Nachricht | Westafrika «Die Agonie der Bevölkerung, die sich Gehör verschafft»

Claus-Dieter König über den Militärputsch in Guinea

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Der Führer des Militärputsches, Mamady Doumbouya, (Mitte links) salutiert am 7. September 2021 Mitgliedern der Armee in Guineas Hauptstadt Conakry. Bild (aus Video): picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Der 21. Dezember 2010 war ein besonderer Tag in Westafrika: Mit der Vereidigung von Alpha Condé regierten erstmalig seit der Unabhängigkeit in allen 15 Staaten der Region gewählte Staatsoberhäupter, darunter eine Präsidentin. Obschon der demokratische Charakter mancher Präsidentschaftswahl in Frage stand, handelte es sich doch um eine Zeit, in der die Menschen Westafrikas Hoffnung besaßen, dass mehr Demokratie auch einen Wandel in Richtung einer Politik für die Mehrheit der Bevölkerung bedeuten könnte. Diese Hoffnung wurde enttäuscht, nicht nur durch militärische Machtübernahmen wie etwa 2012 in Mali, sondern vor allem aufgrund des Ausbleibens des Wandels und der Verfestigung undemokratischer Strukturen selbst dort, wo Wahlen stattfinden.

Am 5. September 2021 wurde Condé nun durch eine von ihm selbst geschaffene Spezialeinheit des Militärs abgesetzt. Während die neue Junta das Bild eines unblutigen Putsches zeichnet, gibt es auch andere Informationen, denen zufolge es etwa hundert Todesopfer, vor allem aus den Reihen der Präsidentengarde, gegeben haben soll. Den Putsch angeführt und die Staatsführung übernommen hat Oberst Mamadi Doumbouya, ein ehemaliger Legionär der französischen Armee.

Undemokratische Wiederwahl

Aus Guinea gibt es Berichte von – allerdings verhaltenem – Jubel über das Ende Condés. Wie begründet sich dieser?

Zunächst wurde mit Alpha Condé ein Präsident weggeputscht, dessen Wahl kaum als demokratisch bezeichnet werden kann. Wie die meisten westafrikanischen Staaten hatte Guinea nämlich bis vor Kurzem eine Verfassung, die maximal zwei Amtsperioden zuließ. Der heute 83-jährige Condé wollte aber um jeden Preis am höchsten Staatsamt festhalten. Gegen ein Verfassungsreferendum, das ihm die dritte Amtszeit erlauben sollte, gingen die Menschen im März 2020 massenweise auf die Straßen. Ihr Protest wurde gewaltsam niedergeschlagen, mehr als 30 Personen verloren dabei ihr Leben. Im Anschluss erklärten die wichtigsten Oppositionsparteien ihren Boykott der zeitgleich zur Präsidentschaftswahl stattfindenden Parlamentswahl.

Proteste und Staatsgewalt begleiteten deshalb auch die Wahlen vom Oktober 2020, die Condé gewinnen konnte. «Fair» aber waren diese Wahlen keineswegs: Die Staatsmedien gaben den Oppositionskandidaten keine Sendezeit, auf den Straßen der Hauptstadt Conakry waren fast ausschließlich großformatige Wahlplakate von Condé zu sehen. Der unterlegene Kandidat Cellou Dallein Diallo sprach damals von Wahlbetrug.

Aber selbst wenn die Wahl formal korrekt verlaufen sein sollte, veranschaulicht sie exemplarisch die Krise der Präsidialwahlsysteme in Westafrika. In Guinea gibt es mehr als 7 Millionen Wahlberechtigte, davon ließen sich 5,3 Millionen in den Wahllisten eintragen, und 4,3 Millionen gingen zur Urne. Von diesen wiederum stimmten 2,4 Millionen für Condé. Das bedeutet, dass trotz der massiven Wahlbeeinflussung nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten für den amtierenden Präsidenten votierte. Hinzu kommt noch, dass fast die Hälfte der Bevölkerung Guineas unter 18 Jahre alt ist und folglich bei Wahlen nicht mitbestimmen kann.

