Nachricht | Rassismus / Neonazismus - Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa - Frankreich-Wahl 2022 Wer wählt Marine Le Pen?

Die Rechtsextremistin könnte nächstes Jahr französische Staatspräsidentin werden. Doch an der Basis ihrer Partei wimmelt es von Widersprüchen. Innenansichten einer fragilen Koalition.

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Bilal Berady,

Marine Le Pen unter ihren Anhänger*innen: Kongress des «Rassemblement National» am 3./4. Juli 2021 in Perpignan. picture alliance / abaca | Patrick Batard

Der mögliche Sieg[1] von Marine Le Pen und ihrer Partei Rassemblement National (RN) bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich im Frühjahr nächsten Jahres ist alarmierend. Themen wie innere Sicherheit und Einwanderung, bei denen die Partei große Glaubwürdigkeit genießt, stehen im Zentrum der politischen Debatte und eröffnen ihr immense Wahlchancen. Als Vertreter dieser Themen hatte der Rassemblement National lange Zeit den Status eines Sammelbeckens der Wut und konnte es sich leisten, andere wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen unbeantwortet zu lassen. Das relativ unrealistische Wahlversprechen von 2017, aus dem Euro auszutreten, ist ein Beleg dafür. Im Jahr 2022 wird die Partei von Marine Le Pen dagegen versuchen, mit einem glaubwürdigen, gesamtgesellschaftlich relevanten Programm anzutreten. Dafür bedarf es einer über die Kernthemen der Partei hinaus ideologisch geschlossenen Wählerschaft.

Bilal Berady ist Masterstudent der Soziologie am Institut für politische Studien Paris (Sciences Po). Seine Forschungsthemen sind politische Soziologie und die radikale populistische Rechte. Er ist Mitglied der Stiftung Espaces Marx sowie Mitglied des europäischen Netzwerks transform! europe.

Seit der Gründung befindet sich die Wählerbasis des RN in einem ständigen Wandel, von einer starken Verankerung in der industriellen und kommerziellen Bourgeoisie und den freien Berufen zu einer Wählerschaft, die sich hauptsächlich aus Arbeiter*innen und kleinen Selbstständigen zusammensetzt.[2] Ein Jahr vor der Wahl lässt sich das Gestammel des RN über sein zukünftiges Wirtschaftsprogramm mit der Schwierigkeit erklären, eine sozial und ideologisch heterogene Wählerbasis hinter seiner Agenda zu vereinen. Die RN-Wählerschaft wurde oft als einheitlicher Block wahrgenommen, der durch die Figur des typischen RN-Wählers repräsentiert wird: der weiße, gering qualifizierte Arbeiter kurz vor der Rente, der in einem Vorort lebt und dessen größte Sorge die Einwanderung ist. Dieses Bild ist ein Mythos.[3]

Die Basis des RN sollte vielmehr als ein Konglomerat sehr heterogener Individuen verstanden werden, die teilweise widersprüchliche ideologische Positionen einnehmen. Ausgehend von dieser Feststellung kann man durch die Untersuchung der ideologischen Spaltungen innerhalb der RN-Wählerschaft verstehen, wie schwierig es für Marine Le Pen ist, ein Programm auf die Beine zu stellen und eine Rhetorik zu entwickeln, mit denen sie möglichst viele Wähler*innen mobilisieren kann. Diese Überlegungen könnten auch dazu genutzt werden, eine Strategie auszuarbeiten, um diesem reaktionären politischen Programm entgegenzuwirken.

Die folgende Analyse basiert auf Daten aus einer Umfrage, die 2019 unter 2.000 französischen Wahlberechtigten durchgeführt wurde. Betrachtet werden hier die Ansichten zu sogenannten «kulturellen» und wirtschaftlichen Politikfeldern derjenigen Personen, die bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und den Europawahlen 2019 für den RN gestimmt haben.

Die Wählerschaft des RN – ein einheitlicher politischer Block?

Inwiefern ist das traditionelle Rechts-Links-Spektrum für Wähler*innen des RN relevant? Die Daten beschreiben eine Wählerschaft, die zwischen einem Pol von etwa 30 Prozent, welcher extrem rechte politische Positionen vertritt, und einem kleineren Pol, der in der politischen Mitte steht, angesiedelt ist. Es besteht ein gewisser Konsens über eine rechtsgerichtete politische Identität, die 55 Prozent der Wähler*innen für sich reklamieren; nur ein Prozent vertritt äußerst linke Positionen. Wie lassen sich diese Unterschiede in der Positionierung der RN-Wählerschaft erklären?

