Nachricht | Ungewisse Zukunft

Folgen des US-Truppenabzugs aus Afghanistan für die Stabilität in Zentralasien

Information

Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid gibt auf einer Pressekonferenz in Kabul ein Interims-Kabinett der neuen Machthaber bekannt (7.9.2021). Ob es den Taliban gelingen wird, diese Macht zu konsolidieren, bleibt ungewiss. picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Muhammad Farooq

Rustam Makhmudov ist Senior Research Fellow an der Universität für Weltwirtschaft und Diplomatie (Usbekistan).

Durch die rasche Machtübernahme der Taliban in Kabul und beinahe ganz Afghanistan hat sich nach dem Abzug der US-Truppen und der internationalen Koalition nicht nur im Land selbst, sondern auch in den Nachbarregionen die Lage grundlegend geändert. Die afghanische Armee leistete keinen ernsthaften Widerstand. Ihre Einheiten liefen entweder zu den Taliban über oder lösten sich einfach in der lokalen Bevölkerung auf. Der afghanische Präsident Ashraf Ghani selbst trat von seinem Posten zurück und floh mit seiner Familie in die Vereinigten Arabischen Emirate. Nach diesem Erfolg erklärten die Anführer der Taliban den 40 Jahre währenden Krieg in Afghanistan für beendet, der 1979 mit dem Einmarsch des begrenzten sowjetischen Truppenkontingents zur Unterstützung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) gegen die aufständische Mudschaheddin-Bewegung begonnen hatte. Ist aber Afghanistan wirklich ein sicheres Land geworden und ist einzig die Staatsverwaltung der Taliban, die gerade aufgebaut wird, als legitime Macht anzuerkennen?

Wichtige Herausforderungen für die Taliban

Es wäre vorschnell, Afghanistan als ein stabiles und sicheres Land zu bezeichnen. Denn auf viele Fragen, die für die Zukunft entscheidend sein dürften, haben die Taliban noch keine Antwort.

Zunächst ist fraglich, ob es den Taliban gelingt, eine neue Phase des Bürgerkriegs zu verhindern. Im Wesentlichen kontrollieren sie 33 afghanische Provinzen und alle Großstädte. Eine Ausnahme ist das Pandschschir-Tal im Nordosten Afghanistans, das sich über 115 Kilometer erstreckt und in den 1980er- und 1990er-Jahren ein Symbol des Widerstandes gegen die Sowjetarmee und die Taliban geworden ist. Anführer des Widerstands war der legendäre Ahmad Schah Massoud, der durch einen Selbstmordanschlag am 9. September 2001 ums Leben gekommen ist.

Zurzeit steht das Tal unter der Kontrolle seines Sohnes Ahmad Massoud sowie des ehemaligen Vizepräsidenten Amrullah Saleh, der sich selbst zum Übergangspräsidenten Afghanistans erklärt hat. Die Bewohner*innen des Tals weigern sich, die Taliban-Regierung anzuerkennen, erklären sich aber zu Verhandlungen bereit. Ahmad Massoud bat die westlichen Länder um militärische und technische Unterstützung. «Was auch immer geschehen mag, ich und meine Mudschaheddin-Kämpfer werden Pandschschir als die letzte Bastion des freien Afghanistans verteidigen. Unser Kampfgeist ist intakt. Wir wissen aus Erfahrung, was auf uns zukommt. Aber wir benötigen mehr Waffen, mehr Munition und mehr Ausrüstung», erklärte er in der Washington Post.

Die Taliban blockierten unterdessen das Tal, schalteten das Internet ab und baten Russland, bei den Verhandlungen mit den Anführer*innen der Pandschschir-Region zu vermitteln. Diese Verhandlungen verliefen bisher ergebnislos, sodass die Taliban laut Medienangaben mehrmals erfolglos versuchte, ins Tal einzumarschieren – ein gewagtes Unterfangen angesichts des schwierigen Geländes. Selbst die Sowjetarmee konnte sich in Pandschschir nicht nachhaltig behaupten. Dabei müssen die Taliban die Angelegenheit so schnell wie möglich regeln, friedlich oder militärisch, denn in Pandschschir drohen sich sonst Kräfte zu sammeln, die die Taliban-Herrschaft nicht anerkennen.

