Nachricht | Krieg / Frieden - USA / Kanada - Zentralasien «Nine Eleven», Afghanistan, Irak: Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts

Von Bernd Greiner

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Bernd Greiner,

Transfer der kurz vor dem Ende des Einsatzes durch einen Anschlag getöteten Soldaten in die Vereinigten Staaten (29.8.2021). picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Jason Minto

Wenn eines Tages über die historische Einordnung von «Nine Eleven» diskutiert werden wird, dürfte dieses Datum wohl als das eigentliche Ende des amerikanischen Jahrhunderts angesehen werden. Denn dass dieses an ein Ende angelangt ist, belegen in dramatischer Weise die Bilder der verheerenden Niederlage der Vereinigten Staaten und der von ihr geschmiedeten «Koalition gegen den Terror» in Afghanistan. Dabei hatten die USA überhaupt erst mit ihrem Einstieg in den Ersten Weltkrieg begonnen, zu einer dominanten globalen Kraft zu werden; nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden sie endgültig zu ebendieser. Und als der Kalte Krieg mit der Implosion der Sowjetunion zu Ende ging, öffnete sich für die Dauer eines Jahrzehnts ein Fenster der Gelegenheit zu einer neuen, kooperativen Weltordnung. Doch diese Chance wurde verspielt – nicht zuletzt mit der US-amerikanischen Reaktion auf die monströsen Terrorangriffe vom 11. September 2001.

Bernd Greiner ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg und Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg/Berlin Center for Cold War Studies. Dieser Text erschien zuerst in der Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 9/2021, www.blaetter.de.

Es begann mit einer nicht verhandelbaren Entscheidung des Krisenstabs von Präsident George W. Bush. Ein zwischen Geheimdiensten und Polizei koordinierter Einsatz kam für die Ergreifung der Täter und Hintermänner von 9/11 nicht in Frage, Militär und Krieg waren die Mittel der Wahl. Und das, obwohl der Staat Afghanistan die USA nicht angegriffen hatte.

Vom Parlament holte sich Bush die Befugnis, gegen alle Nationen, Organisationen oder Personen vorzugehen, die seines Erachtens irgendetwas mit Terrorismus zu tun hatten. Es war das Plazet für einen Krieg unbestimmter Dauer. «Von heute an», so seine Ankündigung vor beiden Kammern des Kongresses am 20. September 2001, «werden die Vereinigten Staaten jede Nation, die weiterhin Terroristen Unterschlupf gewährt oder unterstützt, als feindliche Nation behandeln. […] Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit Al Qaida, hört dort aber nicht auf. Er wird nicht aufhören, ehe jede Terrorgruppe von weltweiter Ausdehnung gefunden, gestoppt und geschlagen ist.»[1] Öffentliche Reden wie interne Dokumente sind vom Phantasma eines Endsieges über das Böse durchzogen – und von der verweigerten Einsicht in die Tatsache, dass Soldaten eine stumpfe Waffe gegen Terroristen führen und dass selbst der mächtigste Staat auf Dauer keinen Krieg ohne Fronten über alle Grenzen hinweg schultern kann. Wer aber als Werkzeug nichts anderes als einen Hammer kennt, sieht bekanntlich in jedem Problem einen Nagel.

Afghanistan war längst ein vom Krieg ausgezehrtes Land, als die USA dort am 7. Oktober 2001 ihren «War on Terror» begannen. Zehn Jahre Besatzung durch sowjetische Truppen und die anschließende Schreckensherrschaft der Taliban hatten eine Ruine hinterlassen. Tausende verreckten Monat um Monat an Grippe, Masern oder Durchfall, nirgendwo war die Kindersterblichkeit höher, die Lebenserwartung für Frauen und Männer lag bei 44 beziehungsweise 45 Jahren. Zu allen Übeln kam eine extreme Trockenheit hinzu. Weil 70 Prozent des Viehbestandes verendet und die Hälfte des Ackerbodens nicht mehr nutzbar waren, hatten weit über drei Millionen Afghanen ihre Heimat verlassen – die weltweit größte Flüchtlingsgruppe. Weitere 800 000 zogen auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft im Landesinneren von einem Ort zum anderen. Die Macht kam einzig aus Gewehrläufen, verfeindete Gruppen hatten die staatsfernen Räume untereinander aufgeteilt und schufen Ordnung auf ihre Weise. Auf der einen Seite die Taliban, die schätzungsweise 45 000 gebürtige Afghanen unter Waffen hielten und zusätzlich von 15 000 Dschihadisten aus Pakistan, Usbekistan und mehreren arabischen Ländern unterstützt wurden; auf der anderen Seite eine lose Koalition aus «Warlords», denen der Krieg zum Lebensinhalt geworden war, weil er sie ernährte. Afghanistan war auf das Niveau der ärmsten Länder Afrikas herabgesunken, von staatlicher Ordnung konnte keine Rede mehr sein. Deshalb sprach der pakistanische Journalist Ahmed Rashid, einer der besten Kenner der Region, von der «schlimmsten humanitären Katastrophenzone der Welt».[2]