Zunächst einmal tendieren die politisch weniger involvierten Befragten traditionell eher zu politischen Positionen in der Mitte, wodurch eine eindeutige Zuordnung auf dem Rechts-Links-Spektrum entfällt. Ein niedriges Bildungsniveau erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person den RN wählt. Bei dem Antwortverhalten der RN-Wählerschaft könnte es sich aber auch um eine explizite Ablehnung der Rechts-Links-Achse handeln, da diese Spaltung für die politische Einstellung der Befragten nicht relevant ist. Der RN fordert die Zweiteilung zwischen Rechts und Links heraus, indem er die politischen Vorschläge dieser beiden Lager übernimmt, beziehungsweise indem er eine neue, stärker vertikal angeordnete Spaltung schafft, welche die Themen Nation und Globalisierung[4] aufgreift.

Die Positionierung der Wähler*innen in der Mitte des politischen Spektrums kann auch als eine Strategie aufgefasst werden, dem Stigma des Rechtsextremismus zu entgehen, das der RN-Basis anhaftet. Unabhängig davon, ob es sich um eine Frage der Inkompetenz handelt, um den Wunsch, das traditionelle Rechts-Links-Spektrum zu unterlaufen oder um den Versuch, das Stigma des «rechtsextremen Wählers» zu vermeiden, ist die RN-Wählerschaft gespalten in eine Mehrheit, die sich auf der rechtsextremen Seite positioniert, und einen kleineren Teil, der sich in der Mitte verortet.

Einwanderung als verbindendes Thema

Der RN wird oft als Nischenpartei bezeichnet, das heißt als Partei, die sich auf eine begrenzte Anzahl von Themen spezialisiert. Historisch gesehen beruht die Rhetorik des RN hauptsächlich auf der Stigmatisierung von Menschen mit Migrationshintergrund. Es wäre daher logisch, dass die RN-Wähler*innen eine gemeinsame Haltung des Misstrauens, der Angst oder der Ablehnung gegenüber Ausländer*innen oder Menschen, die als solche wahrgenommen werden, teilen. Allerdings kommen Studien über die Stimmabgabe bei radikalen Rechten zu unterschiedlichen Ergebnissen im Hinblick auf die Hauptmotivation für diese Fremdenfeindlichkeit. Studien zeigen, dass Fremdenfeindlichkeit durch den aufgrund von Zuwanderung angeblich eingeschränkten Zugang zu Ressourcen, beispielsweise zum lokalen Arbeitsmarkt[5] oder zu Sozialleistungen, geschürt wird.[6] Andere konzentrieren sich vor allem auf die kulturelle Bedrohung, die von der Einwanderung ausgehen könne, in dem Sinne, dass sie die lokale Kultur durch die Einführung neuer Bräuche und Werte verzerren würde, wodurch bei Wähler*innen das Gefühl verstärkt werde, Verlierer*innen der Globalisierung zu sein.[7]

Die Daten bestätigen eine starke Vorherrschaft von Fremdenfeindlichkeit in der RN-Wählerschaft. Zwei Drittel stimmen der Auffassung zu, dass Ausländer*innen eine Bedrohung für die Kultur ihres Landes darstellten.[8] Allerdings scheinen die wirtschaftlichen Herausforderungen in Zusammenhang mit der Einwanderung der stärkste gemeinsame Nenner zu sein. 78 Prozent der RN-Wähler*innen sind nämlich der Meinung, dass die Einwanderer und Einwanderinnen nur nach Frankreich kommen, um das Sozialversicherungssystem auszunutzen. Was die Wahrnehmung von Einwanderung auf dem Arbeitsmarkt angeht, so stimmen «nur» 62 Prozent der RN-Wähler*innen darin überein, dass ausländische Arbeitskräfte den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen. Diese Daten verdeutlichen, dass die – in den Augen der RN-Wählerschaft – wirtschaftliche Bedrohung eher dem Sozialstaat als dem Arbeitsmarkt gilt. Diese Haltung erklärt auch die Betonung der nationalen Zugehörigkeit, wenn es um den Kampf um die vom Wohlfahrtsstaat bereitgestellten Ressourcen geht.