Sollten die Taliban es schaffen, ihre Macht zu konsolidieren, stellt sich unmittelbar die Frage, ob sie den wirtschaftlichen Wiederaufbau gewährleisten können. Bisher ist unklar, wie sie das schaffen sollen, denn auch die vorangegangene Regierung konnte keine nachhaltigen Einnahmequellen und kein attraktives, korruptionsarmes Wirtschaftsumfeld etablieren. Laut Angaben der Weltbank finanzierte die Regierung unter Ashraf Ghani 75 Prozent der Ausgaben aus Fördermitteln. Die Taliban übernehmen mit Afghanistan eine kleine Volkswirtschaft: Das Bruttoinlandsprodukt betrug 2020 ca. 20 Milliarden US-Dollar und lediglich 512,7 US-Dollar pro Kopf. Deshalb sind die Taliban auf Unterstützung von außen angewiesen. Doch diesbezüglich zeichnen sich bereits Probleme ab.

Der Internationale Währungsfonds hat den Zugang Afghanistans zu Sonderziehungsrechten in Höhe von 455 Millionen US-Dollar ausgesetzt, auf die das Land im Rahmen des Programms zur Wiederbelebung der Weltwirtschaft Anspruch gehabt hätte. Grund dafür ist die Ungewissheit, ob die neue afghanische Regierung anerkannt wird. Die EU stoppte die Auszahlung von Entwicklungshilfe in Höhe von 1 Milliarde Euro und stellte die Bedingung, dass Menschen- und Grundrechte geachtet werden. In den USA wurden Vermögen der afghanischen Zentralbank in Höhe von 7 Milliarden US-Dollar eingefroren, sodass die Taliban nun keinen Zugriff darauf haben. Sie werden auch nicht die 12 Milliarden US-Dollar erhalten, auf die sich die Geberkonferenz in Genf 2020 geeinigt hatte und die bis 2024 hätten fließen sollen.

Vor diesem Hintergrund prüfen die Taliban, ob sie von China Hilfen und Investitionen erhalten können, im Gegenzug für den Zugang zu Rohstoffen. Doch größere Investitionen Beijings sind unwahrscheinlich, bis sich die Lage komplett stabilisiert hat und sich erweist, dass sich in Afghanistan keine uigurischen Kämpfer*innen der Islamischen Bewegung Ostturkestans (East Turkestan Islamic Movement, ETIM) aufhalten. Außerdem wird Beijing bei Investitionsentscheidungen wohl auf die Haltung des Westens zur Taliban Rücksicht nehmen, um weitere Spannungen mit den USA zu vermeiden. Ebenso verhält es sich mit Russland und anderen potenziellen Großinvestoren.

Insofern haben es die Taliban nicht leicht. Da der militärische Konflikt mit den USA abgeschlossen ist, könnte sich die Bewegung nun einem Finanz- und Wirtschaftskrieg gegenübersehen. Zu vermeiden ist das nur, indem die Taliban ihr fundamentalislamisches Programm ernsthaft revidieren. Sie müssen eine repräsentative Regierung und ein Parlament, in dem alle politischen und ethnischen Kräfte des Landes vertreten sind, ins Leben rufen. Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten sind zu schützen und der Kampf gegen internationale terroristische und kriminelle Gruppierungen aufzunehmen. Nur so kann die Bewegung ihr negatives Image verbessern, das sie sich mit ihrer brutalen Innenpolitik 1996–2001 und durch die Zerstörung von Weltkulturerbe, zum Beispiel der Buddha-Statuen von Bamiyan, verschafft hat. Dafür müssen die Taliban einer Beobachtung durch die internationale Gemeinschaft zustimmen, von deren Berichten die internationale Anerkennung, Wirtschaftshilfen und die Freigabe der Konten abhängen werden.

Die Taliban haben keine Zeit zu verlieren. Sie müssen so schnell wie möglich ihr Image verbessern, indem sie eine Regierung «aller Afghan*innen» bilden, ein sicheres, von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten geprägtes Gemeinwesen schaffen und die junge, im Internet-Zeitalter aufgewachsene Generation ins neue System integrieren. Andernfalls droht eine abrupte Wirtschaftskrise und daraufhin wohl eine politische Krise. Die Ratingagentur Fitch Solutions erwartet beispielsweise einen 20-prozentigen Einbruch des afghanischen Bruttoinlandsprodukts bis Ende 2021. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es zu einer Hyperinflation kommen, die die Kaufkraft und die Ersparnisse eines Großteils der Bevölkerung dezimieren wird. Dann müssen die Taliban sich, weil sie nicht über ausreichend Ressourcen für soziale und wirtschaftliche Maßnahmen verfügen, immer mehr auf Gewalt verlassen, was mit Sicherheit weder die Afghan*innen noch die Weltgemeinschaft begrüßen werden.