Dass das Land nach 20 Jahren westlicher Besatzung den letzten Platz auf der Horrorskala globaler Armut verlassen hat, war freilich nicht den Anstrengungen der Kriegskoalition geschuldet, sondern den galoppierenden Verheerungen andernorts, vorweg in Staaten wie Mali oder dem Jemen. Was die Bilanz des Antiterrorkriegs am Hindukusch anbelangt, so kamen unterschiedliche Untersuchungskommissionen früh zu einem einhelligen Ergebnis: Es war ein historischer Fehlschlag, der Weg ins nächste Desaster ist gepflastert. Das war der Befund einer von der norwegischen Regierung eingesetzten Kommission,[3] zu diesem Ergebnis kamen auch Sonderermittler, die vom amerikanischen Kongress 2008 bestellt worden waren und bis 2018 mehr als 400 Interviews mit Verantwortlichen führten. Ein Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrates: «Wir hatten einfach keine Vorstellung, was am Ende daraus werden sollte. Wir haben geplant; die Dinge vor Ort haben sich geändert. Wir lösten Probleme, ohne zu wissen, was wir auf lange Sicht lösen wollten.»[4]

Nach einem Krieg, der mindestens 90 000 Tote kostete, ist Afghanistans Zukunft heute ungewisser denn je. Nirgendwo sonst sind derart viele Terrorgruppen aktiv, 40 Prozent aller Anschläge weltweit wurden 2021 am Hindukusch verübt.[5] Von einem funktionsfähigen Regierungssystem ist das Land so weit entfernt wie eh und je; und die im wirtschaftlichen und kulturellen Leben erzielten Fortschritte sind derart fragil, dass sie von den Taliban in kürzester Zeit hinweggefegt werden dürften. Letztlich hatte sich der Westen in eine politisch schier ausweglose Lage manövriert. Dass die Taliban die Friedensbedingungen diktieren und von einer Rückkehr an die Macht kaum mehr abzuhalten sein würden, musste die Regierung Biden bereits kurz nach Amtsantritt wohl oder übel einräumen. Es klang wie die unfreiwillige Beglaubigung eines alten afghanischen Sprichworts: «Ihr habt Uhren. Wir haben Zeit.» Seit die letzten Truppen der USA und ihrer Verbündeten abgerückt sind, haben die Taliban das Land regelrecht handstreichartig übernommen. Am Ende zählte nur noch der Rückzug, war die US-Regierung wie der gesamte Westen von der Geschwindigkeit des Vormarschs der Taliban völlig überrumpelt. Zwei Jahrzehnte «Krieg gegen den Terror» stehen damit im Ergebnis für verbrannte Erde und für Millionen von Flüchtlingen.

»Wir haben das Recht auch zu einem Angriffskrieg«

Angesichts des historischen Scheiterns in Afghanistan, inklusive des brutalen Rückzugs, wird man an die ungebrochene Vitalität des amerikanischen Nationalismus erinnert. «Us against them», entweder Ihr seid für uns oder gegen uns – dieser wohl bekannteste Satz von George W. Bush stand am Beginn des «Krieges gegen den Terror» und er könnte über allen Kapiteln amerikanischer Ordnungspolitik stehen. Denn tatsächlich agiert Washington, als bräuchten die Vereinigten Staaten ständig irgendwelche Feinde und als wüssten sie ohne Feindstellung nicht, wer sie sind und wo ihr Platz in der Welt ist. Die Dramatisierung von Gefahren und das Herbeireden von Ausnahmezuständen gehört zu den Bindemitteln dieser Art Außenpolitik. Kooperation und Gegenseitigkeit sind nur so lange von Interesse, wie sie zur besseren Durchsetzung amerikanischer Anliegen taugen. Die nach «Nine Eleven» vielzitierten Koalitionen der Willigen passen ins Bild. Sie sind phasenweise nützlich, aber entbehrlich, sobald für die USA keine Machtdividende abfällt.