Vom Hoffnungsträger zum Diktator

Als der einstige Oppositionelle und Rechtsprofessor 2010 die Macht übernahm, galt Alpha Condé durchaus als Hoffnungsträger. Mit ihm könne es einen demokratischen Aufbruch und wirtschaftlichen Neuanfang geben, hofften viele Menschen.

Stattdessen hat Condé das Land weiter ausverkauft. Ökonomische Stagnation und Perspektivlosigkeit für die Jugend setzten sich in seiner Amtszeit fort. Zwar ist Guinea reich an Rohstoffen wie Phosphat, Bauxit oder Gold. Doch ähnlich wie in anderen Ländern des globalen Südens bauen Unternehmen des globalen Nordens diese Rohstoffe ab und entziehen dem Land ihre Profite. Hatte Condé als Oppositioneller noch den Ruf, ein Gegner der Korruption zu sein, baute er als Präsident ein Netzwerk der Korruption und Vetternwirtschaft auf, in dem Familienmitglieder (wie sein Sohn Mohamed Condé) und nahestehende Geschäftsleute steinreich wurden.

Alpha Condé hat auch die Armut verschärft. Die Lebensbedingungen der großen Mehrheit der Guineer*innen verschlechterten sich vor allem in den letzten Jahren seiner Amtszeit, der Zustand der Infrastruktur und insbesondere der Straßen wurde immer desaströser. Angeblich wurden immense Summen für eine bessere Versorgung mit Strom und Wasser aufgewendet. Aber weil die Versorgung bis heute rudimentär bleibt, fragen sich viele Menschen, ob die Gelder überhaupt investiert oder ob sie anderweitig verwendet wurden. Die Krise spitzte sich vor einem Monat dramatisch zu, als die Regierung den staatlich festgelegten Benzinpreis um mehr als 20 Prozent heraufsetzte – was direkt auf den Preis der Lebensmittel und Güter des täglichen Gebrauchs durchschlug.

Schließlich hat der gestürzte Präsident das Land tief gespalten; um seine Macht zu sichern, säte er ethnischen Hass. Condé gehört den Malinké an, der zweitgrößten ethnischen Gruppe in Guinea, und er schürte Konflikte mit Angehörigen der Peulh, der sein wichtigster Opponent Cellou Diallo angehört.

Reaktionen auf den Putsch im In- und Ausland

Condé wird im Land offenbar keine Träne nachgeweint. Andererseits ist der Jubel über die neuen Machthaber bestenfalls verhalten. Der Putsch wird schlicht hingenommen, Proteste sind, jedenfalls bislang, nicht wahrzunehmen. Der Staatsstreich sei vielmehr, wie es ein Gewerkschafter ausdrückt, «die Agonie der Bevölkerung, die sich Gehör verschafft».

Der neue starke Mann, Oberst Mamadi Doumbouya, war seit 2018 mit dem Aufbau einer militärischen Spezialeinheit befasst – eine offiziell zur Terrorismusbekämpfung eingesetzte, knapp 500 Personen starke Truppe, der Condé zu seinem Schutz zuletzt stärker vertraute als der Präsidentengarde. Ironischerweise war es nun ebendiese Spezialeinheit, die den Präsidenten absetzte.

Bereits einen Tag nach dem Putsch verkündete die Junta die Bildung einer «Regierung der nationalen Einheit», die einen Übergangsprozess einleiten soll. Diese Regierung ließ gefangene Oppositionelle frei und erklärte, dass eine neue Verfassung erarbeitet werden solle. Damit hat sie sich ersten Zuspruch verschafft: Einige Organisationen der Zivilgesellschaft und der Oppositionspolitiker Diallo kündigten bereits ihre Unterstützung der Junta an, solange diese ihre Versprechen einhalte.

Währenddessen haben die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS, die UNO, die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und Frankreich den Putsch verurteilt und teilweise auch Sanktionen angedroht. Es ist zu erwarten, dass die ECOWAS – wie im Fall Malis – Einfluss nehmen will und bald eine Delegation zu Verhandlungen nach Conakry senden wird. Aufgrund der Sanktionsdrohungen wird die Junta diese Verhandlungen kaum ablehnen können.