Bei einer derartigen Entwicklung würde sich die humanitäre Lage zuspitzen. Deshalb muss die Weltgemeinschaft schon heute einen vorsorglichen Hilfsplan für die von Armut, Dürren und Arbeitslosigkeit betroffenen Afghan*innen erarbeiten. Ein solches Programm könnte eine der internationalen Organisationen aufstellen, zum Beispiel die UNO. Hier geht die EU mit gutem Beispiel voran: Sie erklärte, die Hilfen für die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen in Afghanistan von 50 auf 200 Milliarden Euro aufzustocken, sofern die UNO sicherstellt, dass die Hilfen den Betroffenen direkt zugutekommen.

Zentralasien wartet ab

Die grundlegende Verschiebung der Machtverhältnisse in Afghanistan ist eine ernste Herausforderung für Zentralasien, eine Region, die nördlich des Flusses Amudarja liegt und aus fünf ehemaligen Sowjetrepubliken besteht: Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. In den letzten 20 Jahren, als in Afghanistan die Kräfte der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force, ISAF) stationiert waren, war die Region vom Süden her nicht bedroht. Doch nach dem Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten ist die Lage plötzlich ungewiss geworden.

Es ist schwer, Prognosen über die Entwicklung der Taliban zu treffen, die aus mehreren Gruppierungen bestehen, den eher moderaten und den radikalen, etwa dem Hakkani-Netzwerk. Einen großen Einfluss auf die Bewegung üben paschtunische Stämme aus, die das Rückgrat der Taliban bilden und durch deren Gebiete die Routen nach Pakistan verlaufen. In den letzten Jahren konnten die Taliban auch einige Vertreter*innen von ethnischen Minderheiten als Mitglieder ihrer Bewegung gewinnen. Diese könnten dazu beitragen, die Stellung der Taliban in den nördlichen Regionen zu stärken. Bis vor Kurzem verfolgten all diese Gruppierungen und Fraktionen ein gemeinsames Ziel, nämlich den Kampf gegen die ausländische Militärpräsenz. Nun sind neue Ziele festzulegen.

Wie so oft bei solchen Gruppen könnte nach der Machtübernahme ein Kampf um Einfluss und Ressourcen ausbrechen, bei dem sich mächtige Kräfte der Unterstützung ihrer eigenen Clans und Stämme sowie von außen versichern. Darin liegt die Gefahr, dass sich die Bewegung in naher Zukunft spaltet und sich eine radikale politische Fraktion bildet. Ein so entstehendes geopolitisches Great Game könnte Afghanistan wieder in einen Krieg aller gegen alle verstricken. In der jüngeren Geschichte ist das bereits vorgekommen, als diverse afghanische Mudschaheddin-Gruppierungen nach dem Sturz des prosowjetischen Präsidenten Nadschibullah im April 1992 einen Bürgerkrieg anzettelten.

Die aktuelle Lage in Afghanistan ist auch deshalb brisant, weil sich die Taliban die enormen Waffen-, Munitions- und Technikvorräte der ehemaligen afghanischen Armee angeeignet haben, für deren Ausbildung und Ausrüstung die USA 85 Milliarden US-Dollar ausgegeben hatten. Damit sind die Taliban eine der am besten ausgerüsteten militanten fundamentalistischen Gruppierungen der Welt. Es ist nicht auszuschließen, dass ein Teil der Waffen an Organisationen wie ISIS oder die Islamische Turkestan-Partei gerät, die in andere Regionen und Länder expandieren wollen.

Die zentralasiatischen Länder haben daher zwar ein Interesse an einem friedlichen Afghanistan, halten aber gleichzeitig nach Möglichkeiten Ausschau, die eigenen Sicherheitsrisiken zu minimieren. Dafür würden sie auch externe Mächte einbeziehen. Besonders engagiert zeigen sich diesbezüglich Russland und die unter dessen Führung stehende Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (DVKS). Diesem Bündnis gehören drei der fünf zentralasiatischen Länder an: Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Moskau sorgt sich sehr um die potenzielle Gefahr aus dem Süden. Nicht nur seine nationale Sicherheit und die seiner Verbündeten sieht es bedroht, sondern auch die Investitionen russischer Unternehmen und deren Absatzmärkte. Zugleich äußern sich diplomatische Kreise in Moskau zu den Taliban eher neutral. Dass sich diese Staaten für die regionale Sicherheit einsetzen, bezeugen die gemeinsamen Manöver russischer, usbekischer und tadschikischer Truppen auf dem 20 Kilometer von der tadschikisch-afghanischen Grenze entfernten Übungsgelände Charb-Maidon, die im August 2021 abgehalten wurden.