Dem hatte auch die Internationale Afghanistan-Schutztruppe ISAF wenig entgegenzusetzen. Deren Unzulänglichkeiten sind vielfach beschrieben, oft auch hämisch kommentiert worden – der schwammige Auftrag, die fehlende Koordination, der Wust bürokratischer Auflagen, nicht zuletzt die Furcht vor negativen Schlagzeilen. Doch selbst wenn es diese hausgemachten Defizite nicht gegeben hätte, wären die von Washington aufgetürmten Hindernisse wohl unüberwindlich gewesen. Aus amerikanischer Sicht waren die Alliierten Helfershelfer, willkommen als Putztruppe und brauchbar als Sündenbock, aber störend, sobald sie eigene Ideen und Ansprüche vortrugen. Unberechenbar ist diese Spielart imperialer Selbstbehauptung, weil Washington wie eh und je an seinem auf das Militärische fixierten Verständnis von Sicherheit festhält. In anderen Worten: Je furchterregender und unberechenbarer die USA auftreten, desto besser, je größer die Angst der anderen, desto angstfreier können Amerikaner leben. Aus dieser Sicht war es sogar produktiver, grundlos statt mit guten Gründen Krieg zu führen.

In letzter Konsequenz schnurrte dergleichen zu einer einfachen Maxime zusammen: Wir haben das Recht auch zu einem Angriffskrieg. Das nämlich war die Logik, als Bush und seine Mitstreiter Ende 2001 den nächsten, noch weit verheerenderen Krieg vorbereiteten – die völkerrechtswidrige, da ohne UN-Mandat umgesetzte Intervention im Irak. «Neue Bedrohungen machen auch ein neues Denken erforderlich», deklarierte der Präsident im Juni 2002 vor Kadetten der Militärakademie Westpoint. «Wenn wir abwarten, bis sich Bedrohungen voll entfaltet haben, werden wir zu lange gewartet haben. […] Wir müssen den Kampf zum Feind bringen, seine Pläne vereiteln und den schlimmsten Gefahren begegnen, bevor sie an den Tag treten. In dem Zeitalter, in das wir gerade eingetreten sind, ist Handeln der einzige Weg zur Sicherheit.»[6] Condoleezza Rice, Donald Rumsfeld und Dick Cheney sekundierten im Wochentakt: «Das Problem liegt doch darin, dass wir einfach nicht sicher sein können, wie schnell er [Saddam Hussein] in den Besitz von Nuklearwaffen kommen kann. Aber wir wollen nicht, dass der endgültige Beweis in Gestalt einer atomaren Pilzwolke auftaucht.» – «Der absolute Beweis kann keine Vorbedingung für Handeln sein.» – «Es geht nicht um Analysen oder darum, eine riesige Menge von Beweisen zu finden. Es geht einzig um unsere Reaktion.»[7]

Ob es tatsächlich, wie behauptet, Massenvernichtungswaffen im Irak gab, war nicht das Problem. Uninteressant war auch die Frage, ob Saddam Hussein danach strebte. Dass er es irgendwann und irgendwie tun könnte, gab den Ausschlag. Das zu einem Prozent Mögliche wiegt mehr als das zu 99 Prozent Wahrscheinliche – darum dreht sich die in Washington populäre «Ein-Prozent-Doktrin». Im September 2002 wurde sie in der von Bush abgezeichneten «Nationalen Sicherheitsstrategie» offiziell beglaubigt.[8] Niemals zuvor hatte ein amerikanischer Präsident das völkerrechtliche Verbot von Präventiv- und Angriffskriegen in aller Öffentlichkeit für null und nichtig erklärt.

Mitte Dezember 2011, also fast zehn Jahre vor dem Abzug aus Afghanistan, verließen die letzten US-Truppen den Irak. Sie hatten – unterstützt von einer «Koalition der Willigen», die allerdings bereits 2004 zu bröckeln begann und seither faktisch auf eine angloamerikanische Allianz geschrumpft war – das Land fast neun Jahre besetzt, einen Bürgerkrieg provoziert und am Ende in einem desaströsen Zustand verlassen. «Ich habe diesen Film schon einmal gesehen. Er hieß Vietnam», meinte der ehemalige Chef des US-Regionalkommandos für den Nahen Osten, Ost-Afrika und Zentralasien, General Anthony Zinni.[9] In der Tat: Die auf unkonventionelle Kriegsführung wie gehabt völlig unvorbereiteten GIs fielen in Wohnviertel ein, verhafteten wahllos Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren, demolierten Wohnungen und Häuser, drangsalierten Alte, Kranke und Behinderte, erniedrigten Verdächtigte vor den Augen ihrer Familien mit Fausthieben und Fußtritten und nahmen Angehörige in Sippenhaft. Ein Nachrichtenoffizier: «Uns fielen die Kinnladen herunter, als wir sahen, wie viele Zivilisten misshandelt und eingeschüchtert wurden.»[10] Von Übergriffen Einzelner kann dabei keine Rede sein, dafür gab es viel zu viele Schikanen, Morde und Massaker.[11]