Großen Einfluss in den Gremien der ECOWAS hat der Präsident der Elfenbeinküste, Alassane Ouattara, der sich in allen die Region betreffenden Fragen eng mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich abstimmt. Ouattara hat – ganz ähnlich wie Condé in Guinea – seine dritte Amtszeit gegen starken Widerstand in der Bevölkerung repressiv durchgesetzt. Hier erweist sich, welche Folgen es hat, dass ECOWAS verfassungsrechtlich fragwürdige dritte Amtszeiten und Wahlen, die kaum frei und fair genannt werden können, in der Vergangenheit nicht beanstandet hat.

Die Alternative

Guinea steht geradezu beispielhaft dafür, dass die Region sich erneut an einem Scheideweg befindet. Vor rund 60 Jahren wurden die meisten Staaten der Region unabhängig; vor etwa 30 Jahren entwickelten sie überwiegend Mehrparteiensysteme. Heute steht die Region vor einer ähnlich grundlegenden Weichenstellung.

In der Gegenwart organisiert die Jugend verstärkt Proteste gegen die als parasitär wahrgenommene «politische Klasse». Mit den Protesten verliert das Modell autoritärer Präsidialregime an Legitimität. Ein neues Modell zeichnet sich indessen noch nicht ab.

Junge Menschen verlangen nunmehr integre Führungspersonen an der Spitze des Staates, denen es um die Menschen und die Nation geht. In ihrer Suche nach Vorbildern stoßen sie in der Geschichte Westafrikas vor allem auf Thomas Sankara, der Burkina Faso von 1983 bis 1987 regierte. Er hatte damals die Macht durch einen Militärputsch übernommen und wurde später selbst von Militärs ermordet. Viele berufen sich darauf, dass Sankara die Korruption, die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Armut des Landes erfolgreich bekämpfte. Dass auch sein Regime autoritäre Züge trug, fällt dabei leicht unter den Tisch.

Guinea und andere Staaten Westafrikas stehen derzeit vor einer grundsätzlichen Alternative. Da ist zum einen der Weg der autoritären Präsidialregime, die in klientelistische und korrupte Netzwerke eingebettet sind und ihren Machtanspruch über Wahlen, die demokratischen Ansprüchen nicht genügen, turnusmäßig erneuern. Dabei kann es durchaus Wechsel an der Spitze geben – sei es durch Wahlen oder eben durch Militärputsche, wie jetzt in Guinea. Echter, struktureller Wandel kommt auf diese Weise allerdings nicht zustande. Ein besonders extremes Beispiel hierfür bietet Togo, das seit Jahrzehnten von einer Familiendynastie regiert wird. Im Sahel ist dieser korruptionsgestützte Autoritarismus überdies zum Türöffner für radikalreligiöse und terroristische bewaffnete Gruppen geworden.

Die Alternative zur Fortsetzung autoritärer Präsidialregime ist ein struktureller Wandel, der Demokratie ermöglicht, indem er die Souveränität über die Nutzung der Rohstoffe und des landwirtschaftlichen und industriellen Potenzials aus den Händen ausländischer Konzerne in die Hände von Institutionen legt, die wirklich von der Bevölkerung getragen werden. Der Weg dahin ist steinig; und er führt über politische Organisierungsarbeit in Gewerkschaften, Jugendverbänden, Zusammenschlüssen von Bäuerinnen und Bauern und anderen Zusammenhängen «von unten».

Ein solches Alternativprojekt kann indes nur gelingen, wenn breite Massen es auch wollen. Die aktuelle Situation in Mali – oder auch in Burkina Faso – zeigt exemplarisch, wie schwer es ist, eine derartig grundlegende Umwälzung der Gesellschaft durchzusetzen.

In Guinea sind die Verhältnisse durchaus vergleichbar. Es steht deshalb zu erwarten, dass der Putsch eher einen Austausch von Teilen der Staatselite zur Folge haben als eine grundlegende Veränderung einläuten wird. Das aber würde dann auch bedeuten, dass die Unzufriedenheit der Guineer*innen und damit auch der Druck, einen wirklichen Wandel im Interesse der Mehrheit einzuleiten, weiter steigen wird.