Der Sieg der Taliban stellt für Zentralasien auch eine ideelle Herausforderung dar. Theoretisch könnte das Entstehen eines fundamentalistischen islamischen Staates im Süden postsäkulare Tendenzen in Zentralasien befördern. Denn diese säkularisierte Region ist nach dem Zerfall der Sowjetunion immer noch auf der Suche nach einer neuen Identität und besinnt sich dabei auch auf ihre muslimischen Wurzeln und Traditionen zurück. Die Länder der Region werden also ihre Kulturpolitik zum Teil anpassen müssen, um die Weiterentwicklung der modernen Kultur im Einklang mit dem traditionellen Erbe zu fördern. Das beste Szenario für die Region wäre sicher die Entstehung eines moderaten islamischen Staates in Afghanistan, der nach Modernisierung und einer inneren Entwicklung unter Berücksichtigung des modernen technischen Zeitalters mit seinen Anforderungen strebt.

Was die Machtübernahme für die wirtschaftlichen Interessen zentralasiatischer Länder bedeutet, wird unterschiedlich bewertet: Einerseits rechnet man mit finanziellen Verlusten im bilateralen Handel, andererseits könnten sich aber auch neue Perspektiven eröffnen. In den Jahren unter US-Kontrolle entwickelte sich Afghanistan für die zentralasiatischen Staaten zu einem wichtigen Wirtschaftspartner. Denn aufgrund der unterentwickelten Binnenproduktion ist die afghanische Wirtschaft von Importen einer ganzen Reihe industrieller und landwirtschaftlicher Erzeugnisse abhängig. Davon zeugen chronische Defizite im Außenhandel: 2019 betrug das Defizit 5,76 Milliarden US-Dollar und 2012 wurde sogar ein Spitzenwert von 8,51 Milliarden US-Dollar registriert. Afghanistan wurde zu einem guten Absatzmarkt für die zentralasiatischen Länder, zumal der stetige Fluss von Fördergeldern die Zahlungsfähigkeit des Landes aufrechterhielt. Da nun afghanische Vermögen und internationale Hilfsprogramme eingefroren wurden, wird sich die Kaufkraft des Landes zumindest mittelfristig verschlechtern, und entsprechend müssen Unternehmen aus Zentralasien neue Absatzmärkte erschließen.

In der Region besteht aber auch die Hoffnung, dass sich der transafghanische Verkehrskorridor endlich öffnet, wenn sich die Lage in Afghanistan stabilisiert und die neue Regierung von der internationalen Gemeinschaft anerkannt wird. Dann könnte eine Logistik- und Energieinfrastruktur die Volkswirtschaften Zentral- und Südasiens verbinden. Eine der neuesten Initiativen in diesem Bereich ist die von Usbekistan im Juli 2021 veranstaltete internationale Wirtschaftskonferenz unter dem Titel «Zentral- und Südasien: regionale Beziehungen. Herausforderungen und Chancen». In diesem Rahmen wurde Afghanistan als «eines der zentralen Bindeglieder zur praktischen Vernetzung» dieser beiden Regionen bezeichnet.

Die Lage in Afghanistan bleibt also trotz des Sieges der Taliban ungewiss. Charles-Maurice de Talleyrand sagte einmal: «Sire, Sie können mit einem Bajonett alles machen, aber Sie können nicht darauf sitzen.» Dieses Bonmot ist für die Taliban heute aktueller denn je. Ob sie sich reformieren und moderater werden können, ob sie in der Lage sein werden, zivilisierte Spielregeln zu akzeptieren und so die innenpolitische und wirtschaftliche Lage im Land zu stabilisieren, wird auch über das Schicksal der Bewegung entscheiden. Eins steht fest: In Afghanistan und Umgebung bricht eine neue geopolitische Phase an, und für die Taliban wie für die ganze Region steht so viel auf dem Spiel wie noch nie.