Verbrechen als Prinzip

Mit den Einsätzen in Afghanistan und im Irak trat Washington eine Lawine los. Der «Krieg gegen den Terror» wurde nämlich von Muslimen auf allen Kontinenten als Kriegserklärung aufgefasst. Mit der Folge, dass sich Gläubige politisierten und Patrioten zu fanatischen Nationalisten wurden, vereint in einem Racheschwur gegen die USA. «Was ich getan habe, ist in meinen Augen kein Verbrechen», höhnte ein verhinderter Attentäter vor einem Gericht in New York City. «Ich weiß, dass es gegen die Gesetze der Vereinigten Staaten verstößt, aber mich interessieren die Gesetze der Vereinigten Staaten nicht. Ich betrachte mich als Mudschahid, als muslimischen Soldaten. Amerikaner und die Nato haben muslimisches Land angegriffen. Dies ist ein Krieg, und ich nehme daran teil.»[12] Eine wohlfeile Rechtfertigung, gewiss – und ebenso billig zu haben. Im Januar 2005 beschrieb der «National Intelligence Council», ein Beratergremium der CIA, den Irak als «Magneten für internationale terroristische Aktivitäten» und als wichtigstes Trainingslager für eine neue Generation von Terroristen – lange bevor die «Gotteskrieger» vom «Islamischen Staat» und ihre aus der irakischen Armee rekrutierten Kämpfer in Erscheinung traten.[13]

Krieg gegen den Islam: Beglaubigt wurde dieser Vorwurf durch Nachrichten über einen von Indonesien bis Kuba reichenden Archipel aus Gefängnissen und Lagern. Einige haben es in der internationalen Presse zu trauriger Berühmtheit gebracht: Bagram, Kandahar, Abu Ghraib und allen voran Guantánamo. Namenlos geblieben sind ungezählte «black sites», Geheimgefängnisse in Bulgarien, Mazedonien, Polen, Rumänien, Pakistan, Usbekistan, in der Ukraine sowie im Kosovo und im Norden Afrikas, die von lokalen Behörden im Auftrag der CIA geführt werden. Seit 2001 fahnden US-Geheimdienste und Elitesoldaten mit einer «Worldwide Attack Matrix» in mindestens 90 Ländern nach Verdächtigen, angeblich wurden allein im ersten Einsatzjahr 3000 Menschen interniert. Viele, wenn nicht die meisten hatten sich schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten: der Gewürzhändler aus Kabul, der auch Honig verkaufte und auffiel, weil Honig als eine Haupteinnahmequelle von Al-Qaida gilt; der Jordanier, in Pakistan als Flüchtling anerkannt, dem man unterstellte, als Araber Terroristen kennen zu müssen; der Ingenieur und der Unternehmer aus Russland, die ein neues Leben in einem muslimischen Land beginnen wollten und in Afghanistan zwischen die Fronten gerieten; oder der Deutsche Khaled El-Masri, der Ende 2003 an der mazedonischen Grenze einer Namensverwechslung zum Opfer fiel und wenig später in einer «black site» in Kabul mit den Worten empfangen wurde: «Du bist hier in einem Land, in dem Dich keiner kennt, in einem Land ohne Gesetz. Falls Du stirbst, werden wir Dich beerdigen, und niemand wird etwas bemerken.»[14]

Weil die CIA Kopfgelder zwischen 50 und 5000 Dollar für Verdächtige ausgesetzt hatte, beteiligten sich auch afghanische «Warlords» und pakistanische Sicherheitskräfte an der globalen Menschenjagd. Wie Händler auf einem riesigen Menschenbasar traten sie auf, verkauften Hunderte von Unschuldigen in die Gefangenschaft, darunter Kinder, junge Männer sowie über 80jährige, teils demenzkranke Greise.[15]

