Mechichi, legte die Arbeit des Parlaments auf Eis und hob die Immunität der Parlamentsabgeordneten auf. Saïeds Machtübernahme wird von Vielen als umstritten und verfassungswidrig betrachtet, weckte aber auch Hoffnungen im Land, dass seine Intervention Tunesiens langjährige politische Blockade beenden und den Behörden den Weg ebnen könnte, um endlich die erheblichen sozioökonomischen Probleme weiter Teile der Gesellschaft anzupacken. Aus diesem Anlass lanciert das Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Interviewreihe, in deren Rahmen wir mit tunesischen Aktivist*innen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Wissenschaftler*innen über die jüngsten Ereignisse und noch bevorstehende Entwicklungen im Land diskutieren. 

Sofian Philip Naceur aus dem Nordafrika-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach mit dem Sozialwissenschaftler Mohamed-Dhia Hammami, Doktorand an der Maxwell School of Citizenship and Public Affairs an der Syracuse Universität in den USA, über die Frage, warum Kaïs Saïeds Machtübernahme die Erwartungen der Bevölkerung vermutlich nicht erfüllen kann, den Einfluss tunesischer und internationaler Finanzinstitutionen auf Tunesiens Politik und warum das Parlament keineswegs als Kernstück des politischen Systems betrachtet werden kann. Das Interview wurde Mitte August 2021 geführt.

Kaïs Saïeds Machtübernahme am 25. Juli hat in Tunesien viel Optimismus verbreitet und Hoffnungen darauf geweckt, dass dies zu einem echten Wandel im Land führen könnte. Kann er einen solchen Wandel wirklich herbeiführen?

Die direkten Reaktionen auf Saïeds Ankündigungen am 25. Juli waren positiv. Allerdings hatten wir es bereits zu Beginn mit einer Spaltung zwischen jenen zu tun, die ihn offen unterstützten – wie seitens der nationalistischen Parteien Al Watad oder der Volksbewegung – und jenen, die die Intervention als Staatsstreich bezeichneten und ablehnten. Dazu zählen die islamistische Ennahda-Partei und die Arbeiterpartei von Hamma Hammami, die ehemalige kommunistische PCOT. Selbst innerhalb der Linken gibt es also einen gewissen Grad an Opposition gegen Saïeds Vorgehen. Andere Kräfte waren von Beginn an skeptisch oder gespalten. Dazu zählt auch Tunesiens Gewerkschaftsverband Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT). Die UGTT-Führung – der Exekutivrat – war nicht in der Lage eine sofortige Einigung oder Entscheidung herbeizuführen. Verschiedene Faktoren wie z.B. interne ideologische Spaltungen, hinderten die UGTT daran, rasch Stellung zu den Ereignissen zu beziehen und sich zu entscheiden, ob sie diese unterstützen sollte oder nicht. Einige UGTT-Führungskräfte vermeiden es seither, das Wort «Putsch» zu verwenden, weil sie der Meinung sind, dass diese Debatte irrelevant und nicht konstruktiv ist. Die Ereignisse als «Putsch» zu bezeichnen, würde die UGTT daran hindern, zu vermitteln und Verhandlungen aufzunehmen.

Bei den unmittelbaren Reaktionen ging es also nicht nur darum, Grundsatzpositionen zu verkünden oder eine gewisse Verpflichtung gegenüber Formalitäten, Gesetzen und Vorschriften zum Ausdruck zu bringen. Die Positionierungen sind das Ergebnis rationaler Überlegungen. Außerdem sahen wir positive Reaktionen von vielen Menschen, die am 25. Juli zum Feiern auf die Straße gegangen sind, vor allem in den urbanen Zentren. In den südlichen Provinzen, in Tataouine z.B., scheinen die Proteste bzw. Feierlichkeiten jedoch nicht so groß gewesen zu sein wie in Tunis. Wir sollten daher die Reaktionen in den urbanen Zentren nicht verallgemeinern.

Saïeds Machtübernahme hat Hoffnungen geweckt. Kann er diese Hoffnungen erfüllen?

Wir müssen unterscheiden zwischen Eliten und Massen. Die Eliten, die an politischen Erfolgen interessiert sind und sich von ideologischen Positionen leiten lassen, wünschen sich entweder eine «Korrektur des revolutionären Pfades» oder einen radikaleren Vorstoß zur Beseitigung oder Ausrottung des Systems an seinen Wurzeln. Andere waren eher daran interessiert, Ennahda loszuwerden, wie die Mitglieder der Volksbewegung, die immer noch den ewigen Konflikt zwischen Muslimbruderschaft [Tunesiens Ennahda-Partei wird der internationalen Bewegung der Muslimbruderschaft zugeordnet, Anmk.] und Nasseristen [panarabisch-sozialistische ideologische Strömung, benannt nach Ägyptens Ex-Präsident Gamal Abdel Nasser, Anmk.] reproduzieren. Die Massen handeln aber nicht unbedingt auf der Grundlage einer relativ kohärenten ideologischen Position. Ihre Reaktion ist Ausdruck ihres Missstandes und ihres Leidens. Sie reagierten aus ihrer sozialen Stellung und ihren Gefühlen heraus, nicht aufgrund des Versagens des Parlaments oder der Wirtschaftspolitik.

Es ist nicht das Parlament, das die Wirtschaftspolitik konzipiert und es ist nicht das Parlament, das sie umsetzt oder den Reichtum verteilt. Aber das ist es, was die Menschen fühlen und denken und was ihnen gesagt wird. Ich beziehe mich hier auf jene, die am 25. Juli auf die Straße gegangen sind und die Auflösung des Parlaments gefordert, Büros der Ennahda angegriffen und ihre Unzufriedenheit mit politischen Parteien und dem ihrer Meinung nach nicht repräsentativen Parlament zum Ausdruck gebracht haben. Für sie ist das Parlament das System. Aber das Parlament ist nicht das System. Es ist nur ein Teil des Systems. Das politische System Tunesiens als parlamentarisch zu bezeichnen, ist eine Übertreibung, denn das Parlament entwirft keine Gesetzte und zieht die Regierung nicht zur Rechenschaft. Die Diskussionen und Beratungen über die Wirtschaftspolitik [im Parlament, Anmk.] sind nicht ernsthaft. Wenn es um Gesetze über wichtige wirtschaftliche Regelungen oder den Haushalt geht, hat das Parlament überhaupt keinen Spielraum, um diese wesentlich zu verändern.

Aber in den Medien wird den Menschen gesagt, der Kern des Problems sei das Parlament. Ich glaube aber nicht, dass das Parlament den Hauptbestandteil des Systems darstellt oder gar für die Gestaltung der Politik zuständig ist. Bei den Kreditverträgen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) hat das Parlament kein Wort mitzureden. Diese Verträge werden vom Chef der Zentralbank und dem Finanzminister unterzeichnet. Am 25. Juli protestierten die Menschen nicht vor der Zentralbank, dem Finanzministerium oder dem Regierungssitz El Kasbah in Tunis. Wir haben stattdessen beobachten können, wie die Menschen ihren Unmut darüber zum Ausdruck brachten, was ihrer Meinung nach die Ursache des Problems ist.

Dennoch scheint es plötzlich vermehrt Anlass zu Optimismus in Tunesien zu geben. Ich glaube, die meisten Tunesier*innen waren nach dem 25. Juli optimistisch. Sie erwarteten von Saïed, dass er radikale Maßnahmen ergreifen würde. Bei einem Treffen mit Vertreter*innen der Finanzlobby sagte Saïed, er verstehe nichts von Wirtschaft. Als Verfassungsrechtler verstehe er nur das Gesetz. Er handelt also aus einer idealistischen und nicht aus einer materialistischen Position heraus. Und das ist es, was ihn daran hindert, auf die Missstände der Massen zu reagieren, die durch die Verschlechterung ihrer materiellen Situation verursacht werden. Das Problem ist, dass Politiker*innen und Medien über das politische System, Gesetze, die Verfassung sprechen; also über die Suprastruktur [im Gegensatz zur Substruktur oder Basis in der marxistischen Theorie, Anmk.]. Aber die Massen haben aus ihrer materialistischen Realität heraus gehandelt. Sie sind keine Idealisten. Was ich mit idealistisch meine, ist, dass diese Massen nicht an Diskussionen über Gesetze, Parteien, Regimeformen oder politischen Systemen interessiert sind. Sie interessieren sich in erster Linie für ihre materialistische Situation.

In den letzten Jahren konnten die Menschen aber klar erkennen, dass zentrale Forderungen der Revolution 2011 wie Würde und eine Verbesserung der Lebensbedingungen nicht erfüllt wurden und dass das derzeitige System nicht in der Lage war, sie zu erfüllen. Zu behaupten, dass sie nur aus rein materialistischer Sicht handeln, ist also etwas weit hergeholt.

Das sehe ich nicht so. Wenn ich von Idealismus spreche, dann spreche ich von Idealismus als einer Denkströmung, die dem Materialismus entgegengesetzt ist. Wenn ich von Materialismus spreche, dann meine ich damit die Lebensbedingungen, die wirtschaftliche Realität und die von Infrastruktur geprägte Alltagssituation vieler Menschen. Kaïs Saïed hat sich mehr als einmal auf den Philosophen Jean-Jacques Rousseau bezogen. Rousseau stand für soziale Gerechtigkeit ein, aber er war der Meinung, dass soziale Gerechtigkeit durch ein repräsentatives Parlament erreicht werden kann, das auf Einzelpersonen und nicht auf Unternehmen und Interessengruppen basiert. Das reicht aber nicht aus.

Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob die Menschen in Tunesien wirklich mit der Verfassung, der Komplexität des politischen Systems oder den Aktivitäten des Parlaments vertraut sind. Sie sind es nicht, sie wissen nicht, wie das Parlament in Wirklichkeit funktioniert. Sie wissen nicht, wie die Aufteilung der politischen Arbeit zwischen den verschiedenen Regierungsinstitutionen in der Realität funktioniert. In Tunesien ist es die Exekutive, die Gesetze ausarbeitet, nicht das Parlament. Außerdem werden viele Gesetze an private Anwaltskanzleien ausgelagert. Es sind nicht das Parlament und das politische System, die uns in die jetzige Situation gebracht haben. Der Grund, warum Saïed und seine Anhänger*innen den Forderungen des Volkes und dem großen Optimismus der Tunesier*innen nicht entsprechen können, liegt also darin, dass sie sich auf die Suprastruktur konzentrieren, d.h. auf Gesetze, Vorschriften, die Verfassung, Verfahren und die Regierungsform. Bislang haben wir keine Maßnahmen Saïeds gesehen, die sich gegen die wichtigen Bestandteile des Systems richten.

Was sind die wichtigen Bestandteile des Systems?

Meine Recherchen zeigen, dass Banken und Finanzinstitutionen der zentrale Bestandteil des sozialen und wirtschaftlichen Systems in Tunesien sind. Saïed hat aber ausdrücklich gesagt, dass er nichts von Wirtschaft versteht. Nur wenige Tage nach seinem Staatsstreich lud er Vertreter*innen der tunesischen Finanzlobby, bestehend aus Vorstandsvorsitzenden und Topmanager*innen tunesischer Banken, in den Präsidentenpalast ein, rief sie zur Kooperation auf und erwartete von ihnen naiverweise eine Senkung der Zinssätze. Noch lächerlicher und zugleich aufschlussreicher war es, dass einer der Vertreter der Finanzlobby nach dem Treffen erklärte, Saïeds «Empfehlungen» in Erwägung ziehen zu wollen. Er betrachtete dies also nicht als Auftrag oder Bitte. Saïed versucht nicht einmal zu signalisieren, dass er bereit ist, das System zu zerschlagen. Er ist bereit, mit korrupten Oligarchen zusammenzuarbeiten, die Reichtum konzentrieren, direkt an der Gestaltung der Wirtschaftspolitik beteiligt sind und direkt mit dem IWF zusammenarbeiten. Deshalb glaube ich nicht, dass er in der Lage sein wird, auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen. Denn Saïed versteht nichts von Wirtschaft. Seine Machtkonzentration wird also nicht zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen führen. Er setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein und hat gute Absichten. Er setzt sich für die Armen und Unterdrückten ein. Aber er ist ein Idealist, der sich auf die Suprastruktur konzentriert und wirklich glaubt, somit Veränderungen herbeiführen zu können.

Für Saïed sind politische Parteien ein Problem. In einem Interview hast du gesagt, er betrachte Parteien als «antirevolutionäre Werkzeuge zur Machtübernahme» und «politische Maschinen, die «falschen» Kandidaten Zugang zur Macht verschaffen. Derzeit werden Abgeordnete verhaftet, aber keine Geschäftsleute. Versucht Saïed, eines jener Instrumente zu beseitigen, mit denen Wirtschaftseliten ihre Macht ausüben?

Das Argument macht Sinn, ja. Aber schauen wir uns doch einmal die Wechsel der Abgeordneten in Tunesien seit 2011 an. Wie viele Abgeordnete haben es geschafft, wiedergewählt zu werden? Die Fluktuationsrate ist extrem hoch. Die Abgeordneten sind in diesem System eine Randerscheinung; ihre systemische Macht ist marginal. Politische Parteien sind ein Instrument zur Machtausübung und Abgeordnete nutzen es, um an die Macht zu gelangen. Parteien ermöglichen den Zugang zur Macht auch für Akteur*innen der Nicht-Eliten, aber sie können die Stabilisierung dieser Nicht-Eliten innerhalb der alten Eliten nicht garantieren. Sie stellen weder finanzielles Kapital noch symbolisches Kapital zur Verfügung. Sie können nur ein gewisses soziales Kapital bereitstellen.

Einigen Abgeordneten ist es gelungen, ihre Verbindungen zu Geschäftsleuten zu nutzen, um nach ihrem Ausscheiden aus dem Parlament gut bezahlte Jobs in der Privatwirtschaft oder in internationalen Institutionen zu bekommen. Bestimmte Abgeordnete loszuwerden verhindert nicht den Aufstieg neuer Abgeordneter. Die meisten der heutigen Abgeordneten gehörten vor 2019 nicht zu den Eliten, der alten Aristokratie, der Bourgeoisie oder den intellektuellen Eliten. Es wäre angemessener, sie als legislative Arbeiter*innen im Rahmen der kapitalistischen Arbeitsteilung zu bezeichnen. Sie werden dafür bezahlt, für Gesetze zu stimmen, die von anderen vorbereitet werden. Angesichts der relativ niedrigen Gehälter der Abgeordneten in Tunesien verfügen sie nicht über die Mittel, um vollwertige Abgeordnete zu sein und politisch unabhängig von Unternehmensinteressen zu arbeiten. Die einzige Macht, die sie haben, besteht darin, ein Gesetz zu blockieren, den Gesetzgebungsprozess zu verlangsamen und auf substanzlose Änderungen von Gesetzen zu drängen, die von der Exekutive vorgelegt wurden.

Was könnte Saïed tun, um strukturelle Probleme wirklich anzupacken?

Als Präsident hat Saïed drei Vorrechte. Er hat die Kontrolle über die Streitkräfte, einschließlich der Zuweisung ihrer Ressourcen. Er hätte auf die rasche Vergrößerung der Armee einwirken und die Mittel für militärische Ausrüstung, die zur Verbesserung der Interoperabilität mit anderen Armeen angeschafft wurde, anderweitig verwenden können. Er hat es nicht getan. Militärgerichte sind nicht für die Verfolgung von Zivilist*innen zuständig, aber sie haben das Recht, Angehörige der Sicherheitskräfte, einschließlich der Polizei, zu verfolgen. Er hätte die Militärjustiz nutzen können, um das Innenministerium zur Rechenschaft zu ziehen. Aber er hat auch das nicht getan. Er hat auch die Kontrolle über auswärtige Angelegenheiten. In der Verfassung ist aber nicht festgelegt, ob auswärtige Angelegenheiten politische oder wirtschaftliche Angelegenheiten oder beides umfassen. Da wir aber wissen, dass Saïed bereit ist, das Gesetz zu seinen Gunsten auszulegen, hätte er sich in die bilateralen und multilateralen Wirtschaftsbeziehungen einmischen können, z.B. in die Verhandlungen mit dem IWF, der Weltbank oder der EU. Diese internationalen Finanzinstitutionen spielen eine große, wenn nicht die wichtigste Rolle bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik in Tunesien, die sich unmittelbar auf die Lebensbedingungen der Tunesier*innen auswirkt. Er hätte den Handlungsspielraum des Außenministeriums verringern können. Er hätte das auch mit dem Ministerium für internationale Zusammenarbeit tun können. Aber er hat es nicht getan. Außerdem hat der Präsident das Recht, dem Parlament Gesetze vorzulegen und diese haben Vorrang, wenn sie dem Parlament vorgelegt werden. Aber auch das hat er nicht gemacht.

Zudem hätte er nach dem 25. Juli bereits bestehende Gesetze über die Beschlagnahmung von Vermögenswerten von Personen reaktivieren können, die von ihren Verbindungen zur Familie Ben Ali profitiert haben. Er hätte Banken beschlagnahmen können, die unter dem Ben Ali-Regime aufgrund der Verbindungen ihrer Eigentümer zum Regime entstanden sind, darunter große Unternehmen wie BIAT, eine der mächtigsten Banken Tunesiens, die Ben Alis angeheirateten Verwandten gehört. Stattdessen betonte Saïed, dass es keine Beschlagnahmungen geben werde. Er demontiert also weder das System noch verhindert er Kapitalflucht oder drängt auf die Verhaftung korrupter Geschäftsleute.

Können wir immer noch davon ausgehen, dass wir es mit jemanden zu tun haben, der sich des politischen Umfelds bewusst ist und weiß, dass er keine politische Basis hat und dass er eine gewisse Unterstützung entweder seitens der Straße oder seitens bestimmter Institutionen wie der UGTT oder Teilen der Eliten braucht?

Saïed hat nicht schnell genug gehandelt. Es gab einen kritischen Moment, als die Unterstützung für ihn auf dem Höhepunkt war, in dem er etwas hätte tun können. Aber jetzt ist das Momentum dafür vielleicht schon vorüber. Die Unsicherheit ist im Moment sehr groß. Und politische Eliten mögen keine Unsicherheit. Saïed könnte Unterstützung von radikaleren Strömungen und Aktivist*innen erhalten, die eher bereit sind, Risiken einzugehen. Aber die Unterstützung wichtiger Institutionen wie der UGTT ist bei diesem Grad an Unsicherheit nicht zu bekommen. Außerdem hat sich Saïed mit bestimmten nicht-progressiven Regimes verbündet, z.B. mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Bahrain, Ägypten und Algerien. Selbst die UGTT beklagt sich darüber. Immer mehr Organisationen und Parteien stehen diesen Bündnissen skeptisch gegenüber. Auch die Wirtschaftseliten stehen Saïed wegen seiner Inkohärenz skeptisch gegenüber. Er hat einige positive Botschaften [in Richtung und im Sinne dieser Wirtschaftseliten, Anmk.] ausgesandt, aber er mag keine Privatisierungen und ist gegen Freihandel mit der EU. Er möchte mit diesen Akteur*innen zusammenarbeiten, aber sie scheinen nicht interessiert zu sein. Selbst westliche Mächte trauen ihm nicht. Saïed hat keine strategischen Verbündeten und er verliert bereits an Unterstützung.

In der Tat scheint die derzeitige Situation keinen radikalen Wandel zuzulassen. Der Neoliberalismus ist immer noch hegemonial; die tunesische Linke ist extrem schwach und hat keine kohärente Erzählung. Die Linke hat keine Alternative vorzuweisen und es gibt keine kritische Masse hinter ihr, die einen radikalen Wandel ermöglichen könnte. Um es mit den Worten Antonio Gramscis zu sagen: Es ist zu früh für die Linke, vom Stellungskrieg zum Manöverkrieg überzugehen