Begrenztes Streben der RN-Wählerschaft nach sozialer Gerechtigkeit

Mit der Ankunft von Marine Le Pen an der Spitze des RN im Jahr 2011 stellte die Partei, die aus der rechtsextremen Splittergruppe Ordre Nouveau[9] hervorging, die Themen Sicherheit und Einwanderung nicht mehr so stark in den Fokus, um sich stärker auf wirtschaftliche Themen zu konzentrieren.[10] In Zeiten des Kalten Krieges war das antikommunistische Wahlprogramm von Jean-Marie Le Pen entschieden neoliberal; es forderte Privatisierungen und warf dem Staat «Verschwendung» vor. Im Jahr 2012 grenzte sich das Programm Le Pens in diesen Fragen vom Programm der konservativen UMP ab. Der RN versucht seither, das Verständnis eines Klassenkampfs zwischen Arbeit und Kapital durch die alternative Konzeption eines Konflikts zwischen den «Kleinen» und den «Großen» zu unterlaufen und sein populistisches Image herauszustellen.

Abgesehen vom Thema Einwanderung, das die Wählerschaft eint, ist der RN in zwei ideologische Blöcke gespalten: der eine fordert mehr soziale Gerechtigkeit, der andere äußert sich diesbezüglich gleichgültig. 56 Prozent der RN-Wähler*innen sind für eine Umverteilung von Reichtum; ein Drittel steht diesem Thema gleichgültig gegenüber. Im Gegensatz dazu favorisieren 46 Prozent der französischen Wahlberechtigten stärkere Umverteilung und 38 Prozent stehen ihr gleichgültig gegenüber. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft befürworten nur etwas über 16 Prozent der FN-Wählerschaft, während 55 Prozent dies gleichgültig sehen (im Vergleich dazu liegen die Zahlen bei der Gesamtbevölkerung bei 18 Prozent beziehungsweise 55 Prozent). Die Unterstützung für soziale Politik ist begrenzt

Ein poröses dreigeteiltes Klassenbewusstsein

38 Prozent der FN-Wähler*innen stehen der Idee, die Steuern anzuheben, um die öffentlichen Dienstleistungen zu erhöhen, gleichgültig gegenüber. Demgegenüber wollen 51 Prozent von ihnen öffentliche Dienstleistungen reduzieren, um die Steuerlast zu senken (45 Prozent bzw. 41 Prozent im nationalen Panel). Diese Positionierung der rechtsextremen Wählerschaft lässt sich durch Misstrauen gegenüber öffentlichen Dienstleistungen und speziell gegenüber deren Nutzern erklären. Die Rhetorik der «Abhängigkeit von Sozialstaat» richtet sich sowohl gegen Menschen mit Migrationshintergrund als auch gegen andere Bezieher*innen staatlicher Leistungen.

Das Streben der RN-Wähler*innen nach sozialer Gerechtigkeit orientiert sich an einem «Dreiklassenbewusstsein».[11] Mit anderen Worten: Sie definieren sich selbst als «kleine Mittelklasse»[12] und prangern die selbst erfahrene Ungerechtigkeit an – gegenüber den «Großen», die sie ausbeuteten, ebenso wie gegenüber den «Kleinen», die aufgrund ihrer «Abhängigkeit von Sozialleistungen» von den Früchten ihrer Arbeit profitierten. Ihr Verständnis von sozialer Gerechtigkeit ist an Leistung gekoppelt und unterscheidet sich von der historisch von den Parteien der Linken vertretenen Verständnis eines Konflikts zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse.