Die Zustände in den weltweit verteilten Folterkellern, obwohl vielfach beschrieben, spotteten jeder Beschreibung. Häftlinge wurden in Käfige gesperrt, schutzlos der Witterung und Ungeziefer wie Skorpionen und Ratten ausgesetzt. An Zellenwänden angekettet, schliefen sie auf Zementfußböden neben Löchern, die als Toiletten zu benutzen waren. Wer sich auffällig verhielt, etwa nach Hygieneartikeln verlangte, musste mit totaler Isolation in einem anderen Zellentrakt rechnen. Gefangene wurden geprügelt, auf engstem Raum stundenlang mit kaltem Wasser bespritzt, bis zu 180 Stunden mit Schlafentzug gequält oder mit dem «Waterboard», einem simulierten Ertrinken, in Todesängste versetzt. Andere Foltertechniken zielten auf das kulturelle und religiöse Selbstwertgefühl. Deshalb mussten Internierte nackt vor weibliche Vernehmer treten, in deren Beisein masturbieren oder sich von ihnen wie Hunde an der Leine im Kreis führen lassen. Zum Emblem für Washingtons Schande wurden Fotos aus Abu Ghraib: Nackte Männer, übereinandergestapelt vor grinsenden Wärtern, ein Gefangener, Kapuze über dem Kopf und in einen schwarzen Umhang gehüllt, der mit ausgebreiteten Armen und an Händen und Füßen verdrahtet auf einem Schemel steht – jede Bewegung könnte Stromschläge auslösen, hatte man ihm gesagt. Dass solche Aufnahmen existierten, war Teil der Prozedur. Die Häftlinge würden, so das Kalkül, jede Information preisgeben und nach der Entlassung sogar als Spitzel kollaborieren, wenn sie damit eine Weitergabe der Bilder an Familien und Freunde verhindern konnten. Und dann die endlosen Verhöre. Einige behaupten, an die 200mal befragt worden zu sein – stets angekettet und über Stunden hinweg, eine Zeit, während der sie noch nicht einmal ihre Notdurft verrichten konnten. Ein Mitarbeiter der CIA: «Sie [die Folter] hängt vom Blickwinkel des Betrachters ab. Wenn der Gefangene stirbt, hat man was falsch gemacht.»[16]

Dieser Meinung war auch Vizepräsident Dick Cheney: «Was das Gewissen schockiert, […] hängt vom Standpunkt des Beobachters ab.»[17] Ein elender Satz und ein ungemein aufschlussreicher Satz, verweist er doch auf Elementares. Welche Exzesse der «Krieg gegen den Terror» wann und wo nach sich zog, die Menschenschinderei nahm ihren Anfang ganz oben – im Weißen Haus, im Pentagon, bei der CIA und im Justizministerium. Dort wurde die Folter angeordnet, gedeckt und gerechtfertigt. Zu diesem Befund kommen journalistische Recherchen, so steht es in Untersuchungsberichten des Kongresses und internen Auswertungen diverser Behörden.[18]

Politik der Gesetzlosigkeit

Den Gesetzlosen mit Gesetzlosigkeit begegnen, Politik in der Grauzone betreiben und seinen Feinden signalisieren, dass die USA vor rein gar nichts zurückschrecken, so könnte man die vorherrschende Meinung an der Regierungsspitze charakterisieren. Der Vizepräsident hatte daran mitgewirkt, dass im «Detainee Treatment Act» – vom Kongress 2005 als Regelwerk für den Umgang mit Gefangenen verabschiedet – die CIA von strikten Verhörauflagen ausgenommen wurde. Der Präsident seinerseits legte nach und bestätigte das Recht zum Rechtsbruch: Zum Schutz «nationaler Sicherheit» waren und blieben «erweiterte Verhörmethoden» erlaubt. Bei Beratungen im Weißen Haus malte man sich aus, die Köpfe gefangener Al-Qaida-Terroristen «auf Stöcke aufzuspießen» und «in Schachteln» nach Washington zu bringen. Und nachweislich ging es auf höchster Ebene um konkrete Einzelfälle: Welche Gefangenen sollten wie verhört werden?

Dass der Präsident persönlich sein Einverständnis für die Anwendung der Wasserfolter gab, steht fest. Ebenso, dass er in Geheimdienstbesprechungen dem CIA-Direktor George Tenet massiv zusetzte: «Funktionieren einige dieser harten Methoden denn tatsächlich?» – «Wer hat erlaubt, dem Kerl Schmerzmittel zu verabreichen?»[19] Und Mitte April 2003 genehmigte Donald Rumsfeld in einer Ministerdirektive 24 Foltertechniken, darunter Isolation, Schlafentzug, Überhitzen und Unterkühlen von Zellen sowie diverse Maßnahmen zum Auslösen von Angstzuständen.[20] Die juristischen Berater der Regierung benahmen sich wie Fußsoldaten im «Krieg gegen den Terror» und lieferten eine Unbedenklichkeitsbescheinigung nach der anderen. Ob mit der Folter Informationen gewonnen wurden oder nicht, spielte letzten Endes keine Rolle. In den Worten des Journalisten William Pfaff: «Die Administration Bush foltert Gefangene nicht, weil es einen Nutzen hätte, sondern wegen der Symbolkraft.»[21]

Damit wurde Schritt für Schritt und mit Vorsatz alles ausgehebelt, was sich die Staatengemeinschaft nach den Gewalterfahrungen zweier Weltkriege mühsam erarbeitet hatte. Die im internationalen wie auch im amerikanischen Zivil- und Militärrecht verankerten Prinzipien sind von seltener Eindeutigkeit: In Kriegen dürfen feindliche Kämpfer festgenommen und bis zum Ende der Auseinandersetzung interniert werden – aber während ihrer Haft stehen sie unter dem Schutz der Genfer Konventionen aus dem Jahr 1949. Sie dürfen das Verhör verweigern und sind nur zur Nennung von Namen, Alter und Dienstgrad verpflichtet. In nichtkriegerischen Konflikten greifen die Regeln des zivilen Strafrechts: Verdächtige haben das Recht auf einen Anwalt, die Prüfung der Haftgründe obliegt einem Richter und ein unabhängiges Gericht entscheidet darüber, ob die vorgelegten Beweise zur Eröffnung eines Prozesses ausreichen. Und für den Umgang mit Häftlingen – ob Kriegsgefangene oder Zivilinternierte – gilt ein unhintergehbares Verbot der Folter. Gefangene sind unter allen Umständen vor einer Beeinträchtigung der persönlichen Würde, vor erniedrigender und entwürdigender Behandlung, vor physischer und mentaler Drangsalierung und jeder anderen Form der Zwangsausübung zu schützen. Gestützt auf dieses Rechtsverständnis der westlichen Moderne führte Washington einen Frontalangriff, all dies glaubte man mit Spitzfindigkeiten über neuartige Bedrohungen und die Notwendigkeit neuen Denkens erledigen und durch eine neue Maxime ersetzen zu können: Macht steht über dem Recht, wer glaubt, foltern zu müssen, darf foltern. Mit George W. Bush: «Ich entscheide, was für die Exekutive Gesetz ist.»[22]

Obamas kurzer Moment der Hoffnung

Mit der Wahl Barack Obamas 2009 zum 44. US-Präsidenten gab es einen kurzen Moment der Hoffnung. «Change We Can Believe In» hatte er im Wahlkampf versprochen – wenn wir nur wollen, können wir alles ändern, was uns an der Vergangenheit stört. Von den vielen Hoffnungen wog eine besonders schwer – dass Gesetze wieder respektiert und die Schäden im Rechtssystem repariert würden. Tatsächlich wurden die krudesten Expertisen der Folterjuristen für ungültig erklärt und aus dem Verkehr gezogen. Trotzdem trat die Ernüchterung schneller als befürchtet ein. Unrechtmäßig Internierte und Folteropfer hatten weiterhin das Nachsehen, Obamas Justizministerium hintertrieb erfolgreich Klagen vor Bundesgerichten und die Untersuchung einschlägiger Beschwerden. Die Begründung – dass ein Präsident zur Wahrung von Staatsgeheimnissen verpflichtet sei – hätte seinem Vorgänger gut zu Gesicht gestanden.[23] Aber nicht nur Häftlinge aus Guantánamo blieben rechtlos. Auch den in Afghanistan Einsitzenden wurde eine Haftprüfung von unparteilicher Seite verweigert, weil amerikanische Zivilgerichte für Eingaben aus einer Kriegszone nicht zuständig sind. Ob und wie sich das zuständige Militär über Recht und Gesetz hinweggesetzt hatte, dieses heiße Eisen rührte man erst gar nicht an. Selbst eine strafrechtliche Verfolgung von Tätern – Geheimdienstlern und Militärs, denen Folter vorgeworfen wurde – lehnte Obama ab. «[Sie haben] ihre Aufgabe in gutem Glauben an die juristischen Vorgaben des Justizministeriums erfüllt. […] Wir haben ein dunkles und schmerzhaftes Kapitel unserer Geschichte durchlebt. Doch in Zeiten großer Herausforderungen und beunruhigender Uneinigkeit ist nichts gewonnen, wenn wir unsere Zeit und Energie nutzlos auf Vorwürfe aus der Vergangenheit verwenden.»[24]

Gleichermaßen anfechtbar war Obamas neue Strategie im «Krieg gegen den Terror». Seit 2010 übergaben US-Truppen in Afghanistan die meisten ihrer Gefangenen an einheimische Behörden – und delegierten damit die Verantwortung für Unterbringung, Behandlung und rechtmäßige Verfahren. Der Bock firmierte als Gärtner. Sodann ging das Pentagon dazu über, Verdächtige erst gar nicht mehr zu inhaftieren, sondern prophylaktisch zu töten – durch ferngesteuerte Drohnen. Die unter Obama befohlenen «Kill Missions» in Pakistan, Afghanistan, Somalia und im Jemen übertrafen die Einsätze zur Amtszeit von George W. Bush um ein Vielfaches. «Wir töten diese Hurensöhne schneller als sie nachwachsen können», prahlte ein Einsatzleiter der CIA.[25] Wie viele «Hurensöhne» mit Terror nichts zu tun hatten, wann, wo und warum sie hingerichtet wurden, bleibt wohl für alle Zeit im Dunkeln. Der diffuse Hinweis auf Tausende von Opfern vernebelt den Blutzoll in einer blutleeren Statistik. Aber genau darum ging es – um den Probelauf für einen Krieg ohne Lager und ohne lästige Irritationen wie Misshandlung und Folter.

