Kommentar | Partizipation / Bürgerrechte - Krieg / Frieden - Zentralasien Es lebe der Freiheitskampf des afghanischen Volkes!

Das Land braucht weder das Emirat noch die Republik von Ghani und Abdullah, meint Masture Hares

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Masture Hares,

Afghanische Frauen rufen Slogans und protestieren in Kabul, Afghanistan, 7. September 2021.
  Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Wali Sabawoon

Nach fast 20 Jahren ist die Besatzung unseres geliebten Landes endlich zu Ende. Der Aggressor – die US-Regierung und die kriegstreibende Maschinerie der NATO – war unter dem Vorwand gekommen, Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Frauenrechte zu verteidigen und seine blutrünstigen ideologischen Söhne, die Taliban und Al-Qaida, zu vernichten. Tausende von Bomben wurden abgeworfen und mehr als 100 000 Soldaten in diesem Tal stationiert, das des Krieges so überdrüssig ist.

Masture Hares kommt aus Afghanistan, wo sie als Journalistin tätig war und mit RAWA und anderen Frauenorganisationen zusammengearbeitet hat. Seit 2013 lebt sie in Berlin.

Um ihre Ziele zu erreichen, haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten verschiedene Marionetten- und Söldnerregierungen eingesetzt. Es ist gut belegt, dass die US-Außenpolitik zur Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus beigetragen hat; das gilt insbesondere für die Pest der Taliban und des IS. Sie haben auch die verhassten Dschihadisten der Nordallianz großzügig unterstützt und gestärkt und eine bereits abhängige Wirtschaft in den Ruin getrieben. In der Folge verschärften sich die Interventionen anderer Länder aus der Region, insbesondere Pakistans und Irans. Heute ist Afghanistan das korrupteste und unsicherste Land der Welt, mit Millionen von Drogenabhängigen und gezeichnet von den Verheerungen ethnischer und religiöser Kriege.

Angesichts dieser Situation und des Abschieds von den US-Amerikaner*innen und ihren Verbündeten aus Afghanistan möchte ich einige Gedanken über das Besatzungsende und die Zukunft des Landes formulieren.

Gebrochene Versprechen

Der Truppenabzug der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten bedeutet nicht das völlige Ende der Besatzung und wird sicherlich auch keinen Frieden bringen. Der «Islamische Staat» (ISIS) hat bereits Terroranschläge in Kabul verübt, und die USA haben die Bevölkerung vor weiteren Anschlägen gewarnt. Bei einem Selbstmordattentat in der Nähe des Flughafens Kabul wurden nicht nur 13 US-Soldaten, sondern insgesamt mindestens 180 Menschen, darunter Frauen und Kinder, die aus dem Land fliehen wollten, getötet und etwa 200 verletzt. Die Zahl der Todesopfer dieses unmenschlichen Anschlags steigt täglich.

Die USA behaupten, einen Drohnenangriff auf ein Fahrzeug des ISIS-Ablegers ISIS-Khorasan (ISIS-K) in der Stadt Kabul ausgeführt zu haben. Eine Rakete schlug jedoch in einem Wohnhaus ein und tötete ein kleines Kind. Am 30. August wurden fünf Raketen – vermutlich von ISIS-K – auf den Flughafen Kabul abgefeuert. Von diesem Angriff wussten die USA im Vorfeld und hatten vor der drohenden Gefahr gewarnt.

Die verschärften Angriffe durch ISIS-K haben die USA in ihrem Vorsatz bestärkt, die Luftbrücke und die Evakuierungsaktion innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens abzuschließen. Obwohl die US-Regierung und ihre Verbündeten zugesichert hatten, Tausende von Menschen zu evakuieren, die rechtsgültige Dokumente vorweisen können, erklärten sie nun, dies sei aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht länger möglich. Damit wurde das Versprechen gebrochen, das man den Menschen gegeben hatte, die in den letzten 20 Jahren mit den US-Kräften zusammenarbeiteten (und die ihr Leben riskierten, um nach Kabul zu gelangen), was tiefe Enttäuschung und Verbitterung hervorgerufen hat.

Frieden mit den Taliban?

Mit den Taliban wird es keinerlei substanziellen Frieden geben. Der Totalitarismus ihres islamischen Regimes wird fundamentalistisches Gedankengut befördern und das Land in eine tiefe soziale Krise stürzen. Einige Beobachter*innen äußern derzeit die Hoffnung, mit dem Sieg der Taliban werde der Ausbreitung dschihadistischer Söldner Einhalt geboten. Ich sehe die Lage ganz anders. Ich bin überzeugt, dass bis zur Beendigung der Aggression durch ihre ausländischen Herren weitere Söldnergruppen auf den Plan treten werden, so wie es schon seit 1353 (dem Jahr 1974 im gregorianischen Kalender) geschieht. ISIS-K und Hizb ut-Tahrir sind in Afghanistan bereits aktiv geworden.

Das Taliban-Regime unterdrückt die öffentliche Freiheit und begrenzt den Spielraum von demokratischen, nationalistischen, libertären und linken Kräften. Wir haben miterlebt, wie sie Khasha, einen Komiker aus Kandari, brutal ermordeten, und wir wissen, dass sie es auch auf andere Künstler*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, NGO-Mitarbeiter*innen und Frauen abgesehen haben. Seit ihrem Einmarsch am 15. August hat sich das pulsierende Kabul in eine Geisterstadt verwandelt. Die Menschen haben Angst, ihre Wohnungen zu verlassen, und sperren sich seit Wochen zuhause ein. Das hat viele Afghan*innen deprimiert – und traumatisiert. Besonders betroffen sind jedoch Mädchen und Frauen, die nicht mehr frei zur Schule oder arbeiten gehen können. Viele Menschen habe ihre Arbeit verloren und mit ihr die Hoffnung; die meisten Menschen wissen nicht, was sie als nächstes tun sollen. Die Banken waren zehn Tage lang geschlossen; zurzeit können wöchentlich nur 200 US-Dollar abgehoben werden. Der Alltag ist unerträglich geworden.

Wenn unsere Nation nicht geeint ist und wenn die Organisationen, die sich als liberal und fortschrittlich bezeichnen, keine nationale Einheitsfront gegen die vermeintlichen Patrioten und ihre regionalen und internationalen Unterstützer bilden, erwartet unser unterdrücktes Volk ein noch schlimmeres Schicksal – es wird dann generationenlang in diesem Inferno leiden müssen.

Anhaltende Ungewissheit

Die Zukunft Afghanistans ist ungewiss. Derzeit gibt es weder eine funktionierende Verwaltungsstruktur noch eine Regierung. Nach dem Abzug der US-Truppen werden die Taliban innerhalb Afghanistans über mehr Glaubwürdigkeit verfügen und nicht mehr befürchten müssen, für ihre brutalen Handlungen und illegalen Aktionen zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Die Afghan*innen haben verstanden, dass sich die Taliban derzeit nur deshalb nach außen gemäßigt geben, um von der internationalen Gemeinschaft anerkannt zu werden. Die Taliban haben hingegen nicht begriffen, dass das afghanische Volk ihr wahres Gesicht nicht vergessen hat. Es ist überzeugt, dass sich die Denkweise der Taliban nicht geändert hat und auch nicht ändern wird. Es weiß, dass die Taliban Männer, Frauen, Kinder und sogar Säuglinge geschlagen haben, die zum Flughafen wollten. Das Einzige, was sich geändert hat, ist, dass die Taliban nun vor internationalen Fernsehkameras und Journalist*innen ein freundliches Gesicht aufsetzen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Interventionen der Nachbarländer die bestehenden Probleme, etwa im Bereich der Wasserversorgung, des Drogenhandels, des Rohstoffabbaus und der Kultur, noch verschärfen werden. Darüber hinaus werden die Zahl der Söldner und die Korruption wahrscheinlich zunehmen. Das derzeitige Geschacher, das neue zerstörerische Kriege entfacht, macht das sehr deutlich.

Armut und soziale Konflikte

Mit der Durchsetzung einer Politik des freien Marktes und des Neoliberalismus hat die Besatzung enorme Armut geschaffen. Der grundlegende soziale Konflikt wird sich vertiefen, und die politischen Krisen infolge dieser endlosen Armut werden die auf geplündertem Reichtum errichteten Paläste zum Einsturz bringen.

Die Preise für Lebensmittel, Kleidung und Versorgungsleistungen steigen bereits. Bald werden die Menschen ihre Ersparnisse aufgebraucht und kein Geld mehr haben, um sich zu kaufen, was sie benötigen. Die Armut wird dann noch mehr soziale Unruhen auslösen, weil die Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können, vor die Wahl gestellt werden, sich den Taliban anzuschließen oder zu stehlen, um zu überleben. Dieser Weg führte auch schon vor den Taliban ins Unheil.

Im wissenschaftlichen Bereich stellt die große Wissbegier unserer Jugend einen Hoffnungsschimmer dar, den wiederholten Selbstmordanschlägen der Taliban zum Trotz. Bildung ist die Grundlage für die Entwicklung eines Landes. Der Schatten der amerikanischen und regionalen Machthaber war jedoch stets präsent. Jetzt, unter der Herrschaft der Taliban-Dschihadisten, sieht die Zukunft der Wissenschaft und des technischen Fortschritts düster aus. Die Taliban werden die Lehrpläne überarbeiten und Reformen einleiten, die ihrer extremistischen Ideologie entsprechen. Den Taliban zufolge dürfen weibliche Lehrkräfte nicht an Universitäten unterrichten, und Frauen, die studieren wollen, sollten dies in separaten Klassenzimmern tun, wo sie ausschließlich von weiblichen Lehrkräften unterrichtet werden. Die Taliban werden Studienfächer abschaffen oder durch Theologie ersetzen, um ihre Ansichten zu verbreiten und die unter ihrem Regime ausgebildeten Kinder schleichend zu indoktrinieren.

Hinzu kommt, dass die Taliban es Frauen nicht erlaubt haben, ihre Arbeit wiederaufzunehmen.

Eine düstere Zukunft

Angesichts der aktuellen Lage wollen unzählige Menschen das Land verlassen, besonders jene, die mit den USA oder ihren NATO-Verbündeten zusammengearbeitet haben. Zumeist handelt es sich um Intellektuelle und hochqualifizierte Bürger*innen, die im Ausland studiert haben und über jahrelange Erfahrungen in bestimmten Forschungsgebieten verfügen. Möglicherweise werden die USA vom Zustrom dieser jungen Menschen mit ihrer Expertise, ihren Begabungen und ihrem Wissen profitieren. Ihr Heimatland wird jedoch einen Brain-Drain (eine Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte) erleiden und seine vielversprechendsten Bürger*innen verlieren. Im Ergebnis wird ein Mangel an Expert*innen in den Bereichen Wirtschaft, Bildung, Politik und Sozialwissenschaften die afghanische Nation lähmen.

Die Lage in Afghanistan ist derzeit noch unbeständig. Es bleibt abzuwarten, was in den nächsten Wochen und Monaten geschehen wird. Ich persönlich denke, dass die Taliban, sobald sie ihre alte Macht zurückerlangt haben, jene barbarischen Aktionen fortsetzen werden, die wir alle nur zu gut aus der Zeit vor 2001 kennen.

Deshalb braucht das Land die Einigkeit, das Bewusstsein und die Beharrlichkeit des Volkes. Nur so können die Afghan*innen ihre Rechte zurückerobern und sich ein freies, unabhängiges, demokratisches und säkulares Afghanistan sichern. Darunter geht es nicht.

Übersetzung von Max Henninger & Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective