Nachricht | Geschlechterverhältnisse - Krieg / Frieden - Zentralasien «Fundamentalistisch bedeutet frauenfeindlich»

Über die Situation von Frauen in Afghanistan und Möglichkeiten des Widerstands

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Mehmooda, Leonie Schiffauer,

Eine Frau geht an Schönheitssalons mit verunstalteten Fensterdekorationen vorbei in Kabul, Afghanistan am 12.09.2021. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Bernat Armangue

Die Machtergreifung der Taliban ist eine Katastrophe für die Rechte von Frauen und Mädchen. Wir sprachen mit einem Mitglied der Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (RAWA) über die Situation von Frauen in dem Lande und die Möglichkeiten des Widerstands.

Die Weltöffentlichkeit hat schockiert mitangesehen, wie die Taliban die Macht an sich gerissen haben. Wie haben Sie persönlich die Situation wahrgenommen?

Es war schockierend für mich und alle Frauen in Afghanistan, obwohl die Lage auch vor dem 15. August schon nicht so gut war. Denn die Taliban hatten schon weite Teile des Landes besetzt. Nur ein paar Städte wie Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif standen noch unter Regierungskontrolle. Die abgelegeneren Gegenden hatten die Taliban schon seit Jahren besetzt.

Mehmooda (Name aus Sicherheitsgründen geändert) ist Mitglied der Revolutionary Association of the Women of Afghanistan und musste aus politischen Gründen aus Afghanistan fliehen. Seit 2020 lebt sie in Deutschland. Sie sprach mit Leonie Schiffauer, Referentin für Ost-, Süd-, und Westasien bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.

Als die Marionettenregierung zusammengebrochen ist und den afghanischen Frauen bewusst wurde, dass nun wieder ein dunkleres Kapitel in ihrem Leben anbricht, war ich traurig, insbesondere angesichts der Menschen, die ihr Leben verloren haben, weil sie zum Flughafen und in Flugzeuge gelangen wollten. Das bedrückt mich, weil ich verstehen kann, warum die Menschen rauswollen. Vielleicht sind nicht alle in Lebensgefahr, aber definitiv diejenigen, die sich für Frauenrechte eingesetzt oder mit Ausländern zusammengearbeitet haben. Vor allem junge Leute sehen keine Zukunft mehr für sich.

Die Afghan*innen haben sich verändert. Sie wollen mehr Freiheit, Redefreiheit. Ich habe in Afghanistan an der Universität gelehrt. Meine Studierenden haben mich kontaktiert und gefragt, was los ist und was sie tun können. Sie meinten, ihr Ausblick sei nun wieder düster. Es fällt schwer, sich das alles anzuschauen.

Wie wird sich das neue Taliban-Regime auf die Lage der Frauen und Mädchen auswirken?

Die Taliban versuchen, in den Medien nett und kultiviert daherzukommen. Sie sagen, dass sie die Frauenrechte achten, aber dann fügen sie gleich hinzu: «im Sinne der Scharia». Sie sagen auch, dass sie die Redefreiheit achten. Sie versuchen ein gewisses Bild von sich zu vermitteln, aber in Wirklichkeit denken sie anders.

In den letzten zwei Wochen, seit sie in Afghanistan an der Macht sind, haben sie bereits viele Gewalttaten an Frauen, Medienvertreter*innen und gewöhnlichen Leuten verübt. Sie haben etwa einen Jungen in der Provinz Nangarhar umgebracht, weil er die dreifarbige Flagge der Republik geschwenkt hat und nicht die der Taliban. Sie haben einen jungen afghanischen Dichter verhaftet, weil er auf Facebook einen Post gegen die Taliban veröffentlicht hat. Sie verbieten Journalistinnen und anderen Frauen, zur Arbeit zu gehen. Die Realität sieht also anders aus.

Mit dem Abzug der ausländischen Truppen können die Taliban noch gewaltsamer gegen die Leute vorgehen. Sie tun so, als wären sie nett, weil sie zwei Dinge brauchen. Erstens wollen sie von den USA und anderen mächtigen Ländern als ein normaler Staat, ein gewöhnliches Regime anerkannt werden. Denn sie wissen natürlich, dass in Afghanistan gerade alles zusammenbricht und sie internationale Hilfe brauchen. Zweitens ist ihnen klar, dass die Afghan*innen sie hassen. Die kennen nämlich die wahre Seite der Taliban, sie haben ihre Herrschaft erlebt. Die Taliban wollen zeigen, dass sie nicht so gewalttätig sind. Aber in Wirklichkeit sind sie fundamentalistisch, also frauenfeindlich.

Sie sind Mitglied der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans (RAWA). Wofür kämpft die Bewegung?

RAWA wurde 1977 gegründet und ist eine der ältesten feministischen Organisationen Afghanistans. Wir kämpfen für Frauenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. In den letzten vier Jahrzehnten haben sich unsere Ziele natürlich verändert, weil sich die politische Lage im Land verändert hat.

Zuerst ist die Sowjetunion eingefallen, und wir haben im Widerstand gekämpft. Dann sind die fundamentalistischen Kräfte an die Macht gekommen, und seitdem gilt denen unser Kampf, weil wir wissen, dass sie nichts von Frauenrechten, nichts von Demokratie halten. Aber auch in den letzten 20 Jahren unter der US-Besatzung und der sogenannten demokratischen Regierung waren wir eine Untergrundorganisation. Denn diese «demokratische Regierung» war gespickt mit Kriminellen, Fundamentalist*innen und Dschihadis. RAWA hat sich immer gegen sie ausgesprochen. Also haben sie uns als ihre Feind*innen angesehen und versucht, RAWA-Mitglieder umzubringen. Deshalb sind wir im Untergrund geblieben.

RAWA ist eine politische Organisation, weil wir denken, dass wir die politische Lage verändern müssen, wenn wir die Lage der afghanischen Frauen verändern wollen. Dieses politische System und Regime hat für die Afghaninnen aber nichts verändert. Wir glauben, dass Frauen selbst vorangehen müssen im Kampf um Veränderung. Wir haben beobachtet, wie die internationale Staatengemeinschaft – all die imperialistischen Mächte wie die USA und andere Länder – in den letzten 20 Jahren im Namen der Frauenrechte mit Bomben gekommen sind, aber nichts hat sich verändert. Wir können beobachten, dass alles an nur einem Tag zusammengebrochen ist. Weil Afghaninnen nicht wirklich für ihre Rechte gekämpft haben, weil alles nur eine Show war.

RAWA vertritt den Standpunkt, dass wir für unsere Rechte kämpfen müssen. Wir organisieren ein paar Projekte für Frauen in Afghanistan, zum Beispiel Alphabetisierungsunterricht, Schulen für Mädchen und Jungen in Dörfern und abgelegenen Gegenden. In manchen Projekten können Frauen zur finanziellen Unterstützung Geld verdienen. Die meisten Afghaninnen können nicht lesen und schreiben. Wir denken, dass Bildung der erste Schritt ist, um ein Umdenken bei den Frauen zu bewirken und sie ihrer Lage bewusst zu machen. Wir arbeiten hart daran. Das ist unsere Aufgabe.

Wie werden Sie Ihren Kampf für Frauenrechte unter den Taliban fortsetzen?

RAWA hat schon zur Zeit der US- und NATO-Besatzung und deren Marionettenregierung im Untergrund gearbeitet, und wir werden auch jetzt unsere Aktivitäten und Kämpfe im Verborgenen fortführen. Wir haben das Taliban-Regime in den späten 1990er Jahren erlebt. RAWA war die einzige Frauenrechtsorganisation, die es damals in Afghanistan gab, und wir haben die Taliban bekämpft. Wir haben Untergrundschulen organisiert, Alphabetisierungsunterricht, Projekte für Frauen. Wir haben unsere politischen Kämpfe fortgeführt. Wir reden mit Frauengruppen im Untergrund über Frauenrechte und verteilen unsere Zeitschrift in unseren Sprachen, Dari und Paschtunisch.

Wir werden auch in dieser Situation weitermachen. Wir gehen nicht ins Ausland, sondern bleiben in Afghanistan. Denn wir sind der Meinung, dass wir Veränderungen, die wir herbeiführen wollen, nur hier vollbringen können, nicht vom Ausland her. Aus dem Ausland können wir zwar etwas tun, aber nicht wirklich kämpfen.

Wie stark kann der Widerstand Ihrer Meinung nach unter den gegenwärtigen Umständen sein?

Es ist eine schwierige Zeit für alle, vor allem für die Frauen in Afghanistan. Wenn eine ganz normale Frau zur Schule gehen will, ist es ein Kampf, ein Streit. Säkulare, demokratische Interessengruppen und Frauenorganisationen werden es schwer haben, und natürlich ist der Effekt geringer, wenn man im Untergrund agiert. Am wichtigsten ist aber, dass wir fortbestehen. Ich weiß, dass momentan auch andere säkulare und demokratische Organisationen und Parteien in den Untergrund zu gehen versuchen und ihr Leben retten wollen. Sie werden sich organisieren und ihre Arbeit tun. Sie werden weniger effektiv sein, aber immerhin gibt es sie überhaupt, und das ist entscheidend.

Was kann die internationale Gemeinschaft tun, um Frauen und Mädchen in Afghanistan zu unterstützen?

Die großen Mächte haben Afghanistan verlassen. Sie haben also kein Interesse mehr an Afghanistan. Sie haben das Schicksal der Afghan*innen den Taliban und ihrem Terror überlassen. Sie haben es so geplant. Die USA haben mit den Taliban verhandelt. Das war alles organisiert. Die Ghani-Regierung war eine reine Marionettenregierung, und auch die Taliban sind Marionetten der USA. In den Medien sagen sie, dass wir Hilfe von den USA brauchen und die USA bleiben sollten, dass wir Hilfe von anderen Ländern brauchen, auch von Deutschland. Das beweist, dass sie Marionetten sind. Sie haben kein Interesse an den Afghan*innen.

Wir bitten progressive Menschen und Institutionen in aller Welt, dass sie die Afghan*innen nicht vergessen und sich solidarisch zeigen. Wir wissen, dass die Taliban ganz Afghanistan beherrschen werden und dass Redefreiheit, Frauenrechte, dass das alles in Gefahr ist. Wir wollen eine Stimme für die Frauen sein, die hier sind, die das Land nicht verlassen können und keine eigene Stimme haben. Es ist äußerst wichtig, dass sich progressive Institutionen in Europa und vor allem Deutschland dies vor Augen führen.