Aufs Ganze gesehen knickte Barack Obama vor der öffentlichen Stimmung im Land ein. Mit einem markanten Kurswechsel hätte er große Teile des Kongresses gegen sich aufgebracht. Genauer gesagt jene Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren, die über Jahre hinweg als Gesetzgeber gegen das Gesetz handelten. Beispielsweise, als sie die Auslegung der Genfer Konventionen zum bedingungslosen Schutz von Gefangenen in die Hände des Präsidenten legten und völkerrechtlich bindende Bestimmungen zur Knetmasse des Weißen Hauses erklärten. Oder als sie sich gleich zweimal über den Obersten Gerichtshof hinwegsetzten und Gefangenen aus Guantánamo eine Haftprüfung vor Zivilgerichten verbauten, also den unhaltbaren Anspruch der Administration Bush bekräftigten, jedermann wegen Terrorverdachts jederzeit aufgreifen und an jedem Ort der Welt auf unbestimmte Zeit wegsperren zu dürfen[26] – ohne richterliche Verfügung, ohne Widerspruchsrecht, ohne Anklage und ohne Urteil. Noch nicht einmal die im Wahlkampf versprochene Schließung Guantánamos konnte Obama durchsetzen, weil die Gelder zum Aus- und Umbau von Hochsicherheitsgefängnissen in Illinois und Wisconsin blockiert wurden.

Bis heute – über die Amtszeit Donald Trumps hinaus bis zur neuen Regierung unter Joe Biden – hat sich nichts an der völkerrechtswidrigen Lage geändert. Politiker ernteten mit Guantánamo, was sie gesät hatten, Popularität und Skrupellosigkeit gingen Hand in Hand. Es war schlicht opportun, wie jemand aufzutreten, der auf einen groben Klotz einen groben Keil setzt und Terroristen mit ihren eigenen Mitteln bändigt. In diesem Sinne kann man Amerikas «Krieg gegen den Terror» auch als Botschaft an sich selbst verstehen: Wir sind nicht verweichlicht, nicht schwach oder wehrlos, wir sind und bleiben unerschrocken, dominant und einzig uns selbst verpflichtet.

Und wie es scheint, fordert die maßlose Überzeichnung von Gefahren weiterhin ihren inflationären Preis. Kaum hundert Tage im Amt, sprach Joe Biden im Duktus seines Vorgängers von einem Ausscheidungskampf zwischen Demokratie und Autokratie, Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Und machte, als wären die Tage des Kalten Krieges nicht längst Geschichte, klar, was der neue große Rivale – China – nicht werden darf: «Das führende Land der Welt, das wohlhabendste Land der Welt und das mächtigste Land der Welt. Das wird nicht passieren, nicht mit mir, denn die Vereinigten Staaten werden weiterhin wachsen und expandieren.»[27] Er hätte auch sagen können: Führen dürfen und können nur die USA, wer unsere Kreise stört, den werden wir Mores lehren. Das aber tat nicht not, denn CIA-Chef William Burns hatte diese Ansage längst gemacht: «China zu übertrumpfen, wird entscheidend für unsere nationale Sicherheit in den kommenden Jahrzehnten sein.»[28]

Damit aber ist Washington im Begriff, den Kardinalfehler aller Imperien zu wiederholen, die ihren Abstieg klar vor Augen hatten und sich dennoch nicht damit abfinden wollten. Wenn es eine seit der Antike verlässlich wiederkehrende Konstante gibt, dann diese: Wer Macht nicht teilen, sondern mit Zähnen und Klauen verteidigen will, kann Verluste vielleicht vertagen – aber nur um den Preis einer am Ende noch höheren Rechnung. Feindseligkeit und Konfrontation laufen selten ins Leere, gemeinhin werden sie mit Gleichem vergolten. Mit Beschwichtigungspolitik oder Flucht vor der Realität hat dieser Ausflug in die Vergangenheit nichts zu tun. Er verweist vielmehr auf unhintergehbare Realitäten der Gegenwart: dass man sich in einer bis in die Kapillargefäße vernetzten Welt weder von China entkoppeln noch ein Paralleluniversum konstruieren kann, in dem nur die eigenen Regeln gelten. Tatsachen anzuerkennen, heißt nicht, vor ihnen zu kapitulieren; oft ist es der einzige Weg, sie zum Nutzen aller zu verändern. Das überhitzte Gerede vom Eindämmen, Ausgrenzen und Kleinhalten Chinas zeigt, wie weit Washington heute von dieser Einsicht entfernt ist – und wie sehr es damit durch eigenes Zutun seine hegemoniale Rolle verspielt.