Das Dreiklassenbewusstsein innerhalb des RN ist auch durch eine negative Sicht auf Arbeitslose geprägt. Die Ansichten über Arbeitslose hängen von der sozialen Umgebung ab, in der die Wahlberechtigten leben, von den beruflichen Erfahrungen, die sie gemacht haben, sowie von ihrer direkten Beziehung zu Arbeitslosen, wie beispielsweise Familienmitgliedern oder Freund*innen. Das Stigma der «Abhängigkeit von Sozialleistungen» ist allerdings in dieser Hinsicht nicht das einzige Thema. Die Daten zeigen, dass die RN-Wählerschaft gespalten ist zwischen einer misstrauischen, mitfühlenden und gleichgültigen Haltung gegenüber der Arbeitslosenpolitik: 39 Prozent stimmen der Aussage voll und ganz zu, dass die meisten Arbeitslosen sich nicht wirklich um einen Job bemühten. Umgekehrt haben 29 Prozent der RN-Wähler*innen eine sehr empathische Einstellung gegenüber Arbeitsuchenden. Drei von zehn Wähler*innen nehmen eine indifferente Haltung zu diesem Thema ein. Während bei der Beurteilung des Arbeitswillens die misstrauische Haltung stärker als die empathische Haltung vertreten ist, kehrt sich dieses Verhältnis bei den Bedingungen zur Wiederaufnahme der Berufstätigkeit um. 27 Prozent stimmen der These zu, dass Arbeitslose einen beliebigen Job akzeptieren müssen, auf die Gefahr hin, ihr Arbeitslosengeld zu verlieren. 37 Prozent beziehungsweise 36 Prozent der RN-Wählerschaft haben hier eine empathische oder gleichgültige Einstellung. Das RN-Wahlprogramm von 2017 enthielt keine Vorschläge im Hinblick auf Arbeitslose; ein geschicktes Manöver, um Spaltungen innerhalb der eigenen Anhängerschaft zu vermeiden.

Während das Verhältnis zu den Arbeitslosen in der RN-Basis gespalten ist, gilt dies weniger für das Verhältnis zu Arbeitnehmer*innen: Die Verteidigung ihrer Rechte genießt eine ideologische Vormachtstellung. 57 Prozent der Wähler*innen sind gegen die Idee, dass die Regierung die Entlassung von Festangestellten erleichtern solle, nur 18 Prozent befürworten diesen Vorschlag. Ebenso stimmen vier von zehn RN-Wähler*innen voll und ganz zu, dass die Regierung den Abschluss von befristeten Arbeitsverträgen erschweren solle. Die Begrenzung der Einstellung von Beschäftigten mit befristeten und damit prekären Verträgen bedeutet eine Sicherung des Status festangestellter Arbeitnehmer*innen. Gegenüber diesem Vorschlag nehmen fast vier von zehn RN-Wähler*innen eine indifferente Position ein und nur 23 Prozent sind strikt dagegen.

Angesichts dieser Ergebnisse scheint es den RN-Wähler*innen schwer zu fallen, sich mit den oft auch als «kleine Mittelklasse» bezeichneten Chefs von mittelständischen Unternehmen in der Frage der Arbeitnehmerrechte zu einigen. Die widersprüchlichen Ansichten gegenüber Arbeitslosen und der geringe Zuspruch für liberale Arbeitsmarktreformen zeigen, dass das dreigeteilte soziale Bewusstsein nicht von der gesamten RN-Wählerschaft geteilt wird. Diese Feststellung deutet auf eine Schwäche in der Zusammensetzung der RN-Wählerbasis bei den zentralen Fragen des Wirtschaftssystems und der Rolle des Staates hin.

Das Thema Arbeit als Schwachstelle der radikalen Rechten

Wie können wir angesichts einer politischen und medialen Agenda, die auf die fremdenfeindlichen und reaktionären Themen der radikalen Rechten fixiert scheint, den Wahlerfolg der RN aufhalten und einem alternativen Programm Gehör verschaffen? Unsere Ergebnisse zeigen eine sehr homogene RN-Wählerschaft in Bezug auf Fremdenfeindlichkeit und Sicherheitsfragen, die aber hinsichtlich wirtschaftspolitischer Fragen tief gespalten ist.

Diese Ungereimtheiten können ein echtes Hindernis für den RN darstellen, das die Linke ausnutzen kann, indem sie Marine Le Pen etwa dazu drängt, zu diesen Themen Stellung zu beziehen. Darüber hinaus besteht die Spaltung der Wählerschaft auch bei den sogenannten «kulturellen» Werten fort. Gegenüber der LGBT+-Community nehmen die RN-Wähler*innen eine neutrale, allerdings fragile Haltung ein. Die früher offensichtlich homophobe Partei tritt heute gegenüber sexuellen Minderheiten toleranter auf. Dennoch ist der RN gefangen zwischen dem traditionalistischen Teil seiner Wählerschaft und einer aufgeschlosseneren jungen Wählerschaft. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb Marine Le Pen nicht an den Demonstrationen gegen die «Ehe für alle» teilnahm.[13] Die Einheit des FN-Wählerblocks besteht auch aufgrund der fehlenden Positionierung der Partei zu diesen Fragen fort.

Wir konnten beobachten, dass eine Mehrheit der RN-Wähler*innen sich klar für stabile und sichere Arbeitsbedingungen einsetzt. Einen besseren vertraglichen, sozialen und wirtschaftlichen Schutz für Arbeitnehmer*innen auf die politische Agenda zu setzen, könnte bedeuten, die Wählerschaft des RN zu spalten, da die Partei 2022 mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm antreten will.[14] Dieser Umbruch könnte die Arbeiterklasse tatsächlich davon abhalten, für den RN zu stimmen, wenn die Partei ihre Europa- und Globalisierungskritik, welche die ideologische Grundlage ihrer Sozialpolitik zugunsten von Arbeitnehmer*innen bildete, nicht mehr offensiv vertritt. Ebenso ist es jedoch von großer Bedeutung, einen klaren und kompromisslosen antirassistischen Diskurs angesichts der Rhetorik des kulturellen Niedergangs zu führen, der die öffentliche Debatte vollkommen einnimmt. Eine Alternative zu Marine Le Pen kann nicht ausschließlich durch die Verteidigung von öffentlichen Dienstleistungen, Verstaatlichungen und die Priorisierung der Steuergerechtigkeit etabliert werden.

Die Linke als Ganze hat bisher versucht, sich der radikalen Rechten entgegenzustellen, indem sie nationale Solidarität durch die Verteidigung des öffentlichen Dienstes und eine starke wirtschaftliche Rolle des Staates einforderte. Diese Strategie scheint allerdings nicht auszureichen, Marine Le Pen zu schwächen, da sie auf dieselbe Art von Vorschlägen setzt wie die Strategie des RN, wobei Le Pen auf einer besseren territorialen Vernetzung von öffentlichen Dienstleistungen besteht. Ganz offensichtlich unterscheidet sich die Philosophie Marine Le Pens bezüglich öffentlicher Dienstleistungen von jener der Linken.[15] Der nationalistische RN stellt die allgemeine Gleichbehandlung in Frage, und die Stärkung des Staates soll in erster Linie über dessen hoheitliche Aufgaben erfolgen. Außerdem kann ein Staat, der sich in wirtschaftliche Angelegenheiten einmischt (etwa um Standortverlagerungen zu verhindern), leicht Teil der ideologischen Denkstruktur des RN werden (der Produktionsstandort Frankreich wird garantiert und die nationale Bourgeoisie mit Finanzhilfen umgarnt). Die politische Linke sollte ihr Programm, das auf nationaler Solidarität, Umverteilung des Reichtums und der Verteidigung von Industriearbeitsplätzen setzt, keinesfalls aufgeben, diese Themen aber nicht zu ihrem Steckenpferd machen.

Wie aber könnte ein Programm der Linken für 2022 aussehen? Die Stärke der Linken liegt im Reichtum ihrer politischen Vorschläge zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und zum Angebot einer Alternative zum kapitalistischen System. Um die reaktionäre politische Agenda, die von der Polemik gegen Minderheiten mit Migrationshintergrund geprägt ist, zu umgehen, könnte es sinnvoll sein, zentrale Forderungen rund um die Ausgestaltung der Lohnarbeit zu finden. Innovative Vorschläge gibt es hierzu von akademischer und aktivistischer Seite bereits seit langem. Die Partei La France Insoumise fordert die Festlegung einer Maximalquote für prekäre Verträge in Groß- und mittelständischen Unternehmen.[16] Europe-Ecologie les Verts schlägt ein bedingungsloses Grundeinkommen vor, individuell, dauerhaft und unveräußerlich, das «der Logik der Überwindung des Kapitalismus folgend, auf einem Prinzip des Rechts auf Existenz außerhalb der Lohnarbeit und ihrer unterordnenden Beziehung aufbaut».[17] Seitens der Kommunistischen Partei könnte im Präsidentschaftswahlkampf auch die Idee von Bernard Friot[18] für einen lebenslangen Lohn propagiert werden, bei dem Gewinne in Sozialbeiträge umgewandelt werden, um jeder Bürgerin und jedem Bürger ein Gehalt zu zahlen.