Der Beitrag basiert auf «Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben», dem jüngsten Buch des Autors, das Mitte September im Verlag C.H. Beck erscheint.


[1]*    George W. Bush, zit. nach: The 9/11 Commission Report. Die offizielle Untersuchung zu den Terrorattacken vom 11. September 2001, Potsdam 2004, S. 337.

[2]     Ahmed Rashid, Descent into Chaos. How the War against Islamic Extremism is Being Lost in Pakistan, Afghanistan and Central Asia, London 2008, S. 19.

[3]     Norwegian Ministry of Foreign Affairs and Ministry of Defence, Official Norwegian Reports NOU 2016/8, A Good Ally: Norway in Afghanistan, 2001-2014 («Godal Report”).

[4]     Zit. nach Congressional Research Service, The Washington Post’s «Afghanistan Papers” and U.S. Policy: Main Points and Possible Questions for Congress, Washington, D.C., 28.1.2020, S. 4.

[5]     Peter Carstens, War alles in Afghanistan vergeblich?, in: «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», 9.5.2021.

[6]     George W. Bush, zit. nach Ron Suskind, The One Percent Doctrine. Deep Inside America’s Pursuit of Its Enemies since 9/11, New York 2006, S. 149 f.

[7]     Condoleezza Rice, zit. nach Thomas E. Ricks, Fiasco. The American Military Adventure in Iraq, London 2006, S. 58; Donald Rumsfeld und Dick Richard Cheney, zit. nach Suskind, One Percent Doctrine, S. 61 f., 123.

[8]     The National Security Strategy of the United States of America, September 20, 2002.

[9]     Anthony Zinni, zit. nach Ricks, Fiasco, S. 362.

[10]    Ein anonymer Nachrichtenoffizier der 4. Infantry Division, zit. nach Thomas E. Ricks, The Gamble. General David Petraeus and the American Military Adventure in Iraq, 2006-2008, New York 2009, S. 108.

[11]    Chris Hedges und Laila Al-Arian, Collateral Damage. America’s War Against Iraqi Civilians, New York 2008.

[12]    Faisal Shahzad, zit. nach «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (FAZ), 23.6.2010.

[13]    Ricks, Fiasco, S. 33, 47, 378, 430.

[14]    Ein anonymer Vernehmer, zit. nach Aziz Z. Huq und Frederick A.O. Schwarz, Jr., Unchecked and Unbalanced. Presidential Power in a Time of Terror, New York 2007, S. 112.

[15]    Rashid, Descent into Chaos, S. 281, 298.

[16]    Ein anonymer Mitarbeiter der CIA, zit. nach Bernd Greiner, 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011, S. 201.

[17]    Dick Cheney, zit. nach Barton Gellman, Angler. The Cheney Vice Presidency, New York 2008, S. 353.

[18]    Greiner, 9/11, S. 273-275.

[19]    George W. Bush, zit. nach Suskind, One Percent Doctrine, S. 152.

[20]    The Secretary of Defense, Memorandum for the Commander, US Southern Command, Subject: Counter-Resistance Techniques in the War on Terrorism, April 16, 2003, in: National Security Archive, Electronic Briefing Book: Torturing Democracy Documents.

[21]    William Pfaff, zit. nach Stephen Holmes, The Matador’s Cape. America’s Reckless Response to Terror, Cambridge 2007, S. 277.

[22]    George W. Bush, zit. nach Gellman, Angler, S. 318.

[23]    «Death and Cover-Up at Guantanamo”, in: «The Nation», 15.2.2010, S. 8.

[24]    Barack Obama, zit. nach FAZ, 18.4.2009, S. 8.

[25]    Ein anonymer Mitarbeiter der CIA, zit. nach Daniel Klaidman, Kill or Capture: The War on Terror and the Soul of the Obama Presidency, New York 2012, S. 117 f.

[26]    House Joint Resolution 6166, The Military Commissions Act of 2006, Public Law 109-366, Washington, D.C., 17.10.2006.

[27]    Joe Biden, zit. nach Michael T. Klare, USA versus China: Stolpert die Welt in einen großen Krieg?, in: «Blätter», 5/2021, S. 50.

[28]    William Burns, zit. nach www.spiegel.de, 24.2.2021.

Transfer der kurz vor dem Ende des Einsatzes durch einen Anschlag getöteten Soldaten in die Vereinigten Staaten (29.8.2021). picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Jason Minto