Es gibt also einen gemeinsamen Nenner unter den linken Kräften, mit dem der besorgniserregende Aufstieg von Marine Le Pen gestoppt werden könnte. Seine volle Kraft könnte er entfalten, wenn er Teil einer gemeinsamen Strategie würde.


[2] Dézé A., 2017, Kapitel 9 - Que sait-on du Front national ? (Was weiß man über den Front National), Presses de Sciences Po.

[3] Mayer N., 2018, „Qualitatif ou quantitatif“ ? Plaidoyer pour l’éclectisme méthodologique (Qualitativ oder Quantitativ? Plädoyer für methodologischen Eklektizismus), Bulletin of Sociological Methodology/Bulletin de Méthodologie Sociologique, 139, 1, S. 7‑33.

[5] Bolet D., 2020, „Local labour market competition and radical right voting: Evidence from France“, European Journal of Political Research, 59, 4, S. 817‑841.

[6] Michel, Elie. Le vote FN, un vote de protection? : analyse et dynamique électorale du Welfare Chauvinism à l'élection présidentielle de 2007, (Die FN-Wahl, eine Schutzwahl? Analyse und Wahldynamik des Welfare-Chauvinism bei den Präsidentschaftswahlen 2007); Dissertation von Nicolas Sauger.

[7] Kriesi H., Grande E., Lachat R., Dolezal M., Bornschier S., Frey T., 2006, „Globalization and the transformation of the national political space: Six European countries compared“, European Journal of Political Research, 45, 6, S. 921‑956.

[8] Die Befragten geben ihre Meinung auf einer Skala von 1 bis 11 nach dem Grad ihrer Zustimmung an. Die Antworten sind von 1 bis 4 und von 8 bis 11 gruppiert, um (Nicht-)Zustimmung auszudrücken. Wir haben uns dafür entschieden, die Positionen 5, 6 und 7 als Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber der Frage zu berücksichtigen.

[9] Für weitere Informationen zur parteipolitischen Dynamik bei der Gründung des Front National: Aït-Aoudia M., Dézé A., 2011, „Contribution à une approche sociologique de la genèse partisane“ (Beitrag zu einem soziologischen Ansatz bei der parteipolitischen Entstehung, Revue francaise de science politique, Band. 61, 4, S. 631‑657.

[10] Ivaldi, Gilles. „Kapitel 7 / Du néolibéralisme au social-populisme ? La transformation du programme économique du Front National (1986-2012)“, (Vom Neoliberalismus zum Sozialpopulismus? Die Transformation des Wirtschaftsprogramms des Front National (1986-2012)) Sylvain Crépon éd., Les faux-semblants du Front national. (Die falschen Behauptungen des Front Nationale), Presses de Sciences Po, 2015, S. 161-184.

[11] Vgl. Schwartz, Olivier. Vivons-nous encore dans une société de classes ? (Leben wir noch immer in einer Klassengesellschaft?) La Vie des idées : https://laviedesidees.fr/IMG/pdf/20090922_schwartz.pdf  (auf FR)

[12] Cartier, Marie, et al. „6. La droitisation des pavillonnaires ?“, La France des » petits-moyens «. Enquête sur la banlieue pavillonnaire, (6. Die Rechthaberei der Vorstädter?, Das Frankreich der „kleinen Leute“. Umfrage zu den Vorstädten) unter der Leitung von Cartier Marie, et al. La Découverte, 2008, S. 241-301.

[15] Espagno, Delphine, und Stéphane François. «Kapitel 9 / Le Front National et les services publics. Un renouveau programmatique ?» (Die Nationale Front und die öffentlichen Dienste. Eine Erneuerung des Programms); Sylvain Crépon éd., Les faux-semblants du Front national. (Die falschen Behauptungen der Nationalen Front) Presses de Sciences Po, 2015, S. 207-224.

[18] Friot, Bernard. Vaincre Macron (Macron besiegen) La Dispute, Paris